# taz.de -- CDU-Politikerin über Entbürokratisierung: „Einzelne Reförmchen… | |
> Dafür bin ich nicht zuständig, lautet ein typischer Behördensatz. Nadine | |
> Schön fordert einen Radikalumbau von Staat und Verwaltung. | |
Bild: Jede Menge Papier: Steuerunterlagen im Finanzamt Essen-Süd | |
taz: Frau Schön, kürzlich haben Sie Ihr Buch „Neustaat“ vorgestellt, in d… | |
Sie – gemeinsam mit gut zwei Dutzend anderen Unionsabgeordneten sowie | |
Experten – eine gewaltige Modernisierung von Politik und Verwaltung | |
fordern. Der Kernsatz: „Unser Staat muss sich in den nächsten 10 Jahren | |
mehr ändern als in den letzten 70 Jahren zusammen.“ Für eine | |
CDU-Politikerin klingt das ziemlich radikal. Was beklagen Sie genau am | |
Status quo? | |
Nadine Schön: Unser Land steht sehr gut da. Wir haben seit vielen Jahren | |
Wirtschaftswachstum und können deshalb auch die aktuelle Krise gut | |
bewältigen. Wir sehen aber gleichzeitig, dass wir zahlreiche | |
Herausforderungen haben, die neue Antworten erwarten. Der Klimawandel, die | |
neue internationale Konkurrenz mit China und den USA, die | |
[1][Digitalisierung], der Populismus. Deshalb müssen wir uns fragen: Was | |
müssen wir heute machen, damit unser Staat handlungsfähiger wird, um diesen | |
Herausforderungen besser begegnen zu können? | |
Wie lautet Ihre Antwort? | |
Wir sehen zurzeit, dass wir zu bürokratisch und hierarchisch sind – und | |
dadurch auch viel zu langsam. Während andere mit einer wahnsinnigen | |
Geschwindigkeit an uns vorbeirauschen, haben wir selbst bei ganz normalen | |
Bauprojekten Planungs- und Umsetzungszeiten, die jenseits von Gut und Böse | |
sind. Wir müssen unsere Prozesse ändern: digitaler, vernetzter, | |
kooperativer. | |
Das ist die Verwaltung. Welche Schwächen sehen Sie bei sich, im politischen | |
Betrieb? | |
Wir sehen, dass sich unsere Politik heute sehr stark an Einzelmaßnahmen | |
orientiert. Wir schreiben Wahlprogramme und Koalitionsverträge und | |
diskutieren da Einzelthemen. Wir machen Haushaltsberatungen nach Ressorts. | |
Wenn Sie sich mal eine Woche Haushaltsberatungen im Bundestag anhören, dann | |
sehen Sie, dass da an jedem Tag, aber immer in einem anderen Ressort, | |
Aussagen zum Thema Infrastrukturausbau, soziale Gerechtigkeit oder | |
Familienförderung kommen. Einfach, weil sich diese Themen über verschiedene | |
Ressorts verteilen. Die Bürgerinnen und Bürger blicken da nicht mehr durch. | |
In Ihrem Buch skizzieren Sie einen „Neustaat“, der ein lernender und | |
digitalisierter sein soll. Was heißt das konkret? | |
In den vielen Interviews, die wir für das Buch geführt haben, hat uns eine | |
ranghohe Verwaltungsbeamtin gesagt: Wir stimmen uns ab, arbeiten aber nicht | |
zusammen. Das sehen wir leider viel zu oft. Deshalb ist unser Ansatz, | |
Politik vernetzter zu gestalten. Wir wollen politische Ziele nicht nur | |
anhand von ideologischen Vorstellungen machen, sondern viel früher | |
bestehende Daten einbeziehen. Bei der Klimapolitik haben wir das im letzten | |
Jahr schon mal ansatzweise so gemacht. Dazu gehört auch, den Mut zu haben, | |
zu sagen: Wenn man gewisse Ziele nicht erreicht, muss man die Maßnahmen | |
anpassen. Nichts ist in Stein gemeißelt. | |
Gesetze sollen nicht mehr nur auf rechtliche Standhaftigkeit überprüft | |
werden – sondern auf ihre Wirksamkeit. Verfehlt ein Gesetz seine Ziele, | |
soll es abgeschafft werden, schreiben Sie. Was in der Theorie einleuchtet, | |
scheint in der Praxis schwieriger. Immerhin ist die Beurteilung eines | |
Gesetzes stark von politischen Interessen geprägt. Wie soll das trotzdem | |
gehen? | |
Das ist ein wichtiger Punkt. Natürlich ist es am Ende eine politische | |
Entscheidung, ob ich ein Gesetz mache, ändere oder abschaffe. Und das soll | |
auch so bleiben. Wir wollen nicht, dass künstliche Intelligenz unsere | |
Gesetzgebung übernimmt. Aber diese politische Entscheidung muss sich | |
stärker an Parametern festmachen. Das ist natürlich aufwendig, schafft aber | |
Transparenz. Wenn für den Bürger klar ist: „O. k., die Parteien, diese | |
Koalition legt diese Parameter an – und wenn diese nicht erfüllt sind, gibt | |
es diese und jene Änderungen“, ist viel gewonnen. | |
Können Sie das an einem Beispiel illustrieren? | |
Nehmen wir die [2][Grundrente]. Das Ziel ist: Leute, die lange gearbeitet | |
haben, sollen eine höhere Rente bekommen als jene, auf die das nicht | |
zutrifft. Was wir bisher machen, ist nicht, dieses Ziel in den | |
Koalitionsvertrag festzuschreiben, sondern das Instrument. Durch den ganzen | |
politischen Prozess, durch viele Kompromisse und irgendwelche | |
Nachtsitzungen wird die Umsetzung dann so kompliziert, dass man sich am | |
Ende fragen muss: Steht der Aufwand, den wir betreiben, überhaupt in einem | |
vernünftigen Verhältnis zum Ziel, das wir erreichen wollen? Hier wollen wir | |
mehr Transparenz und klare Parameter. | |
Ist das auch eine Erkenntnis aus über zehn Jahren Abgeordnetendasein? | |
Sicher. Ich bin lange genug im Bundestag, dass ich weiß, dass wir oft in | |
Nachtsitzungen Kompromisse machen, bei denen die Verwaltung am Ende Mühe | |
hat, zu wissen, was der Gesetzgeber eigentlich will. Da fängt die | |
Interpretation an, und am Ende landet es bei Gerichten. Deshalb: Mehr | |
Klarheit wird zu weniger Rechtsunsicherheit führen, was schließlich zu mehr | |
Zufriedenheit bei den Bürgern führt. | |
Nochmal zur Verwaltung. Der Wohngeldantrag soll künftig ebenso online | |
erledigt werden können wie die Buchung eines Fluges. Zudem plädieren Sie | |
für ein neues Arbeitsprinzip in den Behörden, dir„Abkehr vom Silo- und | |
Zuständigkeitsdenken“. | |
Wie oft hört man den Satz: Dafür bin ich nicht zuständig. Und es ist ja | |
auch so, dass der konkrete Beamte nur bis zu einem bestimmten Punkt | |
zuständig ist. Für die Bürger ist das aber unverständlich. Die haben ein | |
Problem und wollen das gelöst bekommen. Und die wollen nicht von Pontius zu | |
Pilatus rennen und immer nur Teilaspekte lösen. Deshalb wollen wir, dass | |
Verwaltung vernetzter agiert und denkt – und dass die Probleme der Bürger | |
ganzheitlich angegangen werden. Dazu müssen wir die starren Systeme und | |
Silos aufbrechen. Und dafür sorgen, dass Mitarbeiter leichter zwischen | |
Ministerien und Ebenen wechseln können. Deshalb sagen wir: Es hilft nicht, | |
nur einzelne Reförmchen zu machen. Wir müssen unser Staatswesen einmal | |
komplett neu durchdenken und durchstrukturieren. | |
Die Coronakrise offenbart, wie wichtig ein starker Staat ist, um die Folgen | |
einer Krise einzudämmen, das jüngst beschlossene | |
150-Milliarden-Konjunkturprogramm zeigt das. Der interne Arbeitstitel Ihres | |
Buches lautet: „Ist das Staat oder kann das weg?“, was eher das Gegenteil | |
suggeriert. Wollen Sie die Axt an den starken Staat legen? | |
In den letzten Jahren hieß es ja immer: Veränderung des Staates bedeutet | |
dessen Verschlankung. Die Antwort auf zu viel Bürokratie war meist | |
Personalabbau. Gleichzeitig wurden Aufgaben und Strukturen aber | |
beibehalten. Dadurch waren die Aufgaben noch weniger erfüllbar. Heißt: Wenn | |
man die Strukturen nicht ändert und nur das Personal abbaut, wird alles | |
noch langsamer. Deshalb brauchen wir nicht weniger Staat, sondern einen | |
effektiveren und effizienteren Staat. Es braucht einen starken Staat, um zu | |
regulieren, Standards zu setzen und Prozesse anzutreiben. Dazu braucht es | |
Verwaltungsmitarbeiter und Regeln – nur: die Regeln müssen besser werden. | |
Es geht uns nicht um mehr oder weniger Staat, sondern um einen, der besser | |
arbeitet. | |
Die Union hat die längste Zeit der vergangenen 70 Jahre selbst mitregiert – | |
auch in den letzten 15 Jahren. So gesehen kann man Ihre Kritik auch als | |
Kritik an Ihrer eigenen Partei und der Kanzlerin sehen. Müssen Sie sich die | |
Dinge, die Sie beklagen, nicht selbst auf die Fahnen schreiben? | |
Ich denke, wir haben eine gute Regierungsarbeit in den letzten Jahren | |
geleistet. Wir sind vom kranken Mann Europas zum wirtschaftlich starken | |
Land geworden. Aber das Falscheste, was wir machen können, ist, sich auf | |
den Erfolgen auszuruhen. Wir müssen uns nun um die Grundlagen für den | |
Erfolg der nächsten 10, 15 Jahre kümmern. Wenn wir den genannten | |
Herausforderungen der Zukunft gerecht werden wollen, müssen wir | |
strukturelle Maßnahmen ergreifen. | |
Trotzdem: Wenn Sie jetzt ein Umdenken fordern, legt das ja den Schluss | |
nahe, dass in den letzten Jahren zu wenig passiert ist … | |
Wir brauchen einen gemeinsamen politischen Willen. Es ist ja kein Thema, | |
das allein die Bundesregierung betrifft, sondern auch die Länder und die | |
Kommunen. Eine Verwaltungsmodernisierung muss alle Ebenen umgreifen. | |
Deshalb betrifft sie eben auch alle politischen Parteien, mit denen wir | |
auch schon im Gespräch sind. Denn wir glauben, dass es einen | |
gesellschaftlichen Grundkonsens darüber geben muss, wie wir unseren Staat | |
umbauen. | |
Ihre Reformideen werden auch etwa von CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak | |
unterstützt – und sollen einen Schwerpunkt im Bundestagswahlkampf 2021 | |
bilden. Was macht Sie so sicher, dass Sie damit auch bei den Wählern | |
punkten? Immerhin dürften Rezession, Arbeitslosigkeit und andere | |
Verwerfungen durch die derzeitige Krise viele wohl mehr umtreiben als neue | |
Arbeitsabläufe in Behörden. | |
Das eine hängt mit dem anderen zusammen. Ich bin der Meinung, dass sehr | |
viele sehen, dass es so nicht weitergehen kann. Das sehen wir auch an der | |
großen Nachfrage nach unserem Buch in den ersten Tagen. Nicht wenige | |
verzweifeln daran, dass sie an Zuständigkeitsgrenzen scheitern, dass | |
Prozesse zu lange dauern. Dass selbst, wenn der politische Wille da ist, | |
eine gute Infrastruktur im ganzen Land zu bauen, etwa beim Mobilfunk, es | |
viel zu lange dauert, bis wir es realisieren können. Und das liegt nicht am | |
politischen Willen und nicht am Geld. Sondern ganz offensichtlich an den zu | |
zähen Strukturen. | |
15 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Godeck | |
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