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# taz.de -- Der Fall Riace: Profitabler als Drogen
> Riace im süditalienischen Kalabrien nahm Migrant*innen auf, um sich zu
> verjüngen. Dafür bekam das Dorf Geld. Mit dem Geld kamen die Probleme.
Bild: Mittlerweile gibt es kaum noch Läden in Riace, das lange vom Geschäft m…
Riace taz | Am 26. Mai hat Italien seine neuen Bürgermeister gewählt. Die
Nachricht von Domenico Lucano, den hier alle Mimmo nennen, schaffte es auf
die Titelseiten: Der Bürgermeister von Riace, berühmt dafür, dass er sein
dahinsiechendes Dorf durch Migranten wieder belebt hatte, hatte nur 24
Stimmen bekommen. 1.500 Menschen hatten gewählt. Noch 2016 war Lucano von
der US-amerikanischen Zeitschrift Fortune zu einer der 50 einflussreichsten
Persönlichkeiten der Welt gekürt worden. Jetzt wird gegen ihn ermittelt,
und seine Bürger wählen ihn nicht mehr. Was ist passiert?
Mimmo Lucano hatte den Neuankömmlingen die leeren Häuser der Weggezogenen
überlassen, während Europa Mauern baute, Solidarität unter Strafe stellte
und mit libyschen Milizen verhandelt, um die zu stoppen, die vor Krieg
fliehen mussten. 35 Euro pro Kopf zahlt der italienische Staat einer
Kommune, wenn sie Geflüchtete aufnimmt. In Kalabrien, einer der ärmsten
Regionen Italiens, ist das eine ganze Menge. Lucano hatte das Geld benutzt,
um Werkstätten anzusiedeln und die Wirtschaft zu beleben. Während der
Wirtschaftskrise ist das Bruttoinlandsprodukt in Riace um 43 Prozent
gestiegen. Und doch hat die [1][extreme Rechte von Innenminister Matteo
Salvini] jetzt auch hier einen Sieg davongetragen.
Riace mit seinen 2.313 Einwohnern liegt ganz im Süden, fast in der
Stiefelspitze Italiens. Am Bahnhof gibt es nur ein einziges Gleis, ohne
Fahrkartenschalter. Dann eine Apotheke, gegenüber eine Bar und ein
Tabakwarengeschäft. Das war’s mit Riace Marina, einem der zwei Ortsteile,
aus denen sich das Dorf zusammensetzt. Sieben Kilometer weiter und 300
Meter höher liegt Riace Superiore. Mit Rathausplatz, Kirche, Bar, einem
kleinen Feinkost- und einem noch kleineren Gemüsegeschäft, einer weiteren
Bar und einem Tabakladen. Zweimal am Tag verkehrt ein Bus zwischen den
beiden Ortsteilen. Wer nicht warten kann oder kein eigenes Auto hat, muss
trampen.
Der erste, der anhält, fährt einen schwarzen SUV im Wert von mindestens
40.000 Euro. Den habe er auf Raten gekauft. Er sei Maurer. Arbeiter sind
sie hier alle. Schlosser, Elektriker. Viele fahren einen SUV. Sehr viele.
Und sie alle haben in der Flüchtlingshilfe gearbeitet. Genauer gesagt: in
der sich auflösenden Flüchtlingshilfe. Eine Idee, die in aller Welt
Bewunderer fand, Wim Wenders hat sie sogar in dem Kurzfilm „Il Volo“
verarbeitet. Eine revolutionäre und eine alte Idee zugleich: den Migranten
die Türen der Einheimischen öffnen, statt gesonderte Aufnahmezentren zu
schaffen mit komplizierten Verfahren, Quotenregelungen, Genehmigungen.
## Abhörprotokolle der Finanzpolizei
Aber irgendetwas hat nicht funktioniert in Riace. Insgesamt sind 6.000
Migranten durch den Ort gekommen, für 300 von ihnen gab es offiziell
finanzielle Unterstützung. Aber zeitweise müssen es doppelt so viele
Geflüchtete gewesen sein, je nach Schiffen, Kriegen, Hungersnöten. Um das
zu managen, erhielt Riace knapp 3 Millionen Euro, verteilt auf sieben
Hilfsorganisationen. Doch die haben kaum oder gar nicht Rechenschaft über
ihre Ausgaben abgelegt. Die einzige Zahl, die als gesichert gilt, ist die
24. Die Stimmen für Mimmo Lucano.
Il Girasole ist eine der Hilfsorganisationen, die finanzielle Unterstützung
vom Staat bekamen. Maria Taverniti ist die Vorsitzende. Ob man vorbeikommen
könne? Sie sei nicht in Riace. Und später? Sie wisse nicht, wann sie
wiederkomme. Ob man das Büro besuchen könne? Das sei geschlossen. Ob ein
Mitarbeiter zu sprechen sei? Es gebe dort niemanden mehr. Auch eine Website
gibt es nicht. Dokumente, Handzettel, Artikel aus der Lokalzeitung: nichts.
Was es aber gibt, sind die Abhörprotokolle der Finanzpolizei. 18 Monate hat
sie zu Riace ermittelt. Am 2. September 2017 spricht Mimmo Lucano mit
Cosimina Ierinò, seiner Sekretärin. Er ist wütend. Aus Rom sind Gelder
gekommen, er hat Il Girasole 95.000 Euro überwiesen. Aber die Lieferanten
rufen weiterhin an, sie hätten kein Geld bekommen. Das Gleiche bei den
Sozialarbeitern. 95.000 Euro, die nicht reichen? „Das sind dreiste Diebe“,
sagt Lucano. Bei Il Girasol verteidigen sie sich. Dass sie alles gezahlt
hätten, was sie hätten zahlen können. Dass nur ein Teil der Hilfsgelder
eingetroffen sei. Wenn der Rest aus Rom komme, würden sie den Rest
bezahlen. „Sie haben alles geklaut“, sagt Cosimina Ierinò.
Die Finanzpolizei hat Hunderte solcher Gespräche aufgezeichnet. Laut der
Staatsanwaltschaft von Locri sind während der drei untersuchten Jahre etwa
30 Prozent der Hilfsgelder für alles Mögliche ausgegeben worden – aber
nicht für die Migranten. Häuser wurden gekauft, Gebäude wurden saniert. Mit
der Flüchtlingsunterbringung hatte das aber nichts zu tun. Außerdem seien
Festivals und Konzerte finanziert worden. Und auf den Bankkonten der
Hilfsorganisationen fehlen 2 Millionen Euro: abgerufen ohne Begründung.
Sicher wird ein Teil für die Migranten ausgegeben worden sein. Das wird man
vor Gericht beweisen. Aber viele der vorgelegten Rechnungen wirken
fragwürdig. Für eines der Häuser wurden 87 Matratzen und 13 Kopfkissen
erworben, ein Schreibwarengeschäft verkaufte Möbel. Und für einen Fiat
Doblò wurde Benzin im Wert von 695 Euro pro Tag erstattet. Am 30. August
2016 hat eine 32-jährige Ghanaerin einen Scheck über 10.591 Euro für zwei
Monate Arbeit kassiert. Sie flicht Braids, afrikanische Zöpfe.
## Der Vorwurf: Begünstigung illegaler Einwanderung
Am 22. August 2017 spricht Tonino Capone, Vorsitzender der größten
Hilfsorganisation Città Futura, mit einem Freund. Er ziehe es vor, die bis
Ende des Jahres nicht verbrauchten Gelder auszugeben, statt sie
zurückzuerstatten, wie es das Gesetz eigentlich vorsieht. „Was weiß ich, da
sind 3.000, 10.000 Euro, die man zurückgeben müsste. Aber los, sucht euch
ein Zimmer für die Kinder aus […] ich will die Gelder nicht zurückgeben.“
Und man hört Mimmo Lucano sagen: „Es ist erschütternd, was ich entdeckt
habe.“ Der Prozess gegen den ehemaligen Bürgermeister hat am 11. Juni
begonnen. Mit 26 weiteren Angeklagten muss sich Lucano wegen
gemeinschaftlichen Vergehens gegen die öffentliche Verwaltung verantworten.
Ihm wird [2][Begünstigung illegaler Einwanderung] vorgeworfen.
