| # taz.de -- Ein Jahr Beitritt der Krim zu Russland: Eine beschwerliche Reise | |
| > Wie hat sich das Leben auf der zur Ukraine gehörenden Halbinsel | |
| > verändert, seit sie russisch wurde? Unsere Autorin traf Menschen auf der | |
| > Krim. | |
| Bild: Er feiert, andere hingegen nicht: bei den Festivitäten zum 1. Jahrestag … | |
| SIMFEROPOL taz | „Endstation, alles austeigen!“, tönt es im Zug | |
| Kiew–Simferopol. Aber in Wirklichkeit hält der Zug nicht in Simferopol, | |
| sondern in Nowoaleksijiwka, dem letzten Städtchen auf der ukrainischen | |
| Seite. Bis Simferopol sind es noch 160 Kilometer. Die Menschen, die auf den | |
| Bahnsteig strömen, werden von Taxifahrern regelrecht umworben. Das Wetter | |
| ist grauenvoll, ein paar Grad über null, der Regen gefriert zu Eis. Etwa | |
| hundert Personen machen sich mit Bussen oder Taxis auf den Weg zu einem | |
| Grenzposten. Nur die mutigsten trauen sich die Grenze zu Fuß zu passieren. | |
| Ich bin auch dabei. Die Kofferräder bleiben immer wieder im Schlamm | |
| stecken. Jetzt verstehe ich, warum hier robuste Schuhe und Kleidung im | |
| Einsatz sind. Nachdem wir fünf Kilometer Pufferzone über die verminte | |
| Brücke (Sicherheitsmaßnahme, versteht sich!) zurückgelegt haben, erblicken | |
| wir endlich die lang ersehnte Aufschrift „Krim“. | |
| Das Prozedere der Grenzüberquerung ist festgelegt: Erst zehn Passanten, | |
| dann drei Pkws, anschließend ein paar Laster – allein davon zähle ich 224 | |
| Stück. Also stehe ich, dem eisigen Wind preisgegeben, im offenen Feld und | |
| warte, bis ich in die erträumte 10er Gruppe aufgenommen werde. Eine Stunde, | |
| zwei … Zuerst warten die Menschen geduldig. Dann aber, wenn in den Koffern | |
| nichts mehr ist, was sie sich noch überziehen könnten, wird der Unmut laut. | |
| Der eine flucht über „neue Machtinhaber“, der andere schwärmt von der | |
| leckeren billigen Wurst, die er vom Festland eigentlich als Souvenir | |
| mitgebracht hat. | |
| Nach dem Grenzübertritt geht es weiter mit dem Taxi. Erst neun Stunden nach | |
| der Ankunft in Nowoaleksijiwka, kommen die Menschen endlich in Simferopol | |
| an, verdreckt, hungrig und todmüde. Der Bahnhof hier ist gespenstig leer, | |
| nur einzelne verrostete Güterwagen stehen herum. Auf den ersten Blick hat | |
| sich in der Stadt im letzten Jahr nicht viel getan, bis auf die Fahnen, die | |
| jetzt drei- statt zweifarbig sind. Aber wer genauer hinguckt, sieht, dass | |
| sich das Leben grundlegend geändert hat. | |
| ## „Ich muss lernen, hier zu überleben“ | |
| Emile, die in Wirklichkeit anders heißt, ist Krimtatarin und unterrichtete | |
| zuletzt Ukrainisch an einer Schule. Im August teilte ihr der Schuldirektor | |
| mit, dass er sie so nicht mehr beschäftigen kann. Ihr fehlte vermutlich der | |
| Mut, aufs Festland zu ziehen, sagt sie. Es sei nicht so einfach, ein neues | |
| Leben aufzubauen. Außerdem seien ihre Eltern hiergeblieben. „Das heißt | |
| nicht, dass ich alles, was hier passiert, einfach hinnehme, das werde ich | |
| auch niemals tun. Aber ich muss lernen, hier zu überleben“, sagt sie. | |
