# taz.de -- Debatte um Identitäten und Multikulti: Die gewollte Spaltung | |
> Die politische Perspektive wird inzwischen häufig durch eine | |
> kulturalistische ersetzt. Für Menschenrechte und Selbstbestimmung ist das | |
> gefährlich. | |
Bild: Das Soziale ist nicht völlig von der Herkunft oder der religiösen Zugeh… | |
Multikulturalismus ist ein trügerisches Wort, weil es viel weitreichendere | |
Implikationen hat, als man auf den ersten Blick vermutet. Wenn wir an | |
Multikulturalismus denken, denken wir meistens an die bunte Begegnung | |
zwischen vielfältigen Traditionen, Bräuchen, Speisen, Kleidung, Musik usw. | |
Aber der Multikulturalismus hat auch politische Konsequenzen und kann aus | |
der Pluralität der Traditionen zu einer Pluralität der Rechte führen, was | |
problematisch ist. | |
Nach dem [1][Multikulturalismus] sollten die verschiedenen Kulturen so, wie | |
sie sind, akzeptiert werden und dürfen nicht infrage gestellt werden. Das | |
Problem dabei ist, dass die Kulturen keine unveränderlichen und | |
beschlossenen Objekte sind, sondern vielmehr soziale Prozesse, die ständig | |
in Bewegung sind und die letztendlich vom Austausch einzelner Menschen | |
leben – jeder mit seinen eigenen Erfahrungen, Gedanken, politischen und | |
ethischen Überzeugungen, die nicht völlig von der Herkunft oder der | |
religiösen Zugehörigkeit bestimmt sind. | |
Die Falle des Multikulturalismus ist die, dass man vor lauter Respekt vor | |
den Kulturen Gefahr läuft, die Verletzungen der Menschenrechte der | |
einzelnen Individuen zu übersehen oder sogar zu fördern. | |
## Kinder ohne Schulpflicht | |
Im Jahr 1972 hat eine Amish-Familie in den USA gefordert, dass ihre Kinder | |
von der Schulpflicht befreit werden, weil nach ihren eigenen religiösen | |
Überzeugungen die Grundschule für die Kinder ausreichte und weiter in die | |
Schule zu gehen, ihre Erlösung gefährdet hätte. Der oberste Gerichtshof der | |
USA hat diese Anfrage angenommen, weil sie auf religiösen Gründen basiert. | |
Ein solches [2][Sonderrecht den Amish] anzuerkennen bringt die Verletzung | |
des Rechts der Kinder auf Bildung mit sich und stellt eine Diskriminierung | |
im Vergleich zu den anderen Kindern dar. Eine Verletzung mit großen Folgen: | |
Da die Amish-Kinder keine Möglichkeit hatten, weiter in die Schule zu | |
gehen, hatten sie auch keine Freiheit, ihr Leben selbstbestimmt zu führen. | |
Um Menschenrechte immer und überall zu schützen, brauchen wir eine strenge | |
Laizität, die die Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt und ihnen alles | |
andere unterordnet. Überall wo Religionen eine große Rolle im öffentlichen | |
Leben spielen, werden Menschenrechte ([3][und insbesondere Frauenrechte]) | |
verletzt. Wir brauchen nicht weit umherzuschauen, um das zu beweisen: In | |
Polen will die Regierung, die tief von der katholische Kirche beeinflusst | |
ist, aus der Istanbul-Konvention gegen Gewalt gegen Frauen austreten. | |
## Laizität ist wichtig | |
Aber was heißt Laizität? Laizität ist das politische Prinzip, das sich | |
ausgehend vom historischen Prozess der Trennung von Kirche und Staat | |
durchgesetzt hat und das heute noch einen Schritt weitergehen muss. Bisher | |
stellte sich das Problem nämlich rein als eine Frage der Macht dar (der | |
Staat gegen eine Kirche, die säkulare Ambitionen hatte) – ein Problem, das | |
man durch die Aufteilung der Machtbereiche lösen konnte, indem man dem | |
Kaiser gab, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist. | |
Heutzutage reicht das nicht mehr und der „Kaiser“ muss einerseits dafür | |
sorgen, dass „Gott“ nicht gegen die Grundprinzipien des demokratischen | |
Staates verstößt, angefangen bei den Grundrechten des Einzelnen; und | |
andererseits muss der „Kaiser“ die kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen | |
und materiellen Voraussetzungen dafür schaffen, dass die einzelnen Bürger | |
tatsächlich in die Lage versetzt werden, ihre eigenes Leben selbst zu | |
bestimmen. | |
Seit rund 20 Jahren umgibt uns ein Narrativ, das uns in ein „wir“ und ein | |
„die anderen“ aufteilen will und uns in einen fatalen „Konflikt der | |
Kulturen“ zwingt. In Wahrheit gibt es aber keinen Kulturenkonflikt, was es | |
allerdings tatsächlich gibt, ist ein ganz und gar politischer Konflikt, der | |
jeder Kultur der Welt inhärent ist: ein Konflikt zwischen reaktionären und | |
fundamentalistischen Kräften auf der einen Seite und progressiven Kräften | |
und Verfechtern der Menschenrechte auf der anderen. Ganz oft, und oft ohne | |