Bahram Acar war 32 Jahre alt, als er am Strand von Riace an Land ging. Er
erinnert sich noch gut an jene Nacht. Wie er im Dunkeln die Straße nach Rom
gesucht hat. Das war 1998. Damals gab es noch keine Aufnahmezentren, keine
Projekte, keine NGOs. Er hat sich einfach Arbeit gesucht. „In letzter
Zeit“, gibt er zu, „war Riace bloß noch ein Parkplatz. Die Migranten
bekamen alles bezahlt, sogar die Zigaretten. Also hingen sie den ganzen Tag
rum“, sagt er. „Aber auch die Vereine. Statt qualifizierter Sozialarbeiter
stellten sie Verwandte und Freunde ein. Es kamen zehn Sozialarbeiter auf
zehn Migranten. Das ergab keinen Sinn mehr “, sagt er.
Acar sagt, was hier alle sagen. Wirklich alle. Sie beschreiben eine
Entwicklung, die 1998 mit dem ersten Fischerboot begann. Unter den 2.313
Einwohnern sind 470 Migranten, die geblieben sind. Mit 38 unterschiedlichen
Nationalitäten. „Aber dann änderten sich die Zahlen“, sagt Adelina
Raschellà, Zeitungsverkäuferin. „Und alles ist explodiert.“ Sie meint aber
nicht die Zahl der Migranten, sondern die Hilfsgelder, öffentliche Gelder.
Weil immer mehr Geflüchtete kamen, sicher. Aber das Geld sei das, was alles
kaputt gemacht habe. Geld, das man hier nicht kannte. Es war 2011, der
Arabische Frühling. „Es hieß, in Riace öffnen sie allen die Tür. Aus ganz
Italien riefen sie an, manchmal um zwei Uhr nachts, und fragten: Können wir
euch noch 200 schicken?“, sagtt sie. Und niemand drückte sich. „Denn wir
sehen uns alle in erster Linie als Migranten. Aber es war ein Desaster.“
Die meisten Migranten sind in Riace nur auf der Durchreise, sie wollen nach
Nordeuropa. Noch heute wandern jedes Jahr mehr Menschen aus Italien aus als
ein. Aber es ist ein Land, dem eine Notsituation gelegen kommt. Weil über
die dafür bereitgestellten Gelder kaum Rechenschaft abgelegt werden muss
und es für Spendengelder wenig Auflagen gibt. Das bekannteste Gespräch über
das Geschäft mit der Zuwanderung wurde nicht in Riace, sondern in Rom
mitgeschnitten. 2014, während einer Ermittlung gegen die Mafia. Migranten
werden da als „profitabler als Drogen“ bezeichnet.
## Trotzdem kein Erfolg für die Rechten?
Aber wenn es in Riace ein Desaster gab, dann wohl auch, weil die Gelder
hier oft mit monatelanger Verspätung eintrafen. Also mussten die
Geschäftsinhaber alles vorstrecken. „Es war unhaltbar“, sagt die Metzgerin
Maria Chillino. Sie hat noch immer 16.000 Euro zu bekommen. „Es ging alles
zu unseren Lasten“, sagt sie. „In allen anderen Belangen war es, als hätten
wir keinen Bürgermeister. Das Geschäft mit der Migration absorbierte alle
Energien. Oft geht uns hier das Wasser aus. Aber niemand fragte, ob wir
Hilfe bräuchten. Sie begannen nur, Wohnungen anzumieten, in die sie zehn
Zwanzigjährige steckten, die noch nie allein gelebt hatten. Und egal ob du
aus Afrika oder aus Italien bist, das schafft Probleme“, sagt sie. „Wir
riefen die Hilfsorganisationen an. Sie haben nie reagiert“, sagt sie. „Frag
die Carabinieri. Alle haben sich beschwert.“
Tatsächlich sind bei der Polizei Dutzende Beschwerden eingegangen. Und bei
der Kommune viele Klagen auf Schadenersatz. „Wir haben nicht gegen die
Migranten gestimmt“, sagt Maria Chillino, „sondern gegen diejenigen, die
die Migranten gemanagt haben. Oder so taten, als würden sie sie managen.“
Was sie erzählt, und wie sie es erzählt, als sei es völlig normal, ist
dramatisch. Drei- bis viermal am Tag kamen Menschen in die Metzgerei. Baten
um ein Stück Fleisch, ein bisschen Kleingeld für den Zug. Brauchten Hilfe
bei der Übersetzung eines Dokuments. „Und du hast dem Ersten geholfen, dem
Zweiten, dem Dritten. Dem Vierten. Aber irgendwann musstest du Nein sagen“,
sagt sie. „Obwohl es manchmal fast noch ein Kind war, draußen stehen blieb,
vor der Tür. Ohne einen Schimmer, was es tun sollte …“ Ihre Stimme bricht
ein. „Ich schwöre“, sagt sie, „wir haben unser Möglichstes getan.“
Die Niederlage der Linken in Riace war kein Erfolg der Rechten, auch wenn
die es gern als solchen verkaufen. Claudio Falchi, der für die rechte Lega
in den Stadtrat gewählt wurde, hat nur 25 Stimmen erhalten. So sind die
Verhältnisse in Riace – wie viele Freunde du hast, wiegt mehr als die
Partei, für die du kandidierst. Vor allem aber wollen alle die Migranten
zurück, deshalb haben sie sich für die Lega entschieden. Weil es die
Regierungspartei ist. Und die bestimmt über die Hilfsgelder aus Rom. Die
Migranten sind in Riace ein Trumpf. Der einzige, den sie haben.
