# taz.de -- Die Wahrheit: Auf der Seidenspur | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (102): Der mit seinen | |
> Gifthaaren schwere Allergien auslösende Eichenprozessionsspinner. | |
Bild: Der gefürchtete Spinner geht seines Weges | |
Es gibt mehrere Arten von Prozessionsspinnern. Damit sind nicht die | |
Bittprozessionen der Frommen gemeint, sondern Schmetterlinge, Motten. Man | |
nennt sie so, weil ihre Raupen auf den von ihnen heimgesuchten Pflanzen | |
hintereinander kriechen. | |
Über das derzeitige Vorkommen des Eichenprozessionsspinners im Kreis | |
Coesfeld heißt es in der dortigen Lokalpresse: „Keine Panik – aber auch | |
keine Entwarnung“. Der WDR rief dagegen bereits zu einem „Kampf gegen | |
Eichenprozessionsspinner im Münsterland“ auf. Was sie als Falter fressen | |
oder ob sie, wie so viele andere, weder etwas fressen noch trinken, sondern | |
nur versuchen, sich zu verpaaren und dann sterben, war nicht | |
herauszubekommen. Alle mit diesem „Thema“ befassten Autoren haben es bloß | |
auf den Prozessionsspinner als Raupe abgesehen, deren Haare beim Menschen | |
eine „Raupendermatitis“ auslösen können. | |
Diese Raupen leben laut Wikipedia „gesellig und gehen in Gruppen von 20 bis | |
30 Individuen im ‚Gänsemarsch‘ auf Nahrungssuche.“ Der südfranzösische | |
Insektenforscher Jean-Henri Fabre hat einmal auf einem Marsch von | |
Kiefernprozessionsspinnern ihnen die vorneweg kriechende Raupe, den | |
Anführer, weggenommen und ihn hinter den letzten in seiner Gruppe gesetzt. | |
Sie krochen daraufhin im Kreis – und zwar so lange, sieben Tage, bis immer | |
mehr starben. | |
2007 erinnerte sich der Botaniker Klaus von der Dunk in galathea, den | |
Berichten der Nürnberger Entomologen, an Fabres Experiment. Dessen | |
mehrjährige Beobachtung des Kiefernprozessionsspinners und seiner Raupen | |
hatte ergeben: Im August legt das Weibchen etwa 300 Eier an Kiefernnadeln. | |
An einem Septembermorgen schlüpfen ein Millimeter lange Raupen, sie bleiben | |
unter dem schützenden, vom Weibchen mitgegebenen Schuppenmantel über dem | |
Gelege zusammen. Morgens und abends zwischen sieben und neun Uhr wird an | |
den nächst erreichbaren Kiefernnadeln gefressen. | |
## Unangreifbar für Fressfeinde | |
„Ein lockeres Faden-Dach schützt das Nest vor Überhitzung, aber auch vor | |
Kälte. Ist ein Zweig kahlgefressen, wird das alte Nest verlassen und ein | |
neues möglichst hoch im Baum angelegt. Bei den Wanderungen kommen Raupen | |
verschiedener Gelege zusammen und beziehen ein großes Gemeinschaftsnest. | |
Solche Nester erhalten durch die unentwegte Spinntätigkeit der Raupen eine | |
Dichte und Festigkeit, der Unbilden der Witterung oder Stürme nichts | |
anhaben können. Auch für Fressfeinde sind diese Festungen kaum angreifbar. | |
Zur Nahrungsaufnahme verlassen die Raupen ihr Gemeinschaftsnest und eine | |
hinter der anderen folgen der ersten Raupe in langer Kette. Auf den | |
Kiefern- oder Eichenzweigen angekommen, zerstreuen sich alle, um nachher | |
den Heimweg wieder geordnet anzutreten, zielsicher geleitet von der auf dem | |
Hinweg gelegten Seidenspur.“ | |
Dunk erklärt, wie die unangenehmen Gifthaare der Prozessionsspinner wirken: | |
„Ob aktiv abgeschossen oder passiv abgerieben oder vom Wind aus den in den | |
Nestern verbliebenen Häutungsresten ausgeblasen, sie verteilen sich schon | |
bei den sanftesten Luftbewegungen im Raum. In die menschliche Außenhaut, | |
Schleimhaut der Atemwege und Bindehaut der Augen bohren sie sich mit ihrem | |
spitzen unteren Ende leicht ein. Wie der Verfasser erleben konnte, entsteht | |
ohne wirklichen Raupenkontakt in exponierten dünnhäutigen Bereichen eine | |
