| # taz.de -- Die Wahrheit: Am utopischen toten Punkt | |
| > Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (101): Der immer | |
| > seltener werdende Aal hat einen geheimnisvollen Fortpflanzungsort. | |
| Bild: Eine Aallarve an ihrem Geburtsort irgendwo im Atlantik | |
| Am Aal wird schon seit Aristoteles geforscht. Zunächst widerlegte Carlo | |
| Mondini 1777 dessen These von der „Urzeugung“ des Aals aus Schlamm, indem | |
| er die Fortpflanzungsorgane eines Aalweibchens fand. Es fehlte noch der | |
| Nachweis von der Existenz männlicher Fortpflanzungsorgane, auch hätte man | |
| gern mehr als nur ein Weibchen gefunden. | |
| „In Deutschland wurde die Suche nach dem Geschlecht des Aals zu einem | |
| regelrechten Volkssport. Es wurde eine Belohnung über 50 Mark für | |
| denjenigen ausgesetzt, der einen Aal mit Rogen [reife weibliche Eier] im | |
| Leib fand“, schreibt der schwedische Journalist Patrik Svensson in seinem | |
| Buch „Das Evangelium der Aale“ (2020). Er interessierte sich schon als Kind | |
| für diesen Fisch und begleitete seinen Vater zum Aalangeln. | |
| 1874 sezierte Sigmund Freud ein Jahr lang in Triest Aale, um ihr Geschlecht | |
| zu bestimmen – vergeblich. Auch die Triester frustrierten ihn, einem Freund | |
| schrieb er: „Da es nicht gestattet ist, die Menschen zu sezieren, habe ich | |
| eigentlich gar nichts mit ihnen zu tun.“ Noch im Traum störten ihn seine | |
| Probleme mit „Hoden und Ovarien“. Seit der Zeit war aber die „Aalfrage“ | |
| gestellt – und es mehrten sich überall die Aalexperten. | |
| Bald wusste man, der Aal macht drei Metamorphosen durch: Er wird irgendwo | |
| im Ozean geboren, als durchsichtige, flache „Weidenblattlarve“. Diese wird | |
| auf ihrer Wanderung an eine Küste, etwa 100 Kilometer davor, zum Glasaal. | |
| Und der wird auf seinem Weg flussaufwärts in einem ihm zusagenden Revier | |
| zum Gelbaal. Dies bleibt er unter Umständen Jahrzehnte lang – bis er als | |
| Blank-aal seinen Süßwasserstandort verlässt und Richtung Meer | |
| zurückschwimmt, wo er ablaicht – und stirbt. Erst unterwegs entwickeln sich | |
| die Geschlechtsorgane – auf Kosten fast aller anderen Organe, er frisst | |
| nicht mehr und schwimmt Tag und Nacht vorwärts. Aber wohin? | |
| ## Geburtsort vor der Küste Floridas | |
| 1904 nahm sich der dänische Aalforscher Johannes Schmidt vor, endlich den | |
| Zielort der Aale ausfindig zu machen. Er brauchte 20 Jahre und 23 | |
| Frachtschiffe, die mit Schleppnetzen ausgestattet wurden. Die Fänge | |
| ergaben: Je weiter sie nach Westen vordrangen, desto kleiner wurden die | |
| gefangenen Aallarven – auf diese Weise näherte man sich ihrem | |
| vermeintlichen Geburtsort – dem Sargassomeer: ein Gebiet, größer als das | |
| Mittelmeer, zwischen mehreren Strömungen vor der Küste Floridas, das bis zu | |
| 7.000 Meter tief ist und voller Braunalgen, sogenannten | |
| Sargassum-„Wäldern“, die bis zu 300 Meter lang werden. Dort waren die | |
| Larven winzig, so dass es für Schmidt „keinen Zweifel“ mehr gab, wo die | |
| Aaleier abgelegt wurden. | |
| Er entdeckte auch, dass es europäische und amerikanische Aallarven gab – | |
| die einen wanderten quer über den Atlantik, die anderen suchten die nahen | |
| Flüsse Amerikas auf. Schmidt vermutete, dass sie sich im Sargassomeer gemäß | |
| ihren unterschiedlich ausgeprägten Instinkten sortierten. Die | |
| amerikanischen Larven durchliefen bereits nach einem Jahr ihre erste | |
| Metamorphose, die europäischen nach drei Jahren. | |
| Ihre jeweilige Art zu bestimmen, war „auf einem schaukelnden Schiff unterm | |
| Mikroskop“ mühsam, wie Patrik Svensson meint, aber Johannes Schmidt war | |
| davon überzeugt: „Die Lebensgeschichte der Aale zu untersuchen, ist von | |
| weit größerem Interesse als die jeder anderen Tierart.“ Zwar konnte er | |
| nicht die Frage beantworten, warum es die Aale ausgerechnet in das | |
| Sargassomeer zieht, aber er bekam eine „Darwin-Medaille“ für seine | |
