# taz.de -- Die Wahrheit: Angriffslustige Jäger-Konkurrenz | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (99): Der auch nordische | |
> Hyäne genannte Vielfraß mag alles halbwegs Genießbare. | |
Bild: Frisst dir die Haare vom Kopf: Vielfraß aus Österreich | |
Der Verleger Jörg Schröder hat einmal einen allzu Friedensbewegten als | |
„Vielfraßarsch“ bezeichnet. Der Beleidigte hatte ihn zuvor bereits mehrmals | |
verklagt. Nun also auch noch „Vielfraßarsch“, das war den Richtern aber | |
doch zu viel der Lappalien. Sie mussten dem Beleidigten zwar recht geben, | |
aber in ihrer Urteilsbegründung leisteten sie es sich, das Schimpfwort | |
derart zu definieren, dass nur der Kläger gemeint sein konnte: „Der | |
Vielfraß ist jemand, der unmäßig isst und bereits aus der Form gerät, was | |
man vor allem am ‚Vielfraßgesäß‘ sieht.“ Als ich das erfuhr, wollte ich | |
mich näher mit dem Tier befassen. | |
In den Büchern über Jägervölker im Norden wird gelegentlich bei Landtieren | |
der Vielfraß erwähnt. Er ist laut Wikipedia „über die Taiga- und | |
Tundragürtel der nördlichen Halbkugel verbreitet“. Eigentlich wird er nur | |
der Vollständigkeit halber erwähnt, anscheinend ist er für die Menschen | |
keine lohnende Beute, weder sein Fell noch sein Fleisch ist interessant, | |
höchstens wird er als „Schädling“ verfolgt, weil er es wie Marder, Bär, | |
Fuchs und Wolf auf die Pflanzenfresser unter den Nutztieren abgesehen haben | |
könnte. | |
In einigen Zoos werden Vielfraße gehalten, im Osnabrücker beispielsweise, | |
wovon man sich auf Youtube überzeugen kann. Man fängt sie als Jungtiere, | |
nachdem man die Mutter erschossen hat. Der Vielfraß sieht aus wie eine | |
Mischung aus Braunbär und Hund, gelegentlich wird er als Bärenmarder | |
bezeichnet, man kann ihn auch eine nordische Hyäne nennen. Diese zählt man | |
jedoch zu den Katzenartigen und jene zu den Hundeartigen, aber wir wollen | |
ja nicht zählen. In Norwegen nennt man ihn „Bergkater“. Man vermutet, dass | |
der „Vielfraß“ seinen Namen der Eigenschaft verdankt, „alles halbwegs | |
Genießbare in die Nähe seines Schlupfwinkels zu schleppen und dort große | |
Vorräte anzulegen“. | |
In Pandemiezeiten wie den jetzigen wimmelt es geradezu von Vielfraßärschen. | |
Dazu gehört, dass der Bärenmarder nicht – wie Rentier, Fuchs und Eisbär – | |
der Nahrung folgend nomadisch lebt; er besetzt stattdessen Reviere, die bis | |
zu 2.000 Quadratkilometer umfassen können. Und dieses Eigentum verteidigt | |
er nicht etwa mit Rechtstiteln, sondern „außergewöhnlich kräftig und | |
angriffslustig“, wobei ihm am liebsten Reviere sind, die sich „mit denen | |
mehrerer Weibchen überlappen oder sogar gänzlich überschneiden“. | |
## Aas und alles | |
Im Übrigen ist der Vielfraß ein Aasfresser und Allesfresser, kann sogar | |
Luchse überwältigen und fressen, besonders gern mag er Elch- und | |
Rentierkälber. Insofern ist er den Jägern unter den nordischen Völkern eine | |
Konkurrenz, weswegen sie die Zoos dieser Welt nur allzu gern mit kleinen | |
Vielfraßen beliefern. Der Duisburger Zoo schreibt auf seiner Internetseite | |
aber: „In Zoologischen Gärten werden Vielfraße recht selten gezeigt, wohl | |
aus Sorge um die Ausbrecherkünste dieser furchtlosen Räuber.“ Das gilt auch | |
für den afrikanischen Honigdachs, der ebenfalls zu den Hundeartigen zählt | |
und „außergewöhnlich kräftig“ ist. Die Duisburger behaupten, das | |
Vielfraß-Fell sei weich und deswegen begehrt, dem Anschein nach ist sein | |
Fell jedoch eher borstig – wie sein ganzes Wesen. | |
Aber das kann eine Projektion sein. Jedenfalls ist der Vielfraß, der früher | |
weit über Europa verbreitet war, jetzt dabei, wie 76 Wissenschaftler aus 26 | |
