| # taz.de -- Debatte Deutschlands Außenpolitik: Es geht um Interessen, nicht We… | |
| > Die USA handeln verstörend, aber Antiamerikanismus ist dumm. Und deutsche | |
| > Entspannungspolitik geht nur mit Washington und mit Moskau. | |
| Bild: Es ist auf jeden Fall besser zusammen zu arbeiten. | |
| Das verlässlichste Fundament der Außenpolitik bietet die Geografie. Amerika | |
| bleibt ein unentbehrlicher Faktor, Russland ist unverrückbar, und Europa | |
| mit Deutschland in der Mitte bildet den Kern unserer Interessen. Die vielen | |
| Krisen, die sich überlappen, können eskalieren, schwer beherrschbar sogar | |
| zu der Gefahr für den Frieden zu werden. Es würde wenig helfen, nach den | |
| Ursachen zu forschen oder gar Schuldzuweisungen vorzunehmen. | |
| Ohne Amerika säßen wir heute nicht im Berliner Hotel Adlon, das bekanntlich | |
| im sowjetisch besetzten Sektor lag. Berlin ist die Wiege, in der aus dem | |
| Sieger ein Freund wurde. Nach der Wahl von Willy Brandt zum Bundeskanzler | |
| wurde Washington über das Konzept unserer Ostpolitik informiert, noch vor | |
| dem Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit. Ohne US-Rückendeckung hätte | |
| es die deutsche Entspannungspolitik nicht gegeben. Deutschland und Amerika | |
| – das wurde zu einer festen Bank, auch emotional. Wer auch immer dort und | |
| hier regierte. | |
| Das gegenseitige Vertrauen bewährte sich, als die deutsche Einheit möglich | |
| wurde. Auf dieser Seite des großen Teiches, zu dem der Atlantik geschrumpft | |
| ist, ist nichts passiert, was zu den Vorgängen in den Vereinigten Staaten | |
| geführt hat. Seit Monaten reißen die alarmierenden Berichte nicht ab, von | |
| amtlichen Verfehlungen, Folterungen, außenpolitischen Unberechenbarkeiten. | |
| Es ist schrecklich, wie zerstörerisch mit Vertrauen und Neigungen | |
| umgegangen wird. Ich leide darunter. | |
| Nach seiner ersten Wahl zum US-Präsidenten hat Barack Obama erklärt, die | |
| amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik, die seit dem Ende des Krieges | |
| auf Konfrontation zur Sowjetunion angelegt war, auf Zusammenarbeit | |
| auszurichten. Alle großen Aufgaben des neuen Jahrhunderts verlangten | |
| Kooperation. Damit wurde er zum Hoffnungsträger und mit dem | |
| Friedennobelpreis ausgezeichnet. | |
| ## Antiamerikanismus ist dumm | |
| Beide Länder brauchen ihre Zusammenwirkung im Nahen Osten, im Irak, für den | |
| Iran, um die Atomenergie auf garantierte friedliche Nutzung begrenzen zu | |
| können, im Kampf gegen den islamischen Terrorismus. Dabei wird es mehr um | |
| Interessen als um Werte gehen. Der Irrglaube einer Wertegemeinschaft mit | |
| Amerika ist schon während des Kalten Krieges zerbrochen. | |
| Die Unterschiede der Werte sind teils zugedeckt worden, teils nicht ins | |
| Bewusstsein gerückt. Das nationale Interesse der USA ist von der | |
| moralischen Gewissheit durchdrungen, das auserwählte Volk Gottes zu sein. | |
| Nationalbewusstsein und Sendungsbewusstsein sind unlöslich verschmolzen. Es | |
| wäre sinnlos, das zu kritisieren, weil es von europäischen Vorstellungen | |
| abweicht. Die amerikanische Position stellt einen moralischen Maßstab dar, | |
| der nicht verhandelbar ist. | |
| Das entspricht auch der amerikanischen Haltung, sich nicht durch fremde | |
| Ordnungen binden zu lassen. Das hat mit Macht und weniger mit Werten zu | |
| tun. Die Globalmacht USA wird sich nur binden, wo ihr Interesse dazu rät. | |
