| # taz.de -- „Chaostage“ als Theaterstück: Dosenbier und Schokolade | |
| > Hannover, Stadt des Punk, zumindest aber die der Chaostage. Was davon | |
| > heute noch übrig ist, erkundet jetzt das dortige Staatstheater: | |
| > „Chaostage – Der Ausverkauf geht weiter!“ | |
| Bild: So-tun-als-ob und verfremdete Punk-Gesten: „Chaostage – Der Ausverkau… | |
| Hannover taz | Punk ist erst mal – anders. Als Popmusik immer | |
| komplizierter, die politische Debatte immer verschwurbelter, Jugendkultur | |
| immer älter und de normative Kraft des sozialdemokratisch muffigen | |
| Konsens-Alltags immer mächtiger wurde, loderte diese Bürgerschreck-Bewegung | |
| in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre so kurz wie heftig auf. War laut, | |
| lustig, unwiderstehlich jung und individuell, erst später kamen | |
| Uniformierung und Klischee, kam der Dosenbier trinkende Hundehalter, so | |
| lange in Fußgängerzonen herumlungernd, bis endlich wieder Chaostage sind: | |
| Auf nach Hannover, dem zeitweise jährlichen Abenteuerspielplatz. | |
| Warum das Krawall-Event ausgerechnet „in dieser Stadt der Mitte und des | |
| Maßes stattfand“, das interessierte die Theatermacherin Ulrike Günther, | |
| zugereist und mit 28 zu jung für ausführliche eigene Chaostage-Erfahrung. | |
| Sie recherchierte drauflos, sprach mit Beteiligten der diskontinuierlich | |
| zwischen 1983 und 2006 stattfindenden Randale-Partys, interviewte aber auch | |
| heutige Punks, Polizisten und Erforscher von Protestkulturen, besuchte mit | |
| den Schauspielern des Staatstheaters sogar ein Slime-Konzert. Die bei | |
| alldem gesammelten Worte und Erlebnisse strich sie zusammen, bis sie den | |
| Nukleus des Punk meinte, freigelegt zu haben für eine Lebensgefühl | |
| ausstellende Bühnenfassung: „Chaostage – der Ausverkauf geht weiter!“ | |
| ## Trommeln und Rülpsen | |
| Drei Tribünen sind um ein Dreieckspodium arrangiert. Ein Schlagzeuger | |
| poltert Rock-Patterns und grölt dazu im veralbernden Tonfall Phrasen wie | |
| „Scheiß auf das System“, „Bier her“ oder „Schlagt die Bullen tot“;… | |
| schnaubt Höllennebel aus dem Untergrund. Wenn ein Schauspieler anhebt, | |
| weitere Rechercheergebnisse darzubieten, wird dazwischen gehauen, trommelnd | |
| oder auch mal rülpsend. Manchmal übernimmt dies auch ein Fakten spuckender | |
| Sidekick mit spontanen Lachanfällen und gezielten Schmatzattacken. Das soll | |
| der Punk-Geist sein, mit dem – manchmal aus sozialer Not geborenen – | |
| Narzissmus des Andersseins sich verweigernd, die Ordnung störend, auch die | |
| eines wohlfeilen Dokumentartheaterabends. | |
| Statt authentischer Abbildung gibt es also performative Interpretation. Den | |
| Kunstcharakter erklären die Schauspieler dann auch gleich: in Gestalt eines | |
| Grundkurses in Sachen Bühnenkunst. Sie beschreiben ihr So-tun-als-ob und | |
| verfremden Punk-Gesten, trinken Bier, aber nur alkoholfreies, springen von | |
| der Bühne, allerdings nur hinein in ein Kissengebirge, rauchen, aschen aber | |
| vorschriftsgemäß in ein eigens aufgestelltes Behältnis. Nur Anke Stedingk | |
| schmeißt sich identifikatorisch in eine Rolle: Ihre Bühnenfigur erinnert | |
