# taz.de -- Debatte um Dienstpflicht: Die Pflicht als Freiheit | |
> Die Idee eines verpflichtenden sozialen Jahres empfinden viele als | |
> Zumutung. Dabei könnte es wie Kitt in einer gespaltenen Gesellschaft | |
> wirken. | |
Bild: War nicht freiwillig, aber horizonterweiternd: Zivildienst in einem Klini… | |
Annegret Kramp-Karrenbauers Idee, eine Dienstpflicht einzuführen, ruft | |
wütenden Widerspruch hervor. Pflichtdienste seien „vergangenes | |
Jahrhundert“, kritisierte der Linke Dietmar Bartsch. Er bekam ausgerechnet | |
Zustimmung von FDP-Chef Christian Lindner, der „Freiheitsentzug und eine | |
Verschwendung von Lebenszeit“ geißelte. In sozialen Netzwerken tobte ein | |
Shitstorm gegen den [1][vermeintlichen Zwangsdienst]. | |
Interessant ist, dass die Idee der CDU-Chefin auch von jenen verdammt wird, | |
die darüber klagen, dass die Gesellschaft auseinanderdrifte, dass sich die | |
Mittelschicht nach unten abgrenze, dass das Verständnis für alles jenseits | |
der eigenen Blase schwinde. Solche Tendenzen zu problematisieren, aber | |
[2][gegen ein soziales Jahr] zu sein, passt schlecht zusammen. Eine | |
Dienstpflicht brächte junge Leute dazu, etwas fürs Gemeinwohl zu tun. | |
Sie könnten sich in Naturschutzgebieten, Krankenhäusern oder Pflegeheimen | |
engagieren – und dort andere Lebenswelten kennenlernen. Die Welten alter | |
oder kranker Menschen, von Menschen mit Behinderungen, von Leuten also, die | |
gewöhnlich am Rand stehen. Ein soziales Jahr, ordentlich bezahlt und klug | |
organisiert, kann wie Kitt in einer fragmentierten Gesellschaft wirken. | |
Weil es Wissen vermittelt, Verständnis füreinander weckt und Leute | |
zusammenbringt, die sonst nie zusammenkämen. | |
Bevor jetzt der Verdacht aufkommt, da erzähle ein mittelalter Typ der | |
jungen Generation, was sie zu tun habe („Okay, Boomer!“): Ich habe meinen | |
Zivildienst als Krankenwagenfahrer und Fahrer für Menschen mit | |
Behinderungen Mitte der 90er beim Malteser Hilfsdienst geleistet. Diese 15 | |
Monate waren eine in jeder Hinsicht wertvolle Erfahrung. | |
## Warum soll das eine Zumutung sein? | |
Ich trug gebrechliche, alte Damen und Herren Treppen hinunter, hielt auf | |
dem Weg ins Krankenhaus viele Hände, hörte Geschichten über Einsamkeit und | |
Verzweiflung und wischte auch mal Erbrochenes auf. Oder ich lachte mich mit | |
den coolen Typen kaputt, die ich frühmorgens abholte und zu ihrer | |
Arbeitsstätte fuhr. Und die nun mal zufällig mit einer geistigen | |
Behinderung im Rollstuhl saßen. Mein Horizont wurde erweitert, radikaler, | |
als es bei jedem Interrail-Selbstfindungstrip der Fall gewesen wäre. | |
Ob ich den Zivildienst freiwillig angetreten hätte? Nein, wahrscheinlich | |
nicht. Beliebt war der Dienst nicht bei jenen, denen er bevorstand. Wie die | |
meisten meiner Kollegen hätte ich lieber die Gelegenheit genutzt, früher | |
studieren zu gehen/die Lehre konsequenter durchzuziehen/durch die Welt zu | |
reisen. Im Nachhinein sehe ich es anders. | |
Lässt sich eine Pflicht, Gutes zu tun, mit dem Selbstbestimmungsrecht des | |
Einzelnen vereinbaren? Es gebe ja bereits die Möglichkeit, freiwillig ein | |
soziales Jahr zu leisten, betonen die KritikerInnen. Das stimmt, der | |
Bundesfreiwilligendienst funktioniert, auch wenn er viel mehr offene | |
Stellen als NachfragerInnen registriert. | |
