# taz.de -- Cancel Culture und Literatur: Einen Gang runterschalten, bitte | |
> Es gibt Männer, die selbstbezogen über eigene Übergriffigkeit schreiben. | |
> Aber ein Canceln bedroht die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und | |
> Text. | |
Bild: Wesentliche Grundlagen der Literatur gleich mit geschreddert? | |
Ich bin eine Frau [1][und eine Autorin]. Das ist jetzt kein Statement, auch | |
kein Argument. Es ist nur ein offenbar notwendig gewordener Disclaimer in | |
einem diskursiven Umfeld, in dem der Zugehörigkeit – oder | |
Nichtzugehörigkeit – zu einer Gruppe mehr Bedeutung zugemessen wird als dem | |
Inhalt des Gesagten: Wäre ich ein Mann, würde ich mich prompt dem Verdacht | |
aussetzen, meine „toxische Männlichkeit“ noch nicht überwunden zu haben. | |
Als Frau, auch nicht nett, bin ich dagegen ständig Übergriffen und | |
diskriminierender Bewertung ausgesetzt gewesen und werde es sein. Passiert | |
ständig. In der Werbung, auf der Straße, neulich im Park ein Radfahrer: | |
klatscht seine Hand auf meinen Po, im Vorbeifahren, dreht sich nicht mal | |
um, lacht laut, haha. Ich hätte ihm gerne eine geknallt, mit kaltem | |
Gesichtsausdruck, oder besser noch einen Tritt in die Eier verpasst, mitten | |
in sein Machtgehabe hinein; aber ich war zu Fuß, und er schon weg. Oder | |
Sprüche. Blicke. Griffe. Hab dich nicht so – ach, es ist ja alles bis zum | |
Überdruss bekannt. Meistens kann ich wenig dagegen tun. Außer älter werden | |
– für Ältere interessiert Mann sich, was körperliche Übergriffe betrifft, | |
nur noch von hinten. | |
Auch in der Literatur wimmelt es nur so von Übergriffen. Jede Autorin, | |
jeder Autor vergreift sich an der Wirklichkeit und macht Texte daraus. Über | |
Frauen. Über Männer. Über alles dazwischen. Sogar über Kinder und Tiere! | |
Ich mache das auch. Schreibe aus der sogenannten Opfer- und auch aus der | |
sogenannten Täterperspektive. Ohne irgendeinen Täter oder irgendein Opfer | |
oder gar all die Ambivalenten dazwischen um Erlaubnis zu fragen. Auch | |
„Täter“ schreiben. Sie setzen sich hin und erzählen, was sie Frauen oder | |
wem auch immer antun. | |
Zurzeit ist es Trend, dass Männer sich an der eigenen „neuen Männlichkeit“ | |
aufgeilen, auch schriftlich. Ich kann das lächerlich finden, unangenehm, | |
unangemessen. Ich kann auch doof finden, wie Autoren sich inszenieren, als | |
fingernagellackierte, pferdeschwanzige „neue“ oder auch als „alte weiße�… | |
Männer. Sie brauchen meine Erlaubnis nicht, um zum Teil langatmigen, | |
selbstbezogenen, perspektivarmen, mehr oder weniger gut geschriebenen Mist | |
zu erzählen, nicht mal, wenn ich, sagen wir als Ex-Freundin, sozusagen | |
Ideengeberin bin, weil ich in der Wirklichkeit dem realen Verhalten eines | |
solchen Autors ausgesetzt gewesen wäre. Und ihn gebeten hätte, eine | |
bestimmte Sache NICHT zu erzählen. Kann er drauf eingehen – muss er aber | |
nicht. Tut er’s nicht, ist es nicht nett, nicht fair, es lässt sozusagen | |
tief blicken, aber das geht, solange mich sonst keine „erkennt“, eigentlich | |
niemanden etwas an – außer mich und ihn. | |
Andere sehen das anders. Sie finden, Autoren müssten sich von zu Figuren | |
verfremdeten Personen vorschreiben lassen, was und wie sie zu schreiben | |
haben. Sie finden auch, dass, zum Beispiel, „narzisstische | |
Selbstbespiegelung“ ein Kriterium dafür sei, einen Text nicht zu | |
veröffentlichen. So weit ist das Niveau der Literaturkritik gesunken. | |
Valentin Moritz zum Beispiel. In der im Juli erschienen, von ihm | |
mitherausgegebenen, oftmals von der Kritik wegen ihrer demonstrativen | |
Gutgemeintheit gerühmten Anthologie „Oh Boy. Männlichkeit*en heute“, bei | |