| Emile nimmt jetzt an einem Umqualifizierungskurs teil. In einem Jahr | |
| bekommt sie das Diplom einer Russischlehrerin. Bis dahin unterrichtet sie | |
| an ihrer alten Schule Wirtschaftslehre. Vor ihr sitzen dieselben Kinder wie | |
| zuvor. | |
| Ortswechsel, 8. März: Der Strand von Aluschta ist voller festlich | |
| gekleideter Menschen. Der Internationale Frauentag zählt nach wie vor zu | |
| den beliebtesten Highlights des Jahres. Von überall hört man Russisch mit | |
| typischem Moskauer Akzent, ein Akkordeonspieler gibt populäre | |
| Sowjetschlager zum Besten, die Passanten werfen ihm Münzen zu. Alles | |
| strahlt Ruhe und Wonne aus, nur das stürmische Meer kratzt am idyllischen | |
| Bild. | |
| Eines der vielen Strandcafés ist überfüllt. Fast scheint es, als wäre die | |
| These der touristenfreien Krim eine Verleumdung. Ich vernehme ein paar | |
| Fetzen, die mich aufhorchen lassen. „Es ist ein wahres Märchen hier! Ich | |
| fühle mich zurück in die Krim meiner Jugend versetzt. Welch Glück, dass wir | |
| diese Rabatttickets hierher ergattert haben!“ Ich schaue genauer hin. Eine | |
| Oma stolziert eingehakt bei ihrem Mann an mir vorbei. Plötzlich kapiere | |
| ich, dass all diese Flaneure, all die Touristen lauter solche Omas und Opas | |
| sind. | |
| Alexander arbeitet seit zehn Jahren als Journalist auf der Krim. Er ist | |
| einer der wenigen, die nach der Krim-Annexion ihre Arbeit hier fortgesetzt | |
| haben. Sein Verlag wurde im März, im Zuge der Besetzung der | |
| Stadtverwaltung, geschlossen. Die Belegschaft wurde als Verräter und | |
| Agenten westlicher Spezialdienste verschrien. „Ich kann hier nicht einfach | |
| wegfahren und die Menschen im Informationsvakuum zurücklassen. Ich versuche | |
| weiterzumachen, obwohl es mit jedem Tag schwieriger und gefährlicher wird.“ | |
| ## Die letzte ukrainische Aktion auf der Krim | |
| Am 9. März findet in Simferopol ein traditionelles Treffen zu Ehren des | |
| Geburtstages des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko statt. | |
| Vor einem Jahr sind zu dieser Veranstaltung ungewöhnlich viele Menschen | |
| zusammengekommen. Bis zu dem „Referendum“ blieb damals nur eine Woche, die | |
| Leute wollten ihre Sorge und Solidarität zum Ausdruck bringen. Allen war | |
| klar, dass es sich um die letzte ukrainische Aktion auf der Krim handelte. | |
| In diesem Jahr wurde den Organisatoren die offizielle Genehmigung verwehrt. | |
| Es sind trotzdem 20 bis 30 Teilnehmer gekommen. | |
| Schließlich wurden drei Aktivisten verhaftet. Die Begründung: Gebrauch | |
| verbotener Symbolik – dazu zählen auf der Krim heutzutage bereits | |
| ukrainische Fahnen. Die Aktivisten haben Zivilstrafen bekommen, die | |
| Arbeitsstelle des Organisators Leonid Kusjmin wurde „wegen der Verstöße | |
| gegen die Werte des russischen Staates“ gekündigt. | |
| Die Mehrheit der Krimbewohner ahnt nicht einmal, was sich auf der Krim | |
| tatsächlich abspielt, und zwar aus dem einfachen Grund: Die Medien | |
| berichten entweder gar nichts darüber berichten oder spielen es herunter. | |
| Die Leute werden von anderen Sorgen geplagt, wie etwa eine medizinische | |
| Versicherung abzuschließen, ein Bankkonto zu eröffnen oder einen | |
| funktionierenden Mobilfunkanbieter zu finden. Die russischen Strukturen | |
| haben sich tief in der Krim-Wirklichkeit eingenistet, aber vom alten | |
| Komfort im Alltagsleben oder gar von Verbesserungen kann keine Rede sein. | |
| ## Die Euphorie ist gewichen | |
| Erstaunlich, wie rasant sich die Meinung der Menschen gewandelt hat. Immer | |
| öfter hört man zaghafte Repliken wie „In der Ukraine war es besser“ – | |
| „Früher musste ich nicht jede Kopeke zweimal umdrehen“ oder „Früher kon… | |
| ich von meiner Rente noch etwas zurücklegen, jetzt reicht es gerade mal für | |
| drei Wochen“. Aber bereits im nächsten Augenblick hört man die gleichen | |
| Menschen wieder TV-Floskeln nachsprechen: „Wir haben mit der Ukraine | |
| getrennte Wege, denen geht es jetzt viel schlimmer“ oder „Hauptsache, wir | |
| haben keinen Krieg. Danke dafür, Russland!“ Die Euphorie ist gewichen. | |
| Breitgemacht hat sich die russische Wirklichkeit, die sich von der | |
| ukrainischen nicht sonderlich unterscheidet. | |
| Der Krimtatar Dhemil trägt gerade den Putz an der Mauer seines Hauses auf, | |
| als wir uns ihm nähern. „Schon wieder diese Journalisten!“, brummt er auf | |
| unsere Begrüßung zurück. „Was habt ihr hier alle vergessen? Zahnlos und | |
| zungenlos, wie ihr seid, ihr könnt doch gar nichts machen.“ Dhemils Haus | |
| steht am Rand von Simferopol mitten auf einem Feld, wo Krimtataren vor ein | |
| paar Jahren Häuser ohne Baugenehmigung errichtet haben. Laut Gesetz müssen | |
| sämtliche Bauten ohne Genehmigung abgetragen werden. | |
| Als ich ihn darauf anspreche, wird er wütend: „Unsere Häuser abtragen? Nur | |
| über meine Leiche! Ich habe an diesem Haus mein ganzes Leben lang gebaut. | |
| Ich habe zwei Töchter, sie müssen mit ihren Familien irgendwo leben. Wenn | |
| die Machtinhaber einen solchen offenkundigen Terror gegen uns entfesseln, | |
| werden wir uns wehren müssen.“ | |
| Derweil laufen die Vorbereitungen auf die Feierlichkeiten zum Anlass des | |
| Krimbeitritts auf Hochtouren. Zum 1. Jahrestag des „Referendums“, der zu | |
| einem Feiertag erklärt wurde, ist eine Parade geplant. Den Klassenlehrern | |
| ist nahegelegt worden, Spezialveranstaltungen zu diesem Thema zu | |
| organisieren und Vertreter der Bürgerwehr einzuladen, damit sie den Kindern | |
| erzählen können, wie alles vor einem Jahr gelaufen ist. | |
| Auf der Krim gibt es zwei Wirklichkeiten: Menschen, die mit ihren | |
| Alltagsproblemen ringen, und Menschen, die in ständiger Angst leben, dass | |
| sie die nächsten sein können, die abgeholt werden. | |
| Früh morgens weckt mich Alexander mit einem Anruf. Er erzählt mir, dass der | |
| Russische Sicherheitsdienst FSB gerade bei einer Kollegin, die so wie er | |
| nicht aufs Festland gezogen ist, eine Hausdurchsuchung macht. Sie ist | |
| verhaftet worden. Alexander sagt, er sei als Nächster dran. | |
| Aus dem Russischen: Irina Serdyuk | |
| 18 Mar 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Ana Maga | |
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