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# taz.de -- DJ Rabih Beaini zu Explosion in Beirut: „Libanons BürgerInnen au…
> Die Proteste nach der Explosion in Beirut gingen von der Kulturszene aus.
> Der DJ Rabih Beaini über Korruption und Wiederaufbau in seinem
> Heimatland.
Bild: Rabih Beaini ist Musikproduzent, er lebt in Berlin. Gerade brachte er ein…
taz am wochenende: Herr Beaini, Anfang August kam es zu der gewaltigen
Explosion in Beirut, obendrauf die gravierende Wirtschaftskrise und die
Coronapandemie im Libanon. Was haben Sie gedacht?
Rabih Beaini: Wir liegen am Boden und werden noch tiefer getreten. Die
Stadt ist teils zerstört. Trotzdem kam die Explosion nicht aus heiterem
Himmel, Beirut ist Detonationen gewöhnt.
Als wir das letzte Mal gesprochen haben, kamen Sie aus Indonesien, wo Sie
erfahren mussten, dass es Orte gibt, an denen Kultur nicht oberste
Priorität hat. Sind andere Themen im Libanon jetzt drängender?
Die Proteste gegen die Regierung haben viel mit der Kulturszene zu tun. Von
ihr geht Aktivismus aus. KünstlerInnen sind in der ganzen Welt unterwegs
und repräsentieren das Land [1][mehr als die Politiker.] Unsere Kultur ist
ein seltsamer Hybrid aus Geschichte, die man nicht loswird, und
optimistischem Zukunftsglauben. Auch ein Spuk, der uns umtreibt: Überall
wird von uns erwartet, dass wir über den Bürgerkrieg sprechen oder ihn in
unseren Werken verarbeiten.
Sie meinen den Bürgerkrieg von 1975 bis 1990?
Nicht nur den, auch den Krieg von 2006, der meine Generation geprägt hat.
1990 war ich 14. 2006 hat es mich in die Welt hinausgezogen, da lebte ich
bereits in Italien. Uns Libanesen wird Opferbereitschaft in bewaffneten
Konflikten nachgesagt, das soll auch in Kulturbeiträgen eine Rolle spielen.
Wir müssen eher die BürgerInnen aufrütteln, um ihnen klarzumachen, dass es
Alternativen zum Parteiensystem gibt und zu den Politikern, die sie ihr
Leben lang unterstützt haben. Daher würde ich sagen, die Arbeit der
Kulturszene ist überlebenswichtig.
Mehr als die Hälfte der Libanesen lebt unter der Armutsgrenze. Armut ließe
sich mit Bildung bekämpfen, nur gibt es im Libanon gar keine allgemeine
Schulpflicht. Wie rasch lassen sich strukturelle Übel beheben?
[2][Die Mächtigen würden sagen], momentan gibt es dafür kein Budget.
Missmanagement hat so gravierende Folgen, dass die Menschen gar nicht
merken, wenn sie Kinder vernachlässigen, weil sie glauben, die Krise sei
bald passé. Es wird ein Generationenprojekt, die Propaganda-Gehirnwäsche
der letzten fünfzig Jahre zu tilgen. Das Bildungssystem muss grundlegend
reformiert werden. Auch die Schulbücher. Hitler wird hier als Held
dargestellt, wo er doch ein Monster war.
Samir Kassir, ein renommierter Journalist, der 2005 mit einer Autobombe
umgebracht wurde, schrieb in seinem Essay „Das arabische Unglück“ von einer
Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen. Die politische Elite steht im Banne
von Verbänden wie der Hisbollah, die Viertel in Beirut kontrolliert und
Posten besetzt. Wo würden Sie ansetzen?
Wenn wir sagen, wir beseitigen Korruption, müssen wir bei uns anfangen.
Europäische Parteien sind institutionell, ihre Arbeit ist demokratisch
eingehegt. Im Libanon reden Parteien mit deinem Onkel, sie „beschützen“
deinen Laden, und sie werben für dein Produkt. Sie können dir eine
lukrative Arbeit verschaffen. Es gibt keine Krankenversicherung, darum
kümmern sich Individuen in deinem Umfeld. Aber die Hilfe verpflichtet bis
ans Lebensende zu unbedingter Gefolgschaft. Kaum jemand stellt die Praxis
infrage.
Wie sagt man dazu, Klientilismus?
Es ist vergleichbar mit der Funktionsweise der Cosa Nostra. Im Libanon gibt
es den Dokumentsammler, der Briefverkehr vom Amt an die Bürger erledigt und
Stempel besorgt. Wenn wir selbst unterschreiben würden, stünden wir
tagelang an, der Sammler kassiert eine Summe und geht mit seinen Schreiben
an der Schlange vorbei.
Macht wird im Libanon vererbt. Nachdem ein Führer abtritt, übernimmt sein
Sohn, dann kommt sein Enkel: Aoum, Hariri, Jumblatt, Gemayel sind
politische Clans, die Nachkommen gar nicht fähig, ein Land zu führen. Ich
bin nicht gegen Politiker und Parteien, ich bin gegen Führer, die nach
ihrem Tod an der Macht bleiben und etwas vermitteln, das nichts mit der
Realität zu tun hat.
Es führt dazu, dass Koalitionen überhaupt keinen Sinn ergeben. Damit soll
verschleiert werden, dass ein Agglomerat Schmiergelder unter sich aufteilt.
Dagegen kämpfen wir.
Verhindert die libanesische Diaspora, ob in Brasilien, der Elfenbeinküste
oder Deutschland lebend, mit ihrer Hilfe im Kleinen den Bankrott im Großen?
Die meisten haben irgendwo in der Welt Verwandtschaft. Seit die Währung
abgewertet wurde und Leute ihre Ersparnisse verloren haben, ist die
Solidarität der Diaspora noch gewachsen.
Die Politikwissenschaftlerin Lina Khatib hat in einem Essay im Guardian
gefordert, dass nun Transparenz, Rechenschaft und Fairness walten müssen.
Wie wären diese zu implementieren?
Die Bürger wissen seit dem Müllskandal von 2015, wie systematisch
Korruption ist. Regierungsgelder werden im großen Stil veruntreut. Die
politische Kaste hat sich seit damals nicht mal mehr versteckt, sie wusste,
sie hat nichts zu befürchten. Ich sehe auch jetzt, wie sich die Mächtigen
beim IWF anwanzen, um an Hilfsgelder zu kommen. Die möchten keine
Sachspenden, die wollen Geld.
Was wäre Ihre Botschaft ans Ausland?
Schicken Sie dem Staat kein Geld! Der französische Präsident Macron hat
gesagt, er sammelt Geld und gibt es persönlich an ein außerstaatliches
Komitee. Das wäre ein Anfang für Transparenz. Rechenschaft muss erst noch
kommen.
Soweit ich weiß, übersteigt die Summe des Geldes, das libanesische
Politiker illegal auf Schweizer Konten geparkt haben, das Drei- bis
Vierfache der Staatsschulden. Also sollte man dieses Kapital einfrieren
oder, besser, dem libanesischen Volk übereignen.
Kassir bezeichnete Beirut als „Freiraum der arabischen Kultur“, wird dies
beim Wiederaufbau helfen?
Vielfalt und religiöse Diversität sind ausgeprägt. Ich habe im Viertel
Ishbilia gewohnt, Tür an Tür mit Christen und Moslems. Wenn es Anschläge
gab, sind alle in die Berge geflüchtet, obwohl sie offiziell verfeindet
waren.
Die Popszene ist ebenfalls vielfältig. Sie haben oft Bezug genommen auf
libanesischen Pop. So haben Sie einen House-Edit von „Tanki Tanki“ gemacht,
einem Song von Rene Bendali (1984), der sich auf den Bürgerkrieg bezieht.
Mir ging es nicht darum, der Welt zu zeigen, dass wir coole Popsongs haben.
„Tanki Tanki“ ist geistesverwandt mit Acidhouse. Ich habe mir beim Remix
vorgestellt, das Lied wird in Chicago aufgelegt. Ich kannte es aus
Kindertagen, und sein zynischer Text hat Kriegsrealität veranschaulicht.
Bendali zählt auf, wie und was rationiert ist: ein Laib Brot, ein Liter
Benzin, und er zieht es ins Lächerliche. Dazu gibt es Referenzen an Drogen.
Wie geht es weiter mit Beirut als kulturellem Labor?
Die Stadt ist kleiner als Berlin, aber [3][das Energie-Level ist durchaus
vergleichbar,] auch was die Lebenslust angeht. Nun sind viele Orte und
Institutionen durch die Explosion beschädigt. Clubs, Galerien und Ateliers
nahe beim Hafen – alles zerstört. Die meisten Künstler sind unverletzt
geblieben, aber fast alle haben nun Angehörige zu versorgen, kümmern sich
um Freunde und Nachbarn.
Es wird hart. Die Kulturszene wird trotzdem überleben, und ihre Stunde wird
kommen, denn sie wird gebraucht beim Wiederaufbau. Die Leute müssen Dampf
ablassen, wo ginge das besser als im Nachtleben?
16 Aug 2020
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## AUTOREN
Julian Weber
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