der schon das pluralisierte Gendersternchen all meine idiosynkratischen | |
Abwehrstacheln aufrichten, ja mich vor Ekel schütteln lässt, hat er eine | |
Geschichte veröffentlicht. Es ist eine armselige Geschichte, locker | |
geschrieben, aber in die Länge gezogen, nicht auf den Punkt, die Figuren | |
bleiben blass; das zentrale Thema – ein sexueller Übergriff – steht seltsam | |
leer, abstrakt, unbeschrieben. | |
Wochen später [2][erfährt die Öffentlichkeit, dass die Frau], die er in | |
nicht genannter Weise körperlich bedrängt haben will, auf der Tanzfläche | |
eines Clubs, ihn gebeten hatte, nicht darüber zu schreiben. Der | |
betreffende „Vorfall“ nimmt im Text ein paar dürre Sätze ein, aus denen m… | |
nicht erfährt, was genau passiert ist, ob die beiden eine Beziehung hatten, | |
wie der Kontext war – niemand wüsste, um wen es sich bei der Belästigten | |
handelt. Nicht mal die Frau könnte sich – obwohl sie das behauptet – | |
eindeutig identifizieren, zu beliebig und ungenau sei die Darstellung. Aber | |
auf Instagram und Co behauptet eine pseudonyme Figur, der Text sei ein | |
weiterer Übergriff, dessen Autor habe ein weiteres Mal ihr Nein nicht | |
akzeptiert. | |
Und weil das Opfer immer recht hat, widerspricht niemand. | |
Unterstützer*innen solidarisieren sich, ein kleiner | |
Möchtegern-MeToo-Shitstorm zieht auf. Kommentatoren springen der | |
Misshandelten ritterlich an die Seite: Der Autor ignoriere „die | |
Opferperspektive“ (man fragt sich, was es für Kritik gehagelt hätte bei der | |
„Anmaßung“, aus der Opferperspektive zu schreiben), missbrauche die | |
„Täterperspektive“, um sich selbstgefällig zu inszenieren. Subtext: ein | |
mieser Charakter. | |
Da ist wahrscheinlich etwas dran. In der Geschichte kreist ein Ich-Held um | |
seinen Bauchnabel, geißelt sich seitenlang für sein Mannsein, will offenbar | |
geliebt oder mindestens gelobt werden für seine Selbstzweifel, die so tief | |
aber dann doch nicht gehen. Statt nun über die Schwäche des Textes zu | |
sprechen, bricht man über den Autor den Stab. Er gilt als einer, der aus | |
dem Leid der Frau Profit schlägt, anstatt dafür in der Hölle ewiger | |
Selbstrechtfertigungsversuche zu schmoren. Es hagelte so heftig, dass der | |
Verlag umschwenkte und die Auslieferung von „Oh Boy“ stoppte, in den | |
Mea-Culpa-neue-Männlichkeits-Konsens einschwenkte und ankündigte, den | |
inkriminierten Text aus der elektronischen Fassung zu entfernen. | |
Das wirft einige Fragen auf. Zum Beispiel die nach der Notwendigkeit, | |
„Opfer“ – und „Täter“? – um Erlaubnis zu fragen, ehe man Erlebniss… | |
ihnen literarisch verarbeitet. Oder die nach der zunehmend als Wahrheit | |
akzeptierten Lüge, es gebe ausschließlich, Schwarz und Weiß, Täter und | |
Opfer, mit der geschlechtlichen Ursünde ausgestattete Männer und | |
geschlechts- und patriarchatsbedingt unschuldige Opfer. | |
Das geht so weit, dass andere in der Anthologie vertretene Autoren sich von | |
Valentin Moritz, dem Verlag und der eigenen Publikation distanzieren – denn | |
distanzieren, das muss man sich heute von allem und jedem, was auch nur den | |
Anschein erweckt, in Sachen Sexismus keine superpersilweiße Weste zu haben. | |
Andernfalls setzt man sich dem Verdacht der Kontaktschuld aus. | |
Vielleicht ist das auch der Grund, warum anscheinend keine der | |
Unterstützer*innen die Frau mal gefragt hat, ob es sinnvoll sein | |
könnte, einen Gang runterzuschalten oder gar die Spur zu wechseln, ob der | |
Umgang mit einer unguten Erfahrung womöglich besser mit einer Prise Humor | |
gelänge, indem sie sich über die Lächerlichkeit eines selbstgefälligen, | |
schmerzhaft weinerlichen Textes lustig macht, anstatt sich am | |
Täter-Charakter von dessen Autor abzuarbeiten und ihrerseits eine | |