| sich, weder Ballettgirl noch Pferdemädchen gewesen zu sein, weder blond | |
| noch süß, und auch das Elternhaus war eine Katastrophe. Aber dann kam der | |
| erste Punkkonzert-Besuch: umlärmtes Geschubse und Gehüpfe, es roch „nach | |
| Kotze und Haarspray“ – und so etwas wie ein Zuhause-Gefühl. | |
| Inzwischen ist ihr Punkrausch gewichen, müde der rumorende Geist, der | |
| Körper nicht mehr kompatibel mit Klamotten von H&M. Als sexuelles Wesen | |
| fühlt sich diese Frau unsichtbar zwischen all den hübschen Teenagern im | |
| Publikum. Sie ist also also auf andere Weise wieder anders, wieder Punk. | |
| Hat vielleicht die Kraft, dem von Günther extrahierten Freiheitsimpuls der | |
| Bewegung zu folgen: ihrer Do-it-yourself-Ethik. | |
| ## Mut zum Nonkonformismus | |
| Die begann mit Frisuren, Kleidung, Musik – Häuserbesetzungen – einem | |
| selbstgebastelten Lebensstil. Aktionismus statt linksalternativer Diskurs. | |
| Den Mut zum Nonkonformismus als Ansporn, etwas zu verändern: Diese Idee | |
| pflanzt Günther dem Theaterabend ein und lässt beispielsweise die | |
| Geschichte einer Pinnebergerin mit Down-Syndrom erzählen, aus deren | |
| Schwerbehinderten- ein Schwer-in-Ordnung-Ausweis wurde. | |
| Bald schon war beim Punk ja auch Satire mit dadaistischen Anwandlungen im | |
| Spiel. Nicht nur bei den Sex Pistols, auch bei den Chaostagen: Die sollten | |
| auch mal eine Form der künstlerischen Intervention sein. Mitinitiator Karl | |
| Nagel beschrieb die zündelnden, erlebnisorientierten Spaß-Teilnehmer im | |
| Magazin Intro so: „Manche sind einfach gekommen, um sich zu besaufen. Die | |
| wollten auch keine Gewalt. Und manche wollten saufen und Gewalt. Manche | |
| wollten nur Gewalt und saufen, manche wollten was Politisches | |
| rüberbringen.“ | |
| Das hatte echten Anlass: Hannovers Polizei versuchte, auch jenseits von | |
| Straftatbeständen alle nicht perfekt normierten Jugendlichen in einer | |
| Punker-Datei aufzulisten. Um das ad absurdum zu führen, sollte die | |
| Leine-Stadt durch einen endlosen Strom von Punkern und Punkerdarstellern | |
| geflutet werden, bis keine Unterscheidung nicht mehr möglich wäre. | |
| Leider ist von all dem wenig im Theater zu erfahren. Also fragen wir bei | |
| Ulrike Günther nach: Sind die Chaostage eine eiternde Wunde in Hannovers | |
| Historie? „Nicht überall“, sagt die Regisseurin. Weil Punker einst den | |
| Einkaufsablauf in den Konsumzonen gestört haben, seien sie von der Polizei | |
| erst in die Nordstadt und dort dann zur Eskalation getrieben worden – | |
| worauf aber auch Anwohner solidarisch reagiert hätten. „Sie waren empört, | |
| dass ihr Viertel von der Polizei zur Zerstörung freigegeben wurde. Als die | |
| Grenzen fielen, auch ein Supermarkt gestürmt wurde, kamen alle möglichen | |
| Menschen hinzu, plünderten mit, befriedigten ihr Bedürfnis nach | |
| Regelverstoß.“ Ähnlich den Chaostagen im Hamburger Schanzenviertel zu | |
| G-20-Zeiten also. | |
| Nächste Termine: 28. 12., 12. 1. + 24. 2., Schauspiel Hannover | |
| 22 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Fischer | |
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