# taz.de -- Debatte Brexit und Zollunion: Irrtum Freihandel | |
> Die Brexit-Anhänger verstehen den Kapitalismus einfach nicht. Sonst | |
> würden sie nicht den Binnenmarkt verlassen wollen. | |
Bild: Wie die Zukunft der Briten aussehen wird: Sie werden im Binnenmarkt bleib… | |
Die Fronten im britischen Parlament sind verwirrend. Klar ist aber: Der | |
Streit dreht sich im Kern um die Frage, ob die Briten in der Zollunion und | |
im Binnenmarkt bleiben sollen. [1][Labour ist dafür], und die radikalen | |
Tories sind dagegen. Ihr Anführer, Jacob Rees-Mogg, hat die konservative | |
Weltsicht pointiert zusammengefasst: Der EU-Binnenmarkt stehe „nicht für | |
Freihandel, sondern für Protektionismus auf europäischer Ebene“. | |
Damit wirft Rees-Mogg eine Frage auf, die tatsächlich interessant ist: | |
Warum betreibt die EU nicht nur Freihandel? Was soll der Aufwand, sich | |
einen Binnenmarkt zuzulegen? Auch in Deutschland ist das Unverständnis groß | |
und wird am liebsten in das Schauermärchen gekleidet, dass „Brüssel“ sogar | |
[2][den Krümmungswinkel von Gurken festlegen würde]! | |
Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit erscheint bizarr: Angeblich | |
geht es um den „Geist von Europa“, und am Ende befasst sich die EU mit | |
endlosen Normierungen und technischen Vorschriften. Diese Diskrepanz ist | |
nur zu verstehen, wenn man die [3][Geschichte der EU] kennt. Zugleich lässt | |
sich aus dieser Vergangenheit ablesen, wie die Zukunft der Briten aussehen | |
wird: Sie werden im Binnenmarkt bleiben, es nur anders nennen. | |
Die Erfinder der EU waren die Beneluxländer: 1952 schlugen sie vor, einen | |
„gemeinsamen Markt“ zu gründen. Es ist kein Zufall, dass die Initiative | |
von kleinen Industrieländern ausging – denn ihre Großunternehmen waren | |
schon damals im wahrsten Sinne des Wortes an die Grenzen gestoßen. | |
## Die EU leistet Harmonisierung | |
Ein zentrales Phänomen im Kapitalismus sind die Skalenerträge: Die | |
Produktion von Gütern wird umso billiger, je mehr Stück man herstellt. Für | |
vier Autos lohnt sich kein Industrieroboter; bei 10.000 Autos machen die | |
Maschinen jedes einzelne Auto günstiger. Am effizientesten ist es | |
natürlich, wenn die Produkte immer gleich sein können – was aber | |
voraussetzt, dass die technischen Vorschriften in möglichst vielen Ländern | |
identisch sind. Diese Harmonisierung leistet die EU: Im gesamten | |
Binnenmarkt gelten die gleichen Regeln, ob im Umwelt-, Daten- oder | |
Verbraucherschutz. Ein Freihandelsabkommen kann und will dies nicht | |
leisten. | |
Die Vorteile eines Binnenmarktes waren anfangs nur den Beneluxländern | |
einsichtig – eben weil sie so klein waren. Frankreich und Großbritannien | |
waren damals noch groß genug für ihre heimische Industrie, zumal sie ja | |
Kolonialreiche hatten. Westdeutschland wiederum war an einem „gemeinsamen | |
Markt“ interessiert, aber vor allem aus politischen Gründen: Kanzler | |
Adenauer lebte in ständiger Sorge, dass sich die Supermächte auf Kosten | |
Deutschlands einigen könnten. | |
Beinahe wäre es gar nicht zum Binnenmarkt gekommen. Großbritannien wollte | |
sowieso nicht teilnehmen, und Frankreich entdeckte immer neue Probleme. Die | |
„Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“, wie die EU damals hieß, ist 1957 n… | |
entstanden, weil Franzosen und Engländer 1956 einen Krieg in Ägypten | |
verloren hatten: Es ging um den Suez-Kanal, hatte also mit Europa eher | |
wenig zu tun. Aber danach war zumindest den Franzosen deutlich, dass man | |
neue Partner brauchte. | |
Der Binnenmarkt ist daher ein seltsames Konstrukt: Er ist aus politischen | |
Gründen entstanden, obwohl er ökonomische Ziele verfolgt. Diese verwirrte | |
und verwirrende Entstehungsgeschichte erklärt auch, warum der Binnenmarkt | |
bis heute als „Friedensprojekt“ durchgeht, obwohl sich das | |
[4][Alltagsgeschäft um Abgasnormen für Dieselfahrzeuge dreht]. | |
## Das ökonomisch richtige Konzept | |
Da Franzosen und Westdeutsche 1957 vor allem politische Bündnispartner | |
gewinnen wollten, begriffen sie nur langsam, dass sie – eher aus Versehen | |
und dank der Beneluxstaaten – auf das ökonomisch richtige Konzept gesetzt | |
hatten. In Paris und Bonn war man nämlich ehrlich erstaunt, als das | |
britische Konkurrenzprojekt nicht so richtig florierte. | |
Wie heute Rees-Mogg hatte London schon damals für den Freihandel optiert. | |
1960 wurde sogar eigens eine „Europäische Freihandelsassoziation“ (Efta) | |
gegründet, der Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden und die | |
Schweiz angehörten. Doch der Freihandel brachte nicht viel; der Austausch | |
intensivierte sich nicht und schob das Wachstum nicht an. | |
In der „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ hingegen explodierte der | |
Handel, weil alle Großunternehmen die Skalenerträge nutzten und in den | |
gemeinsamen Markt expandierten. Dieses Wachstum überzeugte auch die | |
Efta-Länder: Inzwischen sind sie alle im EU-Binnenmarkt, wobei die Schweiz | |
und Norwegen formal so tun, als wären sie unabhängig. | |
Ein Binnenmarkt ist jedoch nicht nur attraktiv für seine Mitglieder – | |
sondern ebenso für globale Handelspartner. Auch für japanische Autobauer | |
ist es effizient, dass die gleichen Regeln in ganz Europa gelten. Sollten | |
die Briten den Binnenmarkt verlassen, würden sie ziemlich uninteressant. | |
Wie sich das anfühlt, konnte London jetzt erleben, als es mit Tokio einen | |
neuen Handelsvertrag für die Post-Brexit-Zeit aushandeln wollte: Die | |
Japaner machten ungeniert klar, dass sie die Briten quälen und erpressen | |
werden, schließlich wissen sie genau, dass sie für die Briten wichtiger | |
sind als umgekehrt. Das war eine Machtdemonstration, aber nicht nur: Die | |
Japaner wollen dafür entschädigt werden, dass die Skaleneffekte nicht mehr | |
greifen, wenn die Briten eigene Regeln erfinden. Wer will Autos nur für | |
eine Insel bauen? | |
Skalenerträge spielen überall eine Rolle, auch im scheinbar virtuellen | |
Internet. [5][Boris Johnson], der berühmteste aller Brexit-Fans, liebäugelt | |
noch damit, „den Tech-Sektor, die Biowissenschaften und Bulk Data […] | |
anders zu regulieren, als Brüssel das tut.“ Dieser Wunsch wird schnell | |
verfliegen. Nach dem Brexit werden die Briten Tricks ersinnen, wie sie im | |
Binnenmarkt bleiben können, ohne dass es so heißt. | |
2 Mar 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Brexit-Vorschlag-zur-Zollunion/!5571838 | |
[2] /Mythen-ueber-die-EU/!5041915 | |
[3] /Geschichte-der-Europaeischen-Union/!5395141 | |
[4] /Europaeisches-Gericht-urteilt/!5558676 | |
[5] /Brexit-fuehrt-zu-Regierungskrise/!5521499 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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