# taz.de -- Der Mensch und seine Vorfahren: Die Ururenkel der Neandertaler | |
> Die Genom-Sequenzierung archaischer Menschenformen boomt. Mit neuen | |
> Techniken kommt Licht in die Evolutionsgeschichte des Menschen. | |
Bild: Der Paläogenetiker Svante Pääbo aus Leipzig mit einem Neandertaler-Ske… | |
Der Schwede Svante Pääbo ist seit 1998 Kodirektor des Leipziger | |
Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie, heute weltweit führend | |
in der Untersuchung und Rekonstruktion sehr alten menschlichen Erbguts. Im | |
Dezember 2009 nahm Pääbo bei New York an einer Konferenz über Ratten-DNA | |
teil, da rief ihn sein Mitarbeiter Johannes Krause auf dem Handy an. | |
Dieser sequenzierte gerade ein menschliches Genom aus der Mitochondrien-DNA | |
eines erbsengroßen Fingerknochen-Bruchstücks. Es stammte aus der | |
Denisova-Höhle im sibirischen Altai-Gebirge und musste vor etwa 40.0000 | |
Jahren einem sechsjährigen Mädchen gehört haben. Johannes Krause bat seinen | |
Chef, sich zu setzen, falls er noch nicht sitze. Was er dann über das | |
Denisova-Kind berichtete, brachte Pääbo außer sich: „Das hier war weder ein | |
moderner Mensch noch ein Neandertaler! Es war etwas völlig anderes.“ | |
In seinem in diesem Jahr erschienenen Buch [1][„Die Neandertaler und wir“] | |
erzählt Svante Pääbo diese Geschichte, dazu viel über seinen eigenen | |
Lebensweg, den Kampf seines Teams um die Entschlüsselung des | |
Denisova-Genoms und die Vorgeschichte ihrer noch bahnbrechenderen Leistung | |
im selben Jahr: als sie vollständig das Neandertaler-Genom sequenzierten | |
und bei uns modernen Menschen zwischen zwei und vier Prozent vom | |
Neandertaler geerbter Genvarianten nachwiesen. | |
Was die Denisova-Menschen betrifft: sie waren eng mit den Neandertalern | |
verwandt, hatten sich aber Hunderttausende von Jahren vor ihnen von den | |
gemeinsamen Vorfahren mit den modernen Menschen abgetrennt und separat | |
entwickelt. | |
Den modernen Menschen (Homo sapiens) und seine ihm genetisch sehr nahen | |
archaischen Vorfahren nennt man heute Hominini. Die Zeitschrift [2][Nature] | |
veröffentlichte im vergangenen März einen Überblick über die jüngsten | |
Erkenntnisse zu unserer Verbreitung über den Erdball. | |
Alles begann vor etwa 800.000 Jahren mit dem Auszug unseres Vorfahren, des | |
Homo erectus, aus dem Kontinent Afrika. Im eurasischen Raum entwickelte | |
sich zuerst ein Teil dieser Populationen zu den Denisova-Menschen und | |
später ein anderer Teil zu den in der Zeit vor 90.000 bis etwa 35.000 | |
Jahren parallel zu ihnen existierenden Neandertalern. | |
## Gemeinsame Nachkommen | |
Alle in Afrika verbliebenen Populationen entwickelten sich unterdessen zu | |
modernen Menschen. Diese unterscheiden sich weltweit durch eine Anzahl ganz | |
bestimmter Genvarianten von den archaischen Hominini. Im Zuge eines | |
weiteren Exodus verließ ein Teil von ihnen Afrika und paarte sich vor etwa | |
100.000 bis 50.000 Jahren im Mittleren Osten mit dort bereits lebenden | |
Neandertalern. | |
Seither laufen wir modernen Menschen mit Ausnahme der Afrikaner alle mit | |
zwei bis vier Prozent Neandertaler-Genen herum. Noch vor 50.000 Jahren | |
bevölkerten die Erde mindestens drei Hominini-Formen neben uns: | |
Neandertaler, Denisova-Menschen und auf der indonesischen Halbinsel Flores | |
die nur einen Meter großen Leute vom Typ Homo floresiensis (Spitzname: | |
Hobbits). Wir verdrängten alle anderen und besiedelten als einzige | |
