| # taz.de -- Britischer Wahlkampf für Europawahlen: Die Stunde der Wutbürger | |
| > Gleich zwei britsiche Antisystemparteien hoffen bei der Europawahl auf | |
| > einen Durchbruch – von rechts und von links. