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# taz.de -- Ein Kita-Quereinsteiger berichtet: Wir haben ja schon „Arsch“ g…
> Worum es wirklich morgens in Deutschland geht: Socken, Stuhlkreise und zu
> spät kommende Eltern. Und wie man sich als Erzieher durchwurschtelt.
Bild: Es geht auch ohne Regeltalks und erhobene Zeigefinger
Dingsbums hat ihre Stoppersocken verloren, und jetzt wünschte ich,
Dingsbumsens Mami stünde vor mir. Es steht aber Dingsbumsens Mama vor mir,
für die das mit den Stoppis echt ein Problem ist. Wobei es ausdrücklich
nicht ums Geld geht und auch nicht darum, Kindern irgendwelche erwachsenen
Ordnungsvorstellungen aufzudrängen. Es geht darum, dass Dingsbumsens Mama
in letzter Zeit schon ein bisschen darauf achtet, bewusster zu leben und
nicht immer alles gleich neu zu kaufen. Und ob das nicht Thema im
Morgenkreis sein könnte.
Ich wünsche mir, Dingsbumsens Mami stünde statt Dingsbumsens Mama vor mir,
weil die im Gegensatz zu ihrer Gattin ein entspanntes Verhältnis zu
verlorenen Stoppis hat. Sie hat überhaupt ein entspanntes Verhältnis zu
allem, weil sie, wie ich mit dem Kollegen mutmaße, ihren
Künstlerinnenalltag mit Gespielinnen zubringt, die ihr Weintrauben in den
Mund baumeln lassen, während sie mit blauer Gel-Brille die Puffäuglein vom
Kiffen bekämpft. Das nützt aber nichts. Immer wenn sie Dingsbums zu uns in
den Kila bringt und die Stoppis mal wieder weg sind, brummt sie mit
knallroten Augen und Knittergesicht bloß: „Das passt schon. Geht sie eben
barfuß.“ Und schlurft zurück in die Künstlerinnenbude zum Konsumieren, mit
Gespielinnen spielen und Kunst machen. Man merkt vielleicht, der Kollege
und ich sind neidisch, dass es kracht.
Der Kollege ist nämlich auch gar kein richtiger Erzieher, sondern so ein
quer eingestiegener Möchtegern wie ich. Eigentlich ist er Musiker. Wie ich
eigentlich Schriftsteller bin. Nur, ziemlich genau, seit man Kunst – echte
Kunst, unsere Kunst, nicht so Dingsbumsmamikunst – nicht mehr zu schätzen
weiß, herrscht auch Erzieher_innenmangel. Und der Berliner Senat nimmt
praktisch jeden, also auch so Kunstzottel wie uns.
Eine Prüfung muss man machen, klar, die Prüfung an der Erzieherfachschule.
Da wird schon Spezialwissen verlangt und man kann durchfallen. Aber wer wie
der Kollege und ich in langer Unizeit gelernt hat, zu praktisch jedem Thema
irgendwas Wohlklingendes daherzusagen, der kann auch in der mündlichen
Prüfung mal eben ein Projekt zum Thema „Tod und Sterben“ für die
Altersgruppe U3 entwerfen. Original wie im Hauptseminar. Nur ohne
Heidegger.
Manchmal habe ich etwas Impostor-Syndrom ob meiner wilden Ausbildung. Ich
habe also so Hochstaplerträume, wo rauskommt, dass ich in Wahrheit von
Pädagogik gar keine Ahnung habe, sondern mich jeden Tag nur so
durchwurschtle. Aber dann finde ich wieder, genau diese Wildheit und das
hemmungslose Durchwurschteln qualifizieren mich prima, mit fünfzehn
„Mäusen“, wie es in der Erzieher-Fachsprache heißt, umzugehen, die auch
immer wild am Wurschteln sind. Praktisch mit der ganzen Welt. Wurschtelort
Nummer eins ist der Morgenkreis.
## Bescheuert? – Ja, sagen die Mäuse
Fachfremde, das merke ich immer wieder, denken bei dem Wort an Fahnenappell
und Hitlergruß. Aber im modernen Morgenkreis kommen wir erst mal gemeinsam
an und singen was. „Stairway to Heaven“ mit einem neuen Piratinnentext zum
Beispiel.
Dann ist der Morgenkreis ein Gremium, in dem Themen der Eltern eingebracht
werden. Wie etwa Dingsbumsens Stoppis. Dass sie weg sind. Ob sie jemensch
gesehen hat. Nein, es hat sie niemensch gesehen. Auch nicht, forsche ich,
draußen? Weil ja gestern alle auf dem Spielplatz ihre Socken ausgezogen
haben. Mitnichten, so die Mäuse! Man habe ja wohl draußen keine Stoppis an.
Sondern normale Socken. Man sei ja nicht bescheuert. Außer Dingsbums, sagt
eins von den Kids. Weil die halt die Stoppis immer verliert. Ich wende ein,
das sei nicht bescheuert, das sei normal, ich würde auch ständig was
verlieren. Ob ich denn auch bescheuert sei.