Absicht, rutschen die Multikulturalisten auf die Seite der Reaktionäre. | |
## Bericht einer Mutter | |
Das Folgende ist der Bericht einer Mutter, deren Tochter, eine muslimische | |
in Großbritannien lebende Frau, sich zivilrechtlich von ihrem Mann hatte | |
scheiden lassen: „Mein Exschwiegersohn tauchte in unserer örtlichen Moschee | |
auf und verkündete den Betenden, dass ich eine ‚unmoralische Frau‘ sei und | |
meine Töchter zwinge, sich zu prostituieren. Er bat die Ältesten, ihm zu | |
helfen, sich seine Frau und die gemeinsamen Kinder zurückzuholen, um ihre | |
Seelen zu retten. Die Moschee (in East London) schickte eine Delegation zu | |
mir nach Hause. Fünf Männer tauchten an meiner Haustür auf. Sie sagten mir, | |
ich müsse meine Tochter zwingen, zu ihrem Mann zurückzukehren. Ich sagte | |
ihnen, dass Lubna sich hatte scheiden lassen, doch sie antworteten, die | |
englische Scheidung sei nichts wert und gelte nicht vor dem islamischen | |
Gesetz.“ | |
Deswegen musste am Ende diese Frau vor ein „Scharia-Gericht“ gehen, um eine | |
muslimische Ehescheidung zu bekommen und endlich in Ruhe gelassen zu | |
werden. | |
Ein Bericht der britischen Regierung schätzt, dass in Großbritannien | |
Dutzende solcher Scharia-Gerichte aktiv sind, die über die Ehescheidungen | |
entscheiden. Das Problem betrifft nur Frauen, weil Männer, laut der | |
Scharia, über das Recht der Verstoßung verfügen, den sogenannten Talāq. Der | |
Bericht wurde heftig kritisiert, weil er diese Gerichte nicht als illegal | |
erklärt. Die Begründung dafür lautet „die Scharia-Räte decken in manchen | |
muslimischen Gemeinschaften einen Bedarf ab. Es besteht ein Bedarf an | |
religiöser Scheidung, dem aktuell die Scharia-Räte entgegenkommen.“ | |
Ich frage mich: Wessen Bedürfnissen kommen diese Gerichte entgegen? Denen | |
der Frau, die einfach in Ruhe ihr Leben führen möchte, oder denen der | |
Männer der Community, die die Freiheit der Frau nicht akzeptieren? | |
## Auf der falschen Seite stehen | |
Wenn wir in dieser Geschichte das religiöse Element entfernen, wären wir | |
mit einem klassischen Fall von Stalking konfrontiert und hätten keine | |
Zweifel, auf welche Seite wir uns stellen sollen. Wenn wir aber wieder das | |
religiöse Element einfügen, scheint es plötzlich nicht mehr ein Fall von | |
Stalking, sondern eine religiöse und kulturelle Frage zu sein, die mit | |
Samthandschuhen und gebührendem „Respekt“ behandelt werden muss. | |
Die Rhetorik vom „Respekt vor den Kulturen“ ist für die Menschenrechte | |
brandgefährlich. Das lässt sich mit der Geschichte von Rita Atria | |
illustrieren, die wie ich aus Sizilien stammt. Rita war die Tochter eines | |
Mafiosos, der, als sie elf Jahre alt war, getötet wurde. Nach dem Tod des | |
Vaters nahm Ritas älterer Bruder seinen Platz in der mafiösen Organisation | |
ein. Im Juni 1991 wurde auch der Bruder getötet. Die erst 17-jährige Rita | |
beschloss, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, und wandte sich an den | |
Richter Paolo Borsellino. | |
Rita wurde sofort ins Schutzprogramm aufgenommen: Neue Identität, geheimer | |
Wohnort. Im Juli 1992 wurde der Richter Borsellino in der sogenannten | |
Strage di Via d’Amelio in Palermo ermordet. Rita ertrug die Situation nicht | |
länger und stürzte sich eine Woche danach aus dem siebten Stock der Wohnung | |
in Rom, in der sie unter Polizeischutz lebte. | |
Ritas Familie hat sie immer verleugnet, ihre Mutter ist nicht zu ihrer | |
Beerdigung gegangen, und sie hat sogar den Grabstein ihrer eigenen Tochter | |
mit Hammerschlägen zerstört. | |
## Den Respekt verweigert | |
Warum? Weil Rita die Familie „verraten“ hatte, weil sie der Gemeinschaft | |
„den Respekt verweigert“ hatte. Aber welchen Respekt war Rita ihrer Kultur | |
schuldig? Sie entstammte dieser Kultur, dennoch besaß sie den Mut, ihre | |
eigene Kultur infrage zu stellen, ihr im Namen der Gerechtigkeit und der | |
Freiheit „den Respekt zu verweigern“, wofür sie einen sehr hohen Preis | |
zahlen musste. | |
Ritas Geschichte ist die Geschichte all jener, die in jedem Winkel dieses | |
Planeten, in jedem kulturellen Kontext patriarchalische und autoritäre | |
Muster infrage stellen und die beschuldigt werden, den Traditionen, der | |
Kultur und der Gemeinschaft den Respekt zu verweigern, beschuldigt von | |
denen, die den Status quo aufrechterhalten wollen. | |
19 Aug 2020 | |
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## AUTOREN | |
Cinzia Sciuto | |
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