Ländern unter der Schirmherrschaft der „IUCN – Large Carnivore Initiative | |
for Europe“ herausfanden, „im dicht besiedelten Europa wieder geeigneten | |
Lebensraum zu finden“. Er folgt somit Wolf, Luchs und Braunbär. | |
Der Grund für deren Näherkommen ist: „Die Waldfläche hat sich dramatisch | |
vergrößert“, meint Wildtierforscherin Petra Kaczensky von der Vetmed-Uni | |
Wien. „Zudem sind die wilden Huftierbestände vielerorts höher als je zuvor. | |
Auch unser Naturverständnis hat sich geändert und der Schutz der großen | |
Beutegreifer ist ein gesellschaftliches Anliegen geworden. Dafür wurden | |
gesetzliche Grundlagen auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene | |
geschaffen. Diese Entwicklung zeigt, dass es auch ohne riesige | |
Wildnisgebiete möglich ist, Biodiversität auf großer Fläche zu erhalten.“ | |
## Im Gewand der Gegner | |
Dabei werden die vorrückenden Vielfraße „zur Projektionsfläche für die | |
gesellschaftliche Kluft zwischen verschiedenen Interessengruppen“, wobei | |
einige im Gewand ihrer Gegner daherkommen: Die Trophäen- und Hobbyjäger als | |
„Umweltschützer“, die viele Frauen in ihre traditionellen Jagdvereine | |
aufnehmen, mit denen sie auf Pirsch gehen, wobei diese Flintenweiber gleich | |
anschließend Bücher mit Titeln wie „Beute“ veröffentlichen oder – wenn | |
ihnen die großen europäischen Beutegreifer, wie der Vielfraß, nach einigen | |
Blattschüssen nicht mehr groß genug dünken – nach Afrika auf Safari, also | |
Großwildjagd, gehen. | |
Es gibt immer mehr Reiche weltweit, die in den Naturschutzgebieten der | |
armen Länder für viel Geld geschütztes Wild erlegen, während zur gleichen | |
Zeit die hungernden Einheimischen als „Wilderer“ nach westlichem Recht und | |
Gesetz abgeurteilt werden, wenn sie nicht vorher schon von Parkwächtern | |
erschossen und heimlich verscharrt wurden. In Südafrika und Kenia, wo es | |
besonders viele private Naturschutzparks gibt, geben die meisten Besitzer | |
zu, dass es angenehmer, einfacher und profitabler ist, sich auf | |
Trophäenjäger einzulassen als auf anspruchsvoll-nervige Kameratouristen. | |
Nun gut, bis dahin ist der Vielfraß noch nicht gekommen, kürzlich hat man | |
den ersten Schakal und den ersten Wolf bei Berlin gesichtet. Bis über die | |
Oder hat es auch der Marderhund aus Sibirien geschafft, er zählt ebenfalls | |
zu den Hundeartigen und sieht aus wie der auch „hundeartige“ Waschbär. In | |
Weißrussland hat man einst 10.000 Marderhunde importiert und ausgesetzt, | |
zur gleichen Zeit wie hierzulande Waschbären. Wikipedia bezeichnet das | |
Territorium der DDR als dessen „Kernverbreitungsgebiet“. Kein Wunder also, | |
dass die dortigen Geflügelzüchter den Marderhund für so manche | |
Existenzschmälerung verantwortlich machen. | |
## Explore monogamy | |
Obwohl auch er ein Allesfresser ist, führt er ein ganz anderes Leben als | |
der Vielfraß: „Er ist monogam und bleibt ein Leben lang im Paar zusammen.“ | |
Wenn das man keine Projektion von Biologen ist, die notorisch | |
familiengründelnd sind und oft von zu Hause weg – auf einsamer | |
Feldforschung im unwegsamen Gelände. Wahr ist, dass sowohl Marderhund wie | |
Marderhündin sich als Paar um die im Schnitt sechs bis zehn Welpen kümmern. | |
„Der Marderhund sucht zum Schutz und zur Aufzucht der Jungtiere Erdbaue | |
auf, wobei er oft alte Dachsbaue übernimmt.“ | |
Auch der marderverwandte Dachs zählt zu den Hundeartigen. Der russische | |
Dompteur Wladimir Durow, dessen Tierzirkus es noch heute in Moskau gibt, | |
wurde damit berühmt, dass er undressierbare Tiere auftreten ließ: Füchse, | |
Marder, Igel – aber keine Vielfraße und Marderhunde. | |
29 Jun 2020 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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