Perpetuierung des Opfers zu inszenieren und dann zu beklagen. | |
## Zu viel Ehre für einen Text | |
Das Ironische an der Angelegenheit: Die Frau, die ihren Fall nicht in einer | |
Geschichte verwurstet haben wollte, nicht mal anonym, ist jetzt quasi | |
bekannt, zwar hinter einem Instagram-Pseudonym versteckt – aber sie | |
existiert. Dadurch schreibt sie dem Text zu viel Macht zu angesichts der | |
Tatsache, dass es wohl keine Frau auf dieser Welt gibt, der nicht schon an | |
Busen und Arsch gegrapscht, zwischen die Beine gefasst, Penisse an den | |
Rücken gerieben, ekelhafte Blicke zugeworfen worden wären. Dergleichen | |
Übergriffigkeit ist nichts, was irgendwie Patentschutz genösse. | |
Dennoch scheinen viele, gewissermaßen aus pädagogischen Gründen, [3][das | |
Canceln der Geschichte richtig, ja notwendig zu finden] – und dieselbe | |
Meinung, nein: HALTUNG, auch von denjenigen Mitautoren in der Anthologie zu | |
erwarten, die sich noch nicht DISTANZIERT haben – Kim de l’Horizon zum | |
Beispiel. Es ist, als erhöbe sich eine große Möchtegernlehrer*innenschar, | |
um das Schreibvolk zu antisexistischem Verhalten zu erziehen und jedes | |
Aufflackern „toxischer Männlichkeit“ umgehend auszustampfen. | |
Aber wer ihnen folgt, müsste große Teile der früheren und aktuellen Welt- | |
und sonstigen Literatur aus den Regalen entfernen. Auch nicht wenige | |
Kolumnen, Glossen, Essays kämen in den Schredder – womöglich auch dieser | |
Text hier? Weil die Autorin vermeintlich uneinsichtig und unsolidarisch | |
ist? | |
Sollte das Schule machen, wäre eine der wesentlichen Grundlagen sowohl für | |
Kritik als auch für Literatur gleich mit geschreddert: die Unterscheidung | |
von Autorin und Erzählerin, die Kluft zwischen Wirklichkeit und Text. Also | |
der einzige Schutz, den beide haben. Die Brandmauer zur Übergriffigkeit | |
fiele. Jedes „Opfer“ kann alles Mögliche behaupten und etwaige „Täter“ | |
aller möglichen Dinge bezichtigen und dadurch als Autor unmöglich machen. | |
## Im Dreck wühlen gehört dazu | |
Egal, ob ein Text gelungen oder ob dessen Autor eine unangenehme, | |
ungeschickte oder übergriffige Person ist: Die Veröffentlichung eines | |
Textes sollte nicht von irgendeiner ex-textorialen Erlaubnis abhängen | |
dürfen. Wenn Publikationen bald nur noch möglich sind nach | |
sexismusmoralischen Charakterchecks sowohl von Texten als auch von | |
Urhebenden, sieht es finster aus für die Texterei. | |
Denn nur so entstehen Texte, gute wie schlechte: indem man, pardon, im | |
Dreck wühlt, indem man Grenzen überschreitet – die zwischen Wirklichkeit | |
und Buchstaben. Indem man also übergriffig wird und erzählt, wie irre, | |
ambivalent, unangenehm oder gar schön bestimmte Verhaltensweisen in der | |
Wirklichkeit sind. Subjektiv. Ungerecht. Ohne Triggerwarnung und ohne | |
Erlaubnis von irgendwem. Auch wenn das, wie bei Moritz, nicht gelingt, | |
sondern nur ein peinlicher Erguss wird. Dem womöglich demnächst ein noch | |
peinlicherer, umfangreicherer folgt à la „Ein Mann bittet um Vergebung“ | |
oder „Schuld. Sühne. Männer“ – es sei ihm nicht gegönnt, aber gestatte… | |
Wenn es jedoch mir, als Autorin, nicht mehr möglich sein soll, mich an der | |
Wirklichkeit zu vergreifen, weil die Unterscheidung fällt, wird der | |
ständige Übergriff der Wirklichkeit auf Verfasser*innen wie Texte | |
möglich – und Literatur öde bis unmöglich. | |
3 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.autorenwelt.de/person/katharina-koerting | |
[2] /Kritik-am-Buch-ueber-kritische-Maennlichkeit/!5950704 | |
[3] /Lackierte-Fingernaegel-bei-Maennern/!5950860 | |
## AUTOREN | |
Katharina Körting | |
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