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# taz.de -- Rüstungsbetrieb im Ukrainekonflikt: Drohungen und Prügel anstatt …
> Weil Russland nicht mehr bei einem Raketenbauer kaufen will, bekommen die
> Angestellten kein Gehalt mehr. Sie gründen eine Gewerkschaft.
Bild: Werkshalle des Raketenherstellers Juschmasch.
DNIPROPETROWSK taz | Kurz vor der Kreuzung hält die Fahrerin der
Straßenbahn in der ostukrainischen Metropole Dnipropetrowsk an. Mit einem
Stemmeisen in der Hand steigt sie aus. Hier muss die Weiche noch von Hand
umgelegt werden. Für moderne Technik im öffentlichen Nahverkehr fehlt der
Stadt das Geld.
Dnipropetrowsk ist eine Stadt der Gegensätze. Viele Juwelierläden und noch
mehr Obdachlose. In der Voksalnaja-Straße Nr. 5 hat die Gewerkschaft
„Schutz der Arbeit“ der Arbeiter und Angestellten der staatlichen
Raketenfabrik Juschmasch eine vorläufige Bleibe gefunden.
Wer es über ein heruntergekommenes Treppenhaus in den obersten Stock
geschafft hat, dem öffnet sich hinter einer quietschenden Holztür ein Gang.
Dort kommt der Putz von den Wänden, riesige Ringe an der Decke zeugen von
häufigen Wasserrohrbrüchen.
Im Büro Nr. 302 haben sich die Kolleginnen und Kollegen niedergelassen.
Zwischen alten IBM-Computern, einem japanischen Tintenstrahldrucker,
Aktenordnern, Fahnen, Transparenten und Fabrikarbeiterhelmen diskutieren
zehn Mitglieder der Gewerkschaft über ihre nächsten Aktionen.
## Fünf Monate ohne Lohn
Eine von ihnen ist die 30-jährige Anja. Seit fünf Monaten hat sie keinen
Lohn mehr erhalten. „Sie sagen, sie können nicht bezahlen, weil alles im
Land instabil sei. Ich sage ihnen: Mein Recht auf Lohn ist stabil, der
Hunger meiner Tochter ist stabil, der Wunsch nach Wasser, Strom und Heizung
ist stabil.“ Es könne doch nicht sein, dass der Staat der Privatbank ein
Rettungspaket von fast einer Milliarde Euro geschnürt habe, aber nicht das
Geld für die Löhne in einer seiner Fabriken aufbringe.
Kein Beschäftigter des staatlichen Raketenbauers Juschmasch ist in den
letzten fünf Monaten bezahlt worden. Seit die Aufträge aus Russland
ausbleiben, steckt der Konzern in einer schweren Krise. Heute produziert er
nur noch ein Viertel dessen, was er 2011 herstellte. Zuletzt gab die
russische Raumfahrtbehörde bekannt, dass sie keine Zenit-Trägerraketen mehr
kaufen wolle. Juschmasch steht vor dem Aus.
Jewgenij Derkatsch ist als CNC-Programmierer einer der höchstqualifizierten
Ingenieure in der Stadt. Doch für seine 3-Tage-Woche hat er, als Juschmasch
noch zahlte, gerade einmal monatlich 50 Euro bekommen. Seit er sich für die
Interessen seiner Kolleginnen und Kollegen engagiere, erhalte er Drohungen,
sagt er der taz. Man bezeichne ihn als „Agenten Moskaus“ oder werfe ihm
vor, „von den USA gekauft“ zu sein. Am 18. Februar hatte ein angeblicher
Journalist angerufen und ihn um ein Interview gebeten. Als Derkatsch zum
vereinbarten Treffpunkt erschien, stiegen vier vermummte Männer aus einem
Auto und schlugen den Aktivisten zusammen. Eine Woche lag er im
Krankenhaus.
## Eigene Gewerkschaft
Am heutigen Donnerstag wollen die Beschäftigten vor der städtischen
Staatsanwaltschaft protestieren. „Nach der Verfassung der Ukraine ist das
Nichtbezahlen von Löhnen strafrechtlich zu ahnden“, sagt Alexej Simwolokow,
einer der Sprecher der Gewerkschaft „Schutz der Arbeit“. Doch keine
staatliche Instanz reagiere auf ihre Protestbriefe. „Wir haben immer nur
eine kurze Empfangsbestätigung bekommen und die Mitteilung, das Schreiben
sei an die zuständige Stelle weitergereicht worden.“
Anfang dieses Jahres haben sich die Männer und Frauen von Juschmasch zu
einer Gewerkschaft mit dem Namen „Schutz der Arbeit“ zusammengeschlossen.
„Wir verteilen Flugblätter, wir sprechen Arbeiter an, wir gehen vor Gericht
und sogar nach Kiew. Nur eines machen wir nicht“, sagt Simwolokow, „wir
setzen uns nicht mit den Arbeitgebern in einem Hinterzimmer an einen Tisch
und verhandeln über unseren Lohn. Der Lohn steht uns zu. Da gibt es nichts
zu verhandeln.“
Zu Sowjet-Zeiten hatte Juschmasch, das damals fast ausschließlich für die
Rüstung produzierte, 60.000 Arbeiter. Derzeit sind nur noch 6.000 Menschen
hier beschäftigt. Es drohen weitere Entlassungen. „Hier will man künstlich
den Eindruck schaffen, Juschmasch stehe vor dem Bankrott“, sagt Anna, die
Mutter einer fünfjährigen Tochter ist. „Und irgendwann wird ein Oligarch
das Werk für einen symbolischen Preis kaufen. Raketen braucht man immer,
uns nicht.“
2 Apr 2015
## AUTOREN
Bernhard Clasen
## TAGS
Arbeitskampf
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Russland
Rüstungsindustrie
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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