# taz.de -- Debatte Dienstpflicht: Freiwillig? Funktioniert nicht | |
> Wer junge Menschen zu sozialen Diensten heranziehen will, darf nicht | |
> allein auf ihre „soziale Ader“ setzen. Eine Antwort auf Daniel Dettling. | |
Bild: Mögliche Aufgabe für ein soziales Dienstjahr: Seniorenbetreuung in Wild… | |
Deutschland wird in den kommenden Jahren ohne „Kümmerer“ dastehen, ohne | |
Menschen, die wichtige Care-Arbeit leisten: Kinder betreuen, Ältere | |
versorgen, Kranke pflegen. Der Fachkräftemangel ist jetzt schon eklatant, | |
aber demnächst dürfte er zu ungeahnten Nöten führen. Daniel Dettling, | |
Zukunftsforscher und Gründer des Instituts für Zukunftspolitik in Frankfurt | |
am Main, hat deshalb in der taz an dieser Stelle vor einer Woche [1][einen | |
„Gesellschaftsdienst“ vorgeschlagen]: An die Stelle des einst staatlich | |
verordneten Zivildienstes für alle Wehrdienstverweigerer sollte jetzt ein | |
freiwilliger „Gesellschaftsdienst“ treten. | |
„Bevor man eine Ausbildung oder ein Studium beginnt, kümmert man sich | |
freiwillig – und ordentlich bezahlt – für einige Monate um bedürftige | |
Menschen“, schreibt Dettling. Der Zukunftsforscher bezeichnet seine Idee | |
als „dritten Weg“ zwischen Pflichtdienst und Freiwilligkeit. Denn während | |
die Mehrheit der Deutschen es gut findet, wenn der Zivildienst als eine Art | |
soziales Pflichtjahr wieder eingeführt würde, sprechen Verfassungsgründe | |
sowie die Europäische Menschenrechtskonvention dagegen. | |
Dettlings Idee klingt charmant: Alle jungen Leute machen mit, das sind | |
immerhin etwa 700.000 der Jugendlichen um 18 Jahre. Sie erhalten | |
Mindestlohn und das gute Gefühl, etwas für das Gemeinwohl getan zu haben. | |
Die sogenannten Generationen Y und Z, so erklärt Dettling weiter, wollten | |
sinnvoller leben als ihre Eltern mit Stress, Zeitnot und Burn-out. Die | |
Jungen wollten eher „einen sinnvollen Job, neben Unabhängigkeit und Spaß, | |
das eigene Leben“ genießen. | |
Klingt alles plausibel. Es wäre dem „dritten Weg“ zu wünschen, dass | |
Jugendliche ihn zuhauf gehen. Nur: Sie werden es nicht in dem Maße tun, wie | |
Dettling sich das vorstellt. Denn Freiwilligkeit bleibt Freiwilligkeit. | |
Warum sollte jemand, der nach dem Abi oder der Lehre am liebsten durch | |
Südostasien reist, aus lauter Nächstenliebe darauf verzichten? Warum | |
freiwillig Nachtwachen im Pflegeheim schieben, statt durch den Grand Canyon | |
zu trampen? | |
Wer wirklich will, dass sich alle jungen Menschen zeitweilig sozial | |
engagieren, kommt um ein verpflichtendes Dienstjahr nicht herum. Ob im | |
Obdachlosenheim, in der Kita, im Krankenhaus. Oder bei der Dorffeuerwehr, | |
beim Grünflächenamt, als Haushaltshilfe. Orte und Menschen, die | |
Unterstützung benötigen, gibt es mehr als genug. Menschen aber, die sie | |
freiwillig leisten, eben weniger denn je. Weil es nun mal keinen Spaß | |
macht, alte Menschen mit Brei zu füttern, fremden Kindern die Windeln zu | |
wechseln und in den Blumenrabatten im Park Papier und Schnapsflaschen | |
aufzusammeln. | |
Nun kann man diese Jobs weiterhin all jenen Menschen überlassen, die das | |
beruflich machen. Vornehmlich sind das Frauen in den mies bezahlten | |
Care-Berufen. Menschen mit schlechter oder keiner Ausbildung, die zu | |
Hilfsarbeiten herangezogen werden. Und Langzeitarbeitslose, die das | |
Jobcenter dazu verpflichtet – ansonsten wird ihnen Hartz IV gekürzt. Will | |
man das? | |
Ein verpflichtendes Jahr für alle Schulabgängerinnen und -abgänger dürfte | |
das Problem des fehlenden Care-Personals auch nicht vollständig lösen. Aber | |
es würde zu weiten Teilen aufgeweicht. Mit Vorteilen für alle Beteiligten: | |
Alte, Kinder, Hilfsbedürftige erhalten Unterstützung. Und jene, die sie | |
leisten, eine Erfahrung, die sie auf andere Weise kaum machen dürften: das | |
Gefühl, gebraucht zu werden und etwas Nützliches zu tun. So wie das | |
Dettling mit seiner Zukunftsvision ja auch vorschwebt. Ob dabei in jedem | |
Fall die gesellschaftliche Anerkennung herausspringt, die solche Dienste | |
für den Wohlfahrtsstaat selbstredend verdienen, ist fraglich. Aber das ist | |
bei Dettlings „Gesellschaftsdienst“ ebenfalls nicht garantiert. | |
## Care-Jahr als Orientierungshilfe | |
Ein [2][verpflichtendes Care-Jahr] kann ja auch mehr sein als nur die | |
Hinwendung zu sozialer Betätigung. Es kann Orientierungshilfe sein. Immer | |
mehr junge Menschen wissen nach dem Abi nicht, was sie studieren sollen. | |
Oder müssen ein Jahr überbrücken, weil sie den ersehnten Studienplatz | |
erst zwei, drei oder vier Semester später bekommen. Andere haben nach der | |
Lehre erst mal die Nase voll vom Schul- und Ausbildungsbetrieb und wollen | |
kurzzeitig etwas ganz anderes machen, bevor sie voll in ihren Job | |
einsteigen. Warum sollten sie nicht für ein soziales, ökologisches, | |
caritatives Dienstjahr verpflichtet werden? | |
In diesem Sinne wäre ein Pflichtdienstjahr so etwas Ähnliches wie ein | |
längeres (bezahltes) Praktikum, an dessen Ende manch erstaunliche | |
Erkenntnis steht: Tierheim, das klang immer so schön nach Streichelzoo und | |
Ponyhof, ist aber die volle Härte stinkender Hundekacke und Vögeln in | |
Käfigen. Im Bioladen Körnerbrot und vegane Schnitzel zu verkaufen, hatte | |
ich mir romantischer vorgestellt, als kleine Weltrettung. Aber so lange | |
Stehen macht dicke Beine, das halte ich nicht aus, dann geh doch lieber ins | |
Hotel. | |
Wann sonst, wenn nicht in einem verpflichtenden Dienstjahr, kann man so | |
viel über sich, seine Vorlieben und seine Abneigungen lernen? Wie sonst | |
können selbst „schwierige“ Jugendliche, die von Eltern und anderen Personen | |
kaum mehr greifbar scheinen, positiv motiviert und „reintegriert“ werden? | |
Arbeitslosen jungen Menschen, die sich selbst schon aufgegeben haben, | |
könnte auf diese Weise die Idee einer lebenswerten Zukunft vermittelt | |
werden? | |
Und warum soll all das nicht auch auf junge geflüchtete Menschen zutreffen? | |
Warum lässt man sie nicht in Pflegeheimen und in Sportklubs arbeiten? In | |
Kitas kochen und für alte Menschen einkaufen? Natürlich kann man sie nicht | |
dazu verpflichten, erst recht nicht bei einem ungeklärten | |
Aufenthaltsstatus. Aber jemand, der beschäftigt ist und sich gebraucht | |
fühlt, hat einen positiveren Zugang zum Leben. Davon profitiert nicht die | |
Person, sondern in erheblichem Maße die Gesellschaft. | |
16 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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