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# taz.de -- Buch über gleichgeschlechtliche Liebe: Unaufgeregt different
> Was bedeutete Homosexualität in der BRD? Benno Gammerl hat mit „Anders
> fühlen“ eine beeindruckende Emotionsgeschichte dazu verfasst.
Bild: Von manchen kritisch beäugt: Christopher Street Day 1988 in West-Berlin
Jede Familiengeschichte ist eine prekäre Angelegenheit. Man ist bis auf
wenige glaubwürdige Dokumente auf Erzählungen altvorderer Verwandter
angewiesen, die einem, logisch, persönlich gefärbte Versionen auftischen,
in denen das eigene (Er-)Leben im Vordergrund steht. Das Licht kommt bei
dieser Form der Geschichtsschreibung meist erst mit der Erzählperson in die
Welt.
Die Familiengeschichte der Schwulen und Lesben in Deutschland ist meist von
Akteur*innen der Emanzipationsbewegungen aus den siebziger Jahren
dominiert. Sie geht ungefähr so: Nach der Nazizeit lebten die Homosexuellen
unter dem Joch des noch immer bestehenden Paragrafen 175 in schamvoller
Unterdrückung, bis sie sich durch die Schwulenbewegung der Siebziger in
stolze Schwule und Lesben verwandelten und danach, nur kurz unterbrochen
durch [1][die Aids-Krise], zu selbstbewussten Bürgern mit gleichen Rechten
bzw. entpolitisierten Angepassten wurden, je nach Lesart.
[2][Benno Gammerl,] Jahrgang 1976, ist ein Nachgeborener des Geschehens. Er
ist Professor für Gender- und Sexualitätengeschichte am Europäischen
Hochschulinstitut in Florenz. Für seine Studie „Anders fühlen“ hat er mit
32 gleichgeschlechtlich liebenden Menschen aus unterschiedlichen Milieus,
Religionen und Generationen Tiefeninterviews geführt – seine
GesprächspartnerInnen entstammen Jahrgängen zwischen 1935 und 1970.
Gammerl hat ihren Erzählungen mit der Ambition gelauscht, eine
„Gefühlsgeschichte“ zu schreiben. Und als Kind des Konstruktivismus hat er
gleichzeitig versucht, nicht jeder Eigengeschichtsschreibung auf den Leim
zu gehen, sondern das Erzählte mit kühlem Blick einzuordnen. Beides ist
gelungen.
## Ausweichen, Aufbruch, Normalisierung
Benno Gammerl gliedert die Geschichte der „Anders Fühlenden“ nach dem
Zweiten Weltkrieg in drei Zeitabschnitte: Ausweichen, Aufbruch und
Normalisierung – und alle drei gestalten sich bei Gammerl komplexer und
widersprüchlicher als jene große Familienerzählung, die einmal im Jahr
anlässlich des CSD erzählt wird.
Keineswegs seien die gleichgeschlechtlich Liebenden der fünfziger und
sechziger Jahre ausschließlich gramgebeugt durch ihr Leben gehuscht – denn
auch in Tanzdielen, nächtlichen Parks, öffentlichen Toiletten und den
später vielgescholtenen Bars mit Klingel hätten Menschen durchaus Glück und
Freude gefunden.
Und nebenbei durch geschickte Lobbyarbeit die Entschärfung des Paragrafen
175 in den Jahren 1969–1973 erreicht. Ein Erfolg nicht der „68er“, sondern
der „Homophilen“, die dem Establishment sozusagen versprochen hatten, dass
die Homosexuellen nach dem Ende der Unterdrückung „sittlich“ werden würde…
Der Urknall für die auch in der Szene selbst umstrittene „Homo-Ehe“? Folgt
man Gammerl, hat es nie einen solch geraden, steten Pfad des Fortschritts
und der Emanzipation gegeben, eher einen konstanten Strom der
Ungleichzeitigkeit von Unterdrückung, Emanzipation und Normalisierung.
## Nicht nur stolz und befreit
So wie die fünfziger Jahre nicht nur bleiern waren, waren in den Siebzigern
nicht plötzlich alle stolz, froh und befreit: Nicht wenigen blieb ihre
Angst vor Sichtbarkeit erhalten – einer der interviewten Zeitzeugen
berichtet sogar, dass er seine „Tarnkappe“ bis zum Jahr 2000 aufbehalten
habe. Zugleich waren die Siebziger eine Zeit der Suchbewegungen, der
Entdeckung neuer Möglichkeiten, insbesondere für Frauen, die Frauen
begehrten und nun etwa in feministischen Frauencafés Raum zum Austausch
fanden.
Interessant ist auch der von Gammerl skizzierte Prozess der
„Normalisierung“ mit all seinen Ambivalenzen. Konnten sich die
unaussprechlichen Gefühle der gleichgeschlechtlich Liebenden in der
Nachkriegszeit aufgrund der bedrohlichen Umstände oft nur abrupt und
gewitterartig entladen, so entstanden im Rahmen des Emanzipationsprozesses
immer klarere Vorstellungen schwuler und lesbischer Identität, die eben
auch Ausschlüsse nach sich zogen.
Bisexuelle zum Beispiel oder Menschen, die neben einem wöchentlichen Besuch
im Dampfbad weiterhin ein Leben mit Frau und Kind führen wollten. Kein
„richtiges“ schwules Leben also. Schlimmer konnte da nur noch sein, die
eigenen „Gefühle nicht ernst zu nehmen“, ein Verdikt der Achtziger.
## Unterschiede bleiben bedeutsam
Die Herausarbeitung der Gefühlsgeschichte ist ein besonderes Verdienst des
Buches und wirft Fragestellungen für die Gegenwart auf: Auch Benno Gammerl
kann (noch) nicht sagen, wie sich nun die neue „Normalität“ für queere
Menschen tatsächlich gestaltet und welche neuen (oder alten) Ängste mit ihr
verbunden sind.
Für Gammerl steht jedoch fest: „Unterschiede bleiben bedeutsam, auch ohne
Hierarchien“. In Anbetracht manch exzessiver aktueller Debatten um
„Identitätspolitik“ kann man sich seinem Plädoyer für eine „unaufgereg…
Aufmerksamkeit für das Differente“ nur anschließen.
28 May 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Martin Reichert
## TAGS
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Christopher Street Day (CSD)
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