Art Nesselsucht. In 1 bis 2 Tagen bilden sich stark juckende gerötete | |
Pusteln, die innerhalb von 8 Tagen an Intensität zunehmen. Erst nach | |
weiteren 8 Tagen klingt die Entzündung ab.“ | |
Die Raupe des Eichenprozessionsspinners macht in ihrer Entwicklung vom | |
Schlüpfen aus dem Ei bis zur Verpuppung sechs Larvenstadien durch, ihre mit | |
Widerhaken ausgestatteten Brennhaare bekommt sie erst im dritten | |
Larvenstadium. „Die Jungraupe überwintert im Ei und kann tiefe | |
Wintertemperaturen bis Minus 29 Grad Celsius überstehen, sie schlüpft im | |
April, Anfang Mai“, schreibt die Schutzgemeinschaft Deutscher Wald. | |
Im derzeit besonders von Raupen des Eichenprozessionsspinners betroffenen | |
Kreis Coesfeld im Münsterland hat man an den Bäumen Hinweise befestigt, die | |
davor warnen, den Gespinsten der Raupen zu nahe zu kommen: | |
„Allergiegefahr“. Wikipedia meint, Pflanzenschutzgift sei „sinnvoll“ ge… | |
sie, allerdings sind Maßnahmen zur Regulierung der Populationen des | |
Eichenprozessionsspinners aus forstwirtschaftlichen Gründen nur in | |
Ausnahmefällen gerechtfertigt. In der Nähe von Siedlungen und | |
Erholungseinrichtungen darf man sie bedenkenloser bekämpfen. Als | |
„biologische Lösung“ gelten parasitäre Insekten wie Fadenwürmer, die man | |
zum Beispiel im Landkreis Gifhorn einsetzt, oder Mittel mit dem Bakterium | |
Bacillus thuringiensis, die mit Hubschraubern ausgebracht werden. | |
Dabei wird das Töten von anderen Schmetterlingen und Insekten jedoch in | |
Kauf genommen. Das Ökologischste wäre, die von Raupen besonders zur | |
Paarungszeit lebenden Singvögel, Meisen und andere, im Winter zu füttern | |
und im Frühjahr mit Nistkästen zu versorgen. Auch das Absammeln der Raupen | |
mit der Hand ist möglich. Ähnliches berichteten die Ruhrnachrichten: Als | |
die Bürger von Olfen einen Raupenbefall an den Eichen vor der Gesamtschule | |
meldeten, hatte die Stadt die Raupen bereits „eingesackt“. | |
## Betrug bei der Klebelösung | |
Daneben gibt es noch mechanische Verfahren, durch Absaugen, wofür man sich | |
in Gütersloh entschieden hat. Dann thermische Verfahren, durch Abflammen, | |
und chemische sowie „kombinierte Verfahren“. Erwähnt sei außerdem noch die | |
niederländische „Klebe-Lösung“, wie sie im Raum Osnabrück angewendet wir… | |
Immer mehr Firmen bieten ihre Dienste bei der Bekämpfung an. Media 24 | |
Münster meldet aus dem Spinner-Hotspot Coesfeld: „Betrug. Abzocke! Familie | |
lässt Eichenprozessionsspinner entfernen – und zahlte über 1.600 Euro“. | |
Mitte Juli berichtete der NDR: „Der Eichenprozessionsspinner breitet sich | |
auch in Norddeutschland immer weiter aus.“ Da er ursprünglich aus Südeuropa | |
stamme, sei es die Klimaerwärmung, die seine Ausbreitung nach Nordeuropa | |
ermögliche. Die Bekämpfung solle man Experten überlassen, denn die Nester | |
der Raupe müssen nach Entfernung „sachgerecht entsorgt werden, z. B. durch | |
Verbrennung in geschlossenen Anlagen.“ | |
Es dauerte nicht lange, dann hieß es auch in der Hauptstadtpresse: | |
„Eichenprozessionsspinner – eine Gefahr für Berlin“, ein Sprecher der | |
Berliner Forsten wiegelte ab: „Der Befall mit dem Eichenprozessionsspinner | |
ist zurückgegangen.“ Bei der Senatsverwaltung für Umwelt hieß es: In Berlin | |
gebe es längst nicht so viele Eichenprozessionsspinner wie in anderen | |
Bundesländern. | |
Solchen mit treuherzigem Blick verbreiteten Beschwichtigungen, um nicht zu | |
sagen Ableugnungen, setzt man inzwischen das allergrößte Misstrauen | |
entgegen. | |
3 Aug 2020 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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