| Sie wird insgesamt ihre Politik der freien Hand verfolgen, um ihren | |
| Einfluss zu vergrößern. Eine Supermacht lässt sich auch nicht durch eine | |
| schwerfällige Organisation wie die UN von der Verfolgung ihrer Interessen | |
| abhalten. | |
| Die Erkenntnis begann zu wachsen, dass die Selbstbestimmung Europas nach | |
| dem Ende der Sowjetunion nur noch als Emanzipation von Amerika stattfinden | |
| kann. Unsere Selbstbestimmung steht neben und nicht gegen Amerika. Sie | |
| hindert nicht die wirtschaftlichen Verflechtungen, die Pluralität der | |
| Demokratie, die kulturelle Verflochtenheit. Kurz: Zwischen keinen anderen | |
| Kontinenten gibt es eine vergleichbare Enge der Beziehungen. Die Realität | |
| verbietet Antiamerikanismus. Er ist dumm. | |
| ## Stabilität und Frieden | |
| Die deutsche Entspannungspolitik hatte zwei Voraussetzungen. Die erste: Sie | |
| begann in Washington. Die zweite: Sie konnte nur mit Moskau stattfinden. | |
| Wir haben uns sofort auf die Verbesserung der Beziehungen zwischen unseren | |
| beiden Staaten konzentriert und ideologische Fragen ausgeklammert. | |
| Humanitäre Angelegenheiten kamen nicht auf offener Bühne auf den Tisch. | |
| Aber es gab Ergebnisse. Menschenrechte als Keule sind von jeher nicht | |
| überzeugend erfolgreich gewesen, besonders wenn sie zu Hause innenpolitisch | |
| wirken sollen. | |
| Das Konzept war, auf unserem Kontinent eine Stabilität zu schaffen, die | |
| unabhängig von aktuellen Schwierigkeiten Frieden garantiert, unter | |
| Einbindung Amerikas. Diese Politik kann nicht so schlecht gewesen sein, was | |
| ihre Dauer und ihre Ergebnisse ausweist. | |
| Der Nationalstaat wird noch lange unentbehrlich sein. Zugleich hat er sich | |
| überlebt, weil er die Sicherheit seiner Menschen nicht allein garantieren | |
| kann und seine Souveränität zunehmend mit internationalen Organisationen | |
| teilen muss. Nationalstaat und übernationale Bindungen schließen sich nicht | |
| aus. | |
| Noch immer kann niemand ein Datum nennen, wann Europa mit einer Stimme | |
| spricht. Was ist Europa und woran liegt es, dass es sein Ziel, Pol in der | |
| interpolaren Welt zu werden, akademisch wiederholt, aber praktisch nicht | |
| verfolgt? | |
| ## Zusammenarbeit gegen globale Probleme | |
| Die politische Szenerie hat sich in kurzer Zeit beunruhigend | |
| verschlechtert. Der Blick in die Medienlandschaft legt es nahe, einige | |
| Realitäten in Erinnerung zu rufen. | |
| Zunächst: Russland ist nicht Mitglied der Nato, die Ukraine auch nicht. Wie | |
| beide Länder miteinander umgehen, kann uns nicht gleichgültig lassen, auch | |
| wenn keine Aktion gemeldet worden ist, durch die das Territorium des | |
| Bündnisses auch nur um einen Zentimeter verletzt worden ist. Der | |
| Ausgangspunkt westlicher Entrüstung ist die russische Annexion der Krim. | |
| Sie stellt auch nach meiner Auffassung eine Verletzung internationaler | |
| Verträge dar, die nicht anerkannt werden kann. | |
| Ich habe eine solche Forderung aus Moskau übrigens nicht gehört. Das war | |
| 1970 anders. Bonn hat eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR abgelehnt. | |
| Brandt hat sie als Staat bezeichnet, der für uns nicht Ausland sein kann. | |
| Das bedeutete de facto die Respektierung der DDR als Staat. Diese | |
| Respektierung war 20 Jahre lang der völkerrechtliche Rahmen der gesamten | |
| Ostpolitik für viele Verträge und internationale Abkommen. Die | |
| Respektierung der russischen Krim wäre eine Analogie auch ohne zeitliche | |