Menschenform die USA und Australien. | |
Bahnbrechende Erkenntnisse über diese Vorgänge wurden durch die Analyse | |
schon jahre- oder jahrzehntelang bekannter Proben erst heute gewonnen. Denn | |
noch wichtiger als glückliche Funde sind für Paläogenetiker die sich rapide | |
vervollkommnenden Techniken beim Isolieren, Sequenzieren und Interpretieren | |
archaischer DNA. Der Leipziger Pionier Pääbo lässt keinen Zweifel daran: | |
Mehr noch als gegen die Zeit ist die Sequenzierung sehr alter DNA heute ein | |
Wettlauf gegen die Konkurrenz. | |
## Die Geisterpopulation | |
Im Jahre 2013 materialisierte sich für ein Team unter Leitung des Dänen | |
Eske Willerslev vom Center for GeoGenetics der Universität Kopenhagen | |
erstmals eine sogenannte Geisterpopulation, als es nämlich das Erbgut des | |
Mal’ta-Jungen rekonstruierte. Dieses Skelett eines Jugendlichen hatte man | |
bereits in den 30er Jahren bei Irkutsk entdeckt. Genetiker vermuteten es | |
längst: Nordeuropäer und die Vorfahren (allesamt moderne Menschen) der | |
heute dort als First Nations bezeichneten Völker mussten gemeinsame | |
Verwandte haben. Hier ist nun einer von ihnen. | |
Noch kein vollständiges Skelett kennen wir von den Denisova-Menschen. Mit | |
ihnen hat man erstmals eine vorzeitliche Population der Gattung Homo allein | |
anhand molekularbiologischer Daten abgegrenzt. | |
Doch bloß aus dem Vorhandensein bestimmter Genvarianten können noch keine | |
direkten Schlüsse auf eine menschliche Gestalt gezogen werden. Diese ist | |
immer das Resultat des Zusammenspiels vieler verschiedener Genvarianten. | |
Erst recht gilt dies für menschliche Fähigkeiten. Immerhin: die | |
Neandertaler besaßen die für die Entwicklung der Sprechfähigkeit als | |
entscheidend betrachtete FOXP2-Genvariante. | |
## Geringe Reproduktionsrate | |
Ihre Alltagskultur ähnelte der moderner Mittelsteinzeitmenschen. Vermutlich | |
verfügten sie anfangs sogar über mehr Werkzeuge zur Lederbearbeitung. Sie | |
legten ihre Toten in Höhlen oder begruben sie, fertigten Kleidung aus | |
Fellen an, Schmuck aus Tierzähnen, bemalten Muscheln und vielleicht auch | |
Federn, kochten einen Teil ihrer Nahrung und fuhren in Booten aufs | |
Mittelmeer hinaus. Ihr Aussterben führt die Wissenschaft heute am ehesten | |
auf ihre im Vergleich zum modernen Menschen geringe Fruchtbarkeit zurück. | |
Als Pääbos Team die Erkenntnisse über den Neandertaler-Gen-Anteil beim | |
modernen Menschen publizierte, tauchte eine Gegenthese auf. Ihr zufolge | |
sind diese Gemeinsamkeiten einfach auf gemeinsame Vorfahren zurückzuführen. | |
Der schwedische Paläogenetiker hält solch eine Vorstellung für an den | |
Haaren herbeigezogen. Demnach hätte es in Afrika zwei getrennte | |
Vorfahrengruppen geben müssen, welche genetisch moderne Menschen | |
hervorbrachten. Die erste die heutigen Afrikaner, die zweite die heutigen | |
Bewohner aller übrigen Kontinente ebenso wie die archaischen Neandertaler. | |
Beide Vorfahrenpopulationen hätten über Hunderttausende von Jahren | |
peinlichst Sex miteinander vermeiden müssen. Das Szenario sieht weniger | |
nach modernen oder archaischen Hominini aus als nach Aliens. | |
1 Jun 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.fischerverlage.de/buch/die_neandertaler_und_wir/9783100605207 | |
[2] http://www.nature.com/news/human-evolution-the-neanderthal-in-the-family-1.… | |
## AUTOREN | |
Barbara Kerneck | |
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