| ausdauernde Aalforschung. | |
| Wenn die Blankaale aus den Flüssen das Meer erreichen, bemühen sich | |
| zigtausend Angler und Fischer, diesen aasfressenden Schleimfisch zu fangen | |
| (eine Fangart bildet den gruseligen Höhepunkt im Roman „Blechtrommel“ von | |
| Günter Grass). Wer den Fängern entkommt, auf den warten im Meer weitere | |
| Fressfeinde: Haie, Wale, Thunfische, Seehunde. | |
| Diese Dezimierung ist jedoch nichts im Vergleich mit der seines | |
| Nachwuchses, den Aallarven und Glasaalen, die von fast allen Meerestieren | |
| und Seevögeln verfolgt werden. Auf die im Süßwasser angekommenen warten | |
| zuletzt portugiesische und baskische Fischer, denn die kleinen Glasaale | |
| sind in ihren Ländern eine Delikatesse (3.000 wiegen ein Kilo und kosten | |
| 1.000 Euro). | |
| Man erwägt ein generelles Fangverbot, weil der Bestand des europäischen | |
| Aals in den letzten zehn Jahren um 90 Prozent zurückgegangen ist. Für | |
| Svensson ist die Situation paradox: Um den Aal zu schützen, müssen wir ihn | |
| verstehen, und um ihn zu verstehen, müssen wir uns für ihn interessieren, | |
| aber „um uns für ihn zu interessieren, müssen wir ihn weiterhin jagen, | |
| töten und essen … Der Aal wird nie einfach um seiner selbst willen | |
| existieren dürfen.“ | |
| ## Wanderwege zu den Laichplätzen | |
| 2016 erforschte ein europäisches Forschungsteam fünf Jahre lang die | |
| Wanderwege von Aalen zu ihrem Laichplatz. Dazu statteten sie 707 Blankaale | |
| aus Deutschland, Frankreich, Schweden und Irland mit elek-tronischen | |
| Sendern aus, die sich nach und nach von ihnen lösen sollten, um | |
| eingesammelt und ausgewertet zu werden. 501 Aale verschwanden, bevor sie | |
| überhaupt den Atlantik erreichten, nur 206 Aale lieferten überhaupt Daten, | |
| davon gelangten laut Svensson aber nur 87 weit genug ins Meer, damit man | |
| Vermutungen über ihre Reiseroute anstellen konnte. | |
| Die Aale hatten es anscheinend nicht eilig, ins Sargassomeer zu kommen, sie | |
| „cruisten“, einer trieb sich sogar eine Weile an der Küste Marokkos herum, | |
| aber alle trafen sich schließlich „irgendwo bei den Azoren, um dann im Pulk | |
| zielstrebig westwärts in das Sargassomeer weiterzuschwimmen“. | |
| Tagsüber bewegten sie sich in Tiefen bis zu 1.000 Metern, Nachts stiegen | |
| sie in wärmeres Wasser, manche legten bis zu 50 Kilometer am Tag zurück. | |
| Sie kamen nicht alle zur selben Zeit am Ablaichplatz an. Man errechnete: | |
| Ein irischer Aal, der sich im Dezember aufmachte, könnte es bis Mai | |
| schaffen; ein Ostseeaal wäre jedoch erst im Dezember am Ziel – und müsste | |
| bis zum nächsten Ablaichen warten. | |
| Die eigentliche Überraschung war aber, dass die Forscher keinen einzigen | |
| lebenden oder toten Aal im Sargassomeer fanden, nur eine große Menge | |
| Larven. Auch die dort Suchenden fanden keine. Einigen Aalforschern reichte | |
| es zu wissen, dass das Sargassomeer der Fortpflanzungsort ist, andere | |
| wollen das Ablaichen sehen: „Für diese Forscher ist der sich entziehende | |
| Aal ein Art heiliger Gral der Naturwissenschaft“, schreibt Svensson. | |
| Sie sind notfalls bereit, die Wiege der Aale auch ganz woanders zu suchen, | |
| zumal Meeresbiologen aus Tokio den Ablaichplatz des japanischen Aals | |
| westlich der Marianen-Inseln ausmachen konnten. Aale zu züchten ist aber | |
| auch ihnen nicht gelungen. Es bleiben noch genug Aalfragen offen. Abgesehen | |
| von der viel drängenderen, aber bisher auch noch nicht befriedigend | |
| beantworteten Frage nach den Ursachen dafür, warum die Aale immer seltener | |
| werden. Der Aalexperte Willem Dekker von der Schwedischen | |
| Landwirtschaftsakademie ist schier verzagt: „Wir scheinen an einen | |
| ‚utopischen toten Punkt‘ gelangt zu sein“, meinte er. | |
| 20 Jul 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Helmut Höge | |
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