## Früher kamen alle nach Riace
Selbst der neue Bürgermeister, Antonio Trifoli, sagt nur Gutes über Mimmo
Lucano. Doch in seinem Büro stehen auch jede Menge Akten, voll mit
unbezahlten Rechnungen, in Höhe von 3 Millionen Euro. „Jahrelang hat die
Kommune kein Wasser, keinen Strom bezahlt, nichts“, sagt er. „Es war, als
würde sich niemand mehr um die Bürger und Bürgerinnen kümmern.“ Und damit
meine er alle: die Einheimischen und die Zugewanderten. „Am Ende standen
wir alle ohne Wasser da.“ Riace war führend im Kampf um Wasser als
kostenfreies Allgemeingut. Aber weil die Kommune Zahlungsrückstände von
850.000 Euro hat, wurde schließlich der Wasserdruck reduziert.“ Trifoli
selbst hat eine linke Vergangenheit. Er sagt: „Auch die Linke hier ist mit
schuld an der Situation. Ohne eigenes Führungspersonal hat sie Mimmo Lucano
in ein Symbol verwandelt. Und dem Ort mehr abverlangt, als Riace
realistischerweise geben konnte.“
Früher kamen alle nach Riace: Regisseure, Musiker, Schriftsteller.
Künstler. Auch einfache Aktivisten, die in den Abhörprotokollen hier und da
auftauchen, weil sie fragen, ob vielleicht zufällig die Wohnung eines
Migranten für ein Wochenende frei sei. Sie waren angetan von den
Werkstätten, die Glas, Keramik, Stoffe verarbeiteten.
Viele Migranten begannen in Riace eine Berufsausbildung. Ohne darüber
nachzudenken, wie die Regierungsinspektoren mehrfach betonen, wie sinnvoll
es für einen irakischen Ingenieur sein kann, den Umgang mit dem Webstuhl zu
lernen. Mimmo Lucano hat stets entgegnet, dies sei Kalabrien. Dass es hier
keine Arbeit gebe. Gerade deswegen müsse das System justiert werden, haben
sie ihm geantwortet. Um dann frisch angekommene Migranten zu schicken, die
man später umverteilt hat.
Ein streitträchtiges Thema. Auch weil in Italien die Alternative zu Riace
oft nur die Tomatenfelder sind, wo man 3 Euro pro Stunde bei 12 Stunden
Arbeit am Tag bekommt. „Die Linke hat sich nie dafür interessiert“, sagt
Antonio Trifoli. „Das Thema ist noch immer tabu. Auch wenn niemand weiß, wo
die Migranten, die in Riace waren, heute leben. Niemand hat sie je gefragt,
ob Riace für sie hilfreich war oder nicht.“
## Im Dorf verteidigen sie Mimmo Lucano
„Nachdem man sie benutzt hat, hat man sie vergessen“, sagt Trifoli. Jetzt
schauen alle auf Sea-Watch. Jetzt haben alle ein neues Idol gefunden. Als
es schwierig wurde, sind alle verschwunden. Mehr noch: Riace wurde als
Lega-Stadt abgestempelt, als rassistisch.