| Begrenzung. | |
| Die Rivalität zwischen Washington und Moskau in Europa ist das Grundthema | |
| seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Vom Kalten Krieg und | |
| unterschiedlichen Arten von Koexistenz blieb das übergeordnete Interesse | |
| bestehen: kein unberechenbar offener Krieg. Beide brauchen ihr | |
| Zusammenwirken für die globalen offenen Probleme. | |
| ## Historischer Wendepunkt | |
| Seit Obama Russland zur Regionalmacht abgewertet hat, verstehe ich | |
| natürlich die Schwierigkeit, das zu revidieren. Aber ich verstehe eben auch | |
| Putin, nun erst recht zu beweisen, was alles nicht gegen ihn und ohne ihn | |
| möglich ist. | |
| Die Menschheit steht an einem historischen Wendepunkt, stellt der ehemalige | |
| amerikanische Außenminister Henry Kissinger fest und fordert eine neue | |
| „Weltordnung“. Ihre Grundsätze leitet er von den Regeln des Westfälischen | |
| Friedens ab, der Souveränität der Staaten und der Nichteinmischung in ihre | |
| inneren Angelegenheiten. Frieden verlangt danach auch den Respekt vor | |
| Staaten, die nach westlicher Auffassung keine Demokratie sind, und den | |
| Respekt, dass jeder Staat über seine innere Ordnung entscheidet. Für | |
| Saudi-Arabien und China ist das Realität. Das als globales Denken in | |
| globalen Fragen zu verallgemeinern fällt schwer. | |
| Wir sollten uns darauf konzentrieren, zu Russland verlorenes Vertrauen | |
| wiederherzustellen. Diese Phase könnte man als kooperative Existenz | |
| bezeichnen. Dieses über bloße Koexistenz hinausgehende Konzept gestattet | |
| den gezielten Ausbau unserer Zusammenarbeit. Das gilt auch für das Thema | |
| von Energielieferungen. Sie treffen die Interessen beider Seiten und | |
| fördern Stabilität in Europa. | |
| ## Gemeinsamer Feind IS | |
| Nach Erfüllung der Minsker Abmachungen sollten deutsche Initiativen den | |
| Nato-Russland-Rat wieder beleben, um permanente Abstimmungen über | |
| Sicherheitsfragen zu gestatten. Wenn Putin nach dem europäischen Modell | |
| Russland und die ehemaligen Staaten der Sowjetunion zu einem Organismus | |
| formen will, dann eröffnet sich eine Perspektive des stabilen Friedens für | |
| einen Raum zwischen den Ozeanen. Praktische Vorbereitungen, wie aus der | |
| Idee ein Programm wird, sollten beginnen, sobald die Ukrainekrise dauerhaft | |
| entschärft ist, vielleicht schon parallel dazu. | |
| Zum Schluss: Rücksichtslosigkeit und Maßlosigkeit, mit der sich der | |
| „Islamische Staat“ mit dem Anspruch des Kalifats von der zivilisierten Welt | |
| abgekoppelt hat, machen einen Konflikt unausweichlich. Obama hat mit Recht | |
| erläutert, dass der Westen nicht gegen den Islam kämpft, aber sich im Krieg | |
| gegen den IS befindet. | |
| Dieses Problem hat nicht nur Europa bis an seine Ostgrenze, sondern auch | |
| Russland über seine Grenzen hinweg. Alle Staaten der ehemaligen Sowjetunion | |
| bis an die chinesische Grenze haben unterschiedlich starke Gruppen von | |
| Moslems, die sich zum IS bekennen und Kämpfer des Kalifen werden wollen. | |
| Die Zahl derer, die nach Syrien und in den Irak streben, ist mindestens | |
| gleich groß, wahrscheinlich größer als die Zahl dieser Aktivisten aus | |
| Westeuropa. In diesem unausweichlichen Krieg wird Putin zum potenziellen | |
| Verbündeten. | |
| Bearbeitung: Bettina Gaus | |
| 3 Apr 2015 | |
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| Egon Bahr | |
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