| # taz.de -- Corona in Frankreich: Was nur die Augen wissen | |
| > Manchmal ist es durchaus von Vorteil, irgendwo eine Fremde zu sein. | |
| > Zwischen Paris und Rom zum Beispiel kann die Stimmung ganz schön | |
| > schwanken. | |
| Bild: Schlechte Stimmung in Paris, da hilft auch kein lachender Teddyballon mehr | |
| Eigentlich wollte ich heute an dieser Stelle über Rom schreiben. Nicht über | |
| die [1][Anti-Lockdown-Demos], von denen ich bisher keine live erlebt habe. | |
| Sondern über die lustigen Gestalten, die einem hier begegnen, wenn man | |
| durch die Innenstadt läuft: Dieser Mann, der im rosafarbenen Bademantel, | |
| mit „Brillis“ in den Ohren, durch die Straßen nahe dem Ghetto schlendert. | |
| Diese Frau, die jeden Morgen an einem Brunnen im historischen Zentrum sitzt | |
| und sich mit rotem Lippenstift einen fünfmal vergrößerten Mund aufmalt, nur | |
| um dann freundlich vor sich hin fluchend die Via della Scrofa auf und ab zu | |
| marschieren. Dieser Tailleur, der in derselben Straße gegen zehn Uhr mit | |
| einem gelb-schwarz gestreiften Ferrari vorfährt und sich offenbar selbst | |
| sehr gut aussehend findet. | |
| Dieser Priester, der jeden Mittag in einem kleinen Restaurant der Via del | |
| Pellegrino sitzt und bei Polpette und Pasta gemütlich ein Fläschchen Wein | |
| kippt. All die Pudel, die in den Cafés neben ihren Besitzerinnen auf einem | |
| Stuhl hocken und bei jedem vorbeiziehenden Teller aufgeregt mit dem Schwanz | |
| wedeln … Kurzum: Es sollte um das amüsante Alltagsschauspiel gehen, dass | |
| man hier beobachten kann, wenn man fremd ist und noch keinen anderen Zugang | |
| zur Stadt hat als seine Augen. | |
| Doch nun war ich zwischenzeitlich in Paris – wohlgemerkt vor dem | |
| französischen Lockdown – und muss deshalb kurz aus der anderen Hauptstadt | |
| berichten. Denn dort sind die Gestalten, die man trifft, alles andere als | |
| lustig. Normalerweise antworten die Leute einem ja auf die Frage „Wie | |
| geht’s dir?“ reflexartig „Gut“ und gehen erst dann ins Detail. Jetzt ist | |
| die Antwort bei jedem, selbst bei denen, denen es wirklich gut geht, | |
| sofort: schlecht, deprimiert, alles furchtbar. | |
| ## Luxusbereich in der Krise | |
| Die eine Freundin, die in den letzten Jahren gut damit beschäftigt war, | |
| Modenschauen für große Marken zu organisieren, erzählt bei einem schnellen | |
| Glas vor 21 Uhr (die Sperrstunde), dass sie ihren Job los ist: „Keiner | |
| weiß, ob und wann es mit den Schauen wieder richtig losgeht, der gesamte | |
| Luxusbereich (einer der [2][wichtigsten Wirtschaftszweige Frankreichs]) | |
| steckt in der Krise.“ | |
| Mein Cousin, der seit ein paar Monaten die Website einer Wochenzeitschrift | |
| leitet, berichtet bei einem Mittagessen, die Redaktion sei neuerdings voll | |
| bewacht und sie hätten Morddrohungen erhalten. [3][Marianne], so heißt die | |
| Zeitschrift, war eine der wenigen, die nach dem Mord am Lehrer Samuel Paty | |
| dem Aufruf gefolgt ist, die Mohammed-Karikaturen von [4][Charlie Hebdo ] | |
| noch einmal zu drucken: „Hätten es alle gemacht, wäre es anders“, meint er | |
| wütend, „ich hoffe, dieser Anschlag wird endlich ein Weckruf sein. Man kann | |
| das Problem nicht weiter ignorieren.“ | |
| Wie nicht ignorieren, ohne gleich pauschal anzuklagen, fragt sich eine | |
| andere Freundin. Sie ist Dokumentarfilmerin, ihr Herz schlägt weit links, | |
| sie fühlt sich in den überaggressiven Debatten beengt, in denen das rechte | |
| Lager dem linken vorwirft, mit den Islamisten zu „kollaborieren“, und das | |
| linke dem rechten an den Kopf knallt, sie seien allesamt „islamophob“: | |
| „Warum kann man nicht anerkennen, dass es schwieriger ist, als,Mehdi aus | |
| Saint-Denis' durchs Leben zu gehen denn als,Jean-François aus Neuilly', und | |
| trotzdem finden, dass der Terrorismus mit allen Mitteln bekämpft werden | |
| muss? Wieso muss man entweder die Realität des Rassismus leugnen oder die | |
| des Islamismus?“ | |
| Meine Tante, sie ist [5][Jüdin], überlegt mittlerweile, ganz nach Israel | |
| auszuwandern. Eine marokkanische Freundin hat die Koffer für ihre | |
| fünfköpfige Familie schon gepackt: „Ich fühle mich hier nicht mehr sicher, | |
| der Gewaltpegel ist geisteskrank hoch. Mir reicht’s. Ich gehe.“ | |
| Zurück in Rom beobachte ich die Figuren des Innenstadttheaters und alles | |
| scheint mir trotz Covid-19, trotz Krise, trotz Demonstrationen, ganz leicht | |
| und weich und hell. „Am Ende ist es dort genauso wie hier, du siehst es nur | |
| nicht“, sagen mir französische Freunde. Wahrscheinlich stimmt das. | |
| Wahrscheinlich ist das der große Vorteil, nun wirklich eine Fremde zu sein. | |
| 10 Nov 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Gegen-Coronamassnahmen-in-Suedeuropa/!5724337&s=rom+demo/ | |
| [2] /Wandel-der-kapitalistischen-Gesellschaft/!5517566&s=martini+boltanski/ | |
| [3] https://www.marianne.net/ | |
| [4] https://charliehebdo.fr/ | |
| [5] /Mord-an-der-Juedin-Mireille-Knoll/!5492951&s=juden+verlassen+frankreic… | |
| ## AUTOREN | |
| Annabelle Hirsch | |
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