Im Dorf erzählt man sich, was alle wussten, worüber aber alle aus
Eigeninteresse geschwiegen haben. Auch der Staat, der all die Migranten
hierherschickte, die er anderswo nicht unterbringen konnte. Im Dorf
verteidigen sie Mimmo Lucano. Der habe keinen einzigen Euro in die eigenen
Taschen gesteckt. Andere schon, ihr Lebensstandard stimme nicht mit ihrem
Einkommen überein. SUV, Reisen, neue Häuser. Aber Mimmo Lucano? Nie und
nimmer. Als ihn die Staatsanwaltschaft im vergangenen Oktober zum ersten
Mal aus Riace verbannte, verbrachte er die ersten Tage im Auto. Nun ist
Lucano wieder verbannt. Ein Flüchtling unter Geflüchteten.
„Das ist nicht gerecht“, sagen die Leute im Ort. Es sei nicht richtig, dass
einer für alle büßt. Alle erzählen dasselbe, doch alle wollen anonym
bleiben. Bis auf einen. „Schreib auf“, sagt er. „Ich heiße Cosimo Nistic…
Von der Kooperative L’Aquilone. Auf dem Gehaltszettel stehen 1.200 Euro,
netto bleiben 300 Euro. Es reicht jetzt“, sagt er, „es ist einfach nicht
gerecht.“
Die 35 Euro pro Tag und Migrant sind hier eine Menge Geld. Geld, das viel
anderes ermöglicht. Das Problem ist, dass aus dem „anderen“ in der
Zwischenzeit zum Beispiel drei Wohnungen und eine Ölpresse geworden sind,
die 360.000 Euro gekostet haben. Und dass sie jetzt Città Futura gehören,
der größten Hilfsorganisation vor Ort.Wie auch deren Hauptsitz, der Palazzo
Pinnarò, das schönste Gebäude in Riace. Am 10. Juli 2017 telefoniert Mimmo
Lucano mit dem Vorsitzenden von Città Futura. Halb Riace frage ihn,
inwiefern eine Ölpresse den Migranten nutzen könne. Der Vorsitzende gibt
zu: „Gar nicht.“
## Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Aber es ist zu spät. Das System ist außer Kontrolle geraten. Die
Verantwortlichen wollen nicht reden, genauso wenig die wenigen Migranten,
die noch in Riace sind. Eine Eritreerin, drei Nigerianerinnen, zwei
Nigerianer, zwei Syrer: sie leben seit Monaten hier, manchmal schon seit
Jahren. Italienisch sprechen sie nicht.
In Riace kümmert niemanden, was die Presse schreibt. Oder dass das Dorf im
Mittelpunkt eines Prozesses steht. Es geht in dem Prozess nicht um falsche
Quittungen oder Lohnabrechnungen, sondern um kleinere Gesetzesverstöße:
falsch ausgestellte Papiere für Illegale, Beherbergung von Flüchtlingen
nach Auslaufen der Hilfsprogramme. Gesetzeswidrigkeiten, die sie alle
begangen hätten. In dem Punkt sind sie stolz auf Mimmo Lucano. Sie sehen
diese Taten nicht als Rechtsverstöße, sondern als zivilen Ungehorsam.
Trotzdem haben sie gegen ihren Bürgermeister gestimmt. Trotzdem bekam
Lucano nur 24 Stimmen. Domenico Arcadi, der Buchhalter der Kommune, fährt
mit seinem Auto zur Marina Riace. Er weiß am besten, was wirklich passiert
ist. Aber wegen des laufenden Verfahrens muss er schweigen. Er sagt:
„Inzwischen [3][verhandeln sie mit Libyen]. Hier müssen wir uns wegen
Amtsmissbrauch, kleiner Betrügereien verantworten. Woanders verübt man
Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“
„Welch ein Wahnsinn“, sagt er, „alles Geld für einen SUV zu verplempern.
Und jetzt, wo die Arbeitslosengelder zu Ende gehen, wovon wollen sie leben?
Die Migranten waren das einzige Mittel, dass wir nicht selbst zu Migranten
werden.“
Aus dem Italienischen von Sabine Seifert
11 Aug 2019
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Francesca Borri
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