Erlaubt sei aber eine Gegenfrage: Warum wird eine Pflicht als solche | |
Zumutung empfunden? Kinder werden heutzutage von klein auf in einen | |
neoliberalen Wettbewerb gehetzt. Frühbildung in der Kita, Englisch in der | |
Grundschule, G8 und Bachelor im Sauseschritt. Alles zielt darauf, dem Markt | |
schnell Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. | |
## Wertschätzung für andere Lebensentwürfe | |
Unsere Gesellschaft gibt sehr viel auf persönliche Freiheit. Aber sie | |
gesteht sich nicht ein, welch unerbittliche Pflicht dahintersteckt, nämlich | |
die der kapitalismuskonformen Selbstoptimierung. | |
Ein soziales Jahr wäre eine Pause im Rattenrennen. Eine verordnete Pause, | |
ja, aber eine bereichernde. In einer Instagram-Gesellschaft, in der lässig | |
performte Perfektion die Norm zu werden droht, also ein perverser | |
Gruppendruck herrscht, können Pflichten etwas Entlastendes sein. Zu wissen, | |
dass man ein Jahr lang entspannt etwas Sinnvolles tun kann, das kann man | |
als Zwang verstehen. Oder als Erleichterung. Pflichten können auch ein | |
Freiheitsgewinn sein. | |
Wertschätzung für andere Lebensentwürfe ist eine nötige Voraussetzung für | |
ein gedeihliches Miteinander. Erfolgreiche Menschen, die sich daran | |
erinnern, dass es Hilfsbedürftige gibt, gehen pfleglicher miteinander um. | |
Damals beim Malteser Hilfsdienst waren alle sozialen Schichten vertreten: | |
Der Abiturient arbeitete mit dem Hauptschüler, der künftige | |
Soziologiestudent mit dem künftigen Handwerker. Wir haben gelernt, dass | |
auch Leute ganz anderer Herkunft klug, freundlich und lustig sein können. | |
Oder, anders herum, dass beim Arschlochsein der Schulabschluss keine Rolle | |
spielt. | |
Ist das nun „vergangenes Jahrhundert“, wie Dietmar Bartsch meint? Sicher, | |
die Hürden im Grundgesetz für eine solche Dienstpflicht sind hoch, zu | |
Recht. Kramp-Karrenbauers Vorschlag müsste tiefgehender diskutiert werden, | |
sie hat ja nicht mehr als einen Denkanstoß geliefert. Auch ist eine | |
Mehrheit für eine Grundgesetzänderung nicht in Sicht. | |
## Blick über den Tellerrand für alle | |
Aber die Vorstellung, der Staat dürfe den BürgerInnen keine Pflichten | |
auferlegen, ist realitätsfremd. Selbstverständlich kann eine demokratische | |
Mehrheit Einzelne zu etwas verpflichten, wenn sie es als sinnvoll erachtet. | |
Beim Thema Steuern verlässt sich der Staat auch nicht auf das | |
Goodwill-Prinzip, auch wenn Superreiche gerne argumentieren, sie spendeten | |
ja schon genug Geld. | |
Und die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre war nichts anderes | |
als die Pflicht, länger zu arbeiten. Wo war damals der Protest von | |
Christian Lindner? | |
Eine Dienstpflicht hätte nicht zuletzt egalitären Charakter. Bisher gönnen | |
sich die Jugendlichen, die es sich leisten können, ein Jahr zur | |
Selbstfindung nach der Schulzeit. In der gut verdienenden Mittelschicht ist | |
es gang und gäbe, den Nachwuchs ein Jahr ins Ausland zu schicken. | |
Eine Dienstpflicht wäre der Blick über den Tellerrand für alle. Sollte man | |
als Linker nicht dankbar sein, dass sich eine Konservative mit solchen | |
Ideen profiliert, statt über Abschiebungen von Geflüchteten zu sinnieren? | |
23 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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