Ja, sagen die Mäuse. Haha, sage ich. Der Kollege lacht aus vollem Herzen
mit. Was ich denn immer verlieren würde, wollen die Kids wissen. Ja, sage
ich. Geld. Auf dem Sofa. Es falle mir aus der Tasche. Da müsse ich mir mal
neue Hosen kaufen, so die Mäuse. Ich könne mir aber nicht jeden Tag neue
Hosen kaufen. Das koste Geld. Genau wie Stoppis übrigens. Und das sei der
Grund, warum Dingsbumsens Mama das jetzt geklärt haben wolle. Die könne
auch nicht beliebig Stoppis kaufen.
Wieso. Die sei doch reich. Die Kids, verblüfft. Wieso reich, will ich jetzt
meinerseits verblüfft wissen. Weil, so die Kids altklug, Dingsbumsens Mami
ja Künstlerin sei und den ganzen Tag kein Geld verdiene, und also die Mama
viel Geld nach Hause bringen müsse. Der Kollege kommt aus dem Lachen nicht
mehr raus.
Dann ist der Morgenkreis nämlich auch zum Spielen. Zum Beispiel
Schlüsselgespenst. Eine Maus oder ein Kid sitzt auf einem Stuhl mit einer
Decke drüber und einem Schlüssel drunter. Eine andere Maus oder ein anderes
Kid nimmt den Schlüssel heimlich an sich. Dann singen alle, dass der
Schlüssel weg sei, nämlich „versteckt und angeleckt“. Das Gespenst
versucht, durch Anschauen herauszufinden, wer den Schlüssel genommen und
angeleckt hat.
Kleinere Mäuse verraten umstandslos, wer ihn hat, weil es zu sehr quält,
wenn Fragen unbeantwortet bleiben. Dann gibt es Streit, weil das Spiel
durch das Verraten der Babys kaputt ist. Andere überlegen laut, warum der
Schlüssel eigentlich abgeleckt werde. Gespräche über Hygiene, Bakterien und
Welthaltigkeit von Kunst – „Nein, der Schlüssel wird nicht wirklich
abgeleckt, auch wenn das in dem Lied … hey, hör bitte auf, den Schlüssel
abzulecken!“
## Eltern hassen uns
Es klopft. Wieheißternoch und sein Papa stecken den Kopf rein. Einzelne
Kinder nutzen die Gelegenheit zum Aufbruch. Man wolle jetzt eh Bobbycar
fahren. Morgenkreis sei eh Arsch. Wieheißternoch fängt an zu weinen, da er
sich nicht gern trennt, und sein Papa macht ein bedenkliches Gesicht, weil
er sich auch nicht gern trennt. Der Kollege seufzt, steht auf, sagt zum
Papa: „Du, ich unterstütze dich auch bei der Trennung, wenn du nicht zu
spät kommst“, und der Papa wird rot, weil er ertappt ist. Eltern hassen ja
uns Profis, weil wir ihre billigen Manöver durchschauen. Immerhin haben wir
das mal gelernt. Mit Durchwurschteln, Ausweichen, Improvisieren und über
die eigenen Füße stolpern kennen wir uns von Berufs wegen aus.
Der ganze Morgenkreis löst sich auf, und ich will über Regeln reden. Dass
man während des Morgenkreises nur leise Bobbycar fahren darf, dass wir
nicht „Arsch“ sagen und dass wir nicht zu spät kommen. Zum Glück bin ich
Profi genug, um mir gleich selber zu sagen, dass man überhaupt nicht leise
Bobbycar fahren kann, dass wir ja offensichtlich schon „Arsch“ sagen und
dass Wieheißternoch ja schon zu spät gekommen ist. Also kein Regeltalk.
Da ist eben der Unterschied zu Fahnenappell und Hitlergruß. Da hätte
Wieheißternochs Papa mal zu spät kommen sollen. Da hätte ihn der
Obergruppenführer nicht getröstet. Oder vielleicht doch, wenn der
Obergruppenführer eigentlich Künstler gewesen wäre. Wie Hitler ja auch …
Und schon geht’s wieder los, das Durchwurschteln in Gedanken.
Wir lernen aus dem modernen Morgenkreis, dass bei all den unterschiedlichen
Interessen eigentlich nur noch Improvisieren geht. Durchwurschteln. So tun
als ob. Mit viel Liebe und unter Hintanstellen der Regeln. Wir haben es
alle nicht leicht und wollen gesehen werden. So wie Wieheißternochs Papa.
Und eigentlich wollen wir alle nur mit Gel-Brille und Gespielinnen aufs
Sofa. Wie Dingsbumsens Mama. Und dass man das vermittelt, mit Blick aufs
Kind und einem guten Gespür für die eigenen Grenzen, ohne Hitlergruß, das
ist schon in a nutshell die Pädagogik 4.0 für die
Dienstleistungsgesellschaft von heute.
Die Stoppis waren natürlich, wie immer, in der Verkleidungskiste.
15 Dec 2018
## AUTOREN
Jasper Nicolaisen
## TAGS
Kita
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Pädagogik
Kinder
Schule
Sozialarbeit
Kitas
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