# taz.de -- Gedanken um den „Charlie Hebdo“-Prozess: Ein Kreis, der sich sc… | |
> In Paris ist seit „Charlie Hebdo“ nichts wie zuvor, findet unsere | |
> Autorin. Seit 2015 stieg hier die Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung | |
> merklich. | |
Bild: In Paris hat der Prozess gegen die Täter des Anschlags auf die Zeitschri… | |
In der vergangenen Woche hat in [1][Paris der Prozess] gegen vierzehn | |
Komplizen, Hintermänner, Helfer, Mittäter, wie auch immer man sie nennen | |
mag, des am 7. Januar 2015 von den Kouachi-Brüdern verübten Anschlags auf | |
die Redaktion der [2][Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo] und der am 8. und | |
9. Januar 2015 von Amedy Coulibaly verübten Anschläge auf die Polizistin in | |
Montrouge und den „Hyper Casher“-Supermarkt in Vincennes, bei denen | |
insgesamt siebzehn Menschen ums Leben kamen, begonnen. | |
Neunundvierzig Tage soll er dauern, es ist einer der wenigen französischen | |
Prozesse, der gefilmt und für die Nachwelt festgehalten wird, sogar der | |
allererste in Sachen Terrorismus. Viele sprechen auch deshalb jetzt schon | |
von einem historischen Ereignis – einem Wendepunkt. | |
Und auch wenn man nicht direkt dabei ist, nicht mit im Saal sitzt, nicht | |
jedes Wort hört und jeden durch die Masken verborgenen Gesichtsausdruck | |
erforschen kann, fühlt es sich doch tatsächlich so an, als sei es ein | |
Kreis, der sich (endlich!) schließt. Ja, vielleicht sogar, wer weiß, ein | |
neues Kapitel, das hier beginnt. | |
Mit Charlie Hebdo, mit dem „Hyper Casher“, mit dieser Gewalt von innen | |
heraus, mit dem so abgrundtiefen Hass dieser Männer, die, wie die | |
eigentlich so tolle Virginie Despentes es damals in ihrem befremdlichen | |
Liebesausruf an die Terroristen schrieb, beschlossen hatten, „in eure | |
verdammte Wirklichkeit einzubrechen“ und aus einer vermeintlich identitären | |
Kränkung heraus zu morden, mit den vielen Debatten über „Wer ist Charlie | |
und wer nicht?“, „Wer war auf den Demonstrationen und wer nicht?“, „Kann | |
man eine solche Tat durch Armut, Ausgrenzung, Perspektivlosigkeit und so | |
weiter erklären oder doch eher gar nicht?“ – hat damals ein neues Kapitel | |
begonnen. | |
## Gegen extreme Gewalt zu sein, war bis dato Common Sense | |
Eines, in dem fast jeder Satz, jeder Gedanke, alles klang, als sei es | |
geschrien, einfach weil etwas kaputtgegangen war. So etwas wie der naive, | |
gemütliche Glaube daran, dass am Ende trotz all der Probleme, trotz all der | |
Uneinigkeiten und Ungerechtigkeiten, trotz all den Dingen, die schieflaufen | |
in so einem Staat, irgendwie alles okay sein würde. | |
Weil man in einem Land lebt, in dem man Sachen entknoten und besser machen | |
kann, weil extreme Gewalt bis dato nicht als Lösung für welches Problem | |
auch immer galt und alle dachten, das sei Common Sense. | |
Ich habe am 7. Januar 2015 beschlossen, nach Paris zu ziehen. Ich stand | |
damals am Abend der Demonstration auf der Place de la République und | |
dachte: Hier muss man jetzt sein. Ich dachte, hier beginnt etwas Neues und | |
dieses Neue würde sein, dass man sich eben nicht mehr in dem gemütlichen | |
Glauben, es würde schon alles gut gehen, wiegt, sondern Probleme | |
tatsächlich angeht. Ich war überzeugt, von diesem Tiefpunkt aus könne es | |
nur nach oben gehen. Das war natürlich falsch. | |
## Gelbwesten und Alltagsaggressionen | |
Es ging nur noch weiter runter. Die Gewalt, die im Januar in die „verdammte | |
Wirklichkeit“ eingebrochen war, war plötzlich da und wurde in den | |
Folgemonaten nur krasser. Sie war plötzlich eine Option, eine Möglichkeit, | |
und ist es seitdem geblieben. So, als sei diese Tür, die durch den | |
[3][Angriff auf Charlie Hebdo ] am 7. Januar geöffnet wurde, eine, die man | |
nicht mehr schließen kann, ganz gleich, wie sehr man den Terroristen | |
beweisen will, dass sie unserem Lifestyle und unserer Freude nichts anhaben | |
können. | |
Man hat das bei den Gelbwesten gesehen, man sieht es in den Debatten, man | |
sieht es jeden Tag auf der Straße, wo Leute für den kleinsten Affront, für | |
einen schrägen Blick oder eine ungünstig geöffnete Autotür bereit sind, | |
sich einfach so, wegen gar nichts, zu prügeln. | |
Natürlich wird der Prozess an diesem Zustand, diesem geöffneten | |
Gewaltventil, erst mal nichts ändern. Allerdings wird er vielleicht, | |
hoffentlich, helfen, ein paar Dinge besser zu verstehen und damit auch | |
ermöglichen, dass diese pochende Wunde sich irgendwann vielleicht doch | |
wieder schließt. | |
Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Paris. | |
8 Sep 2020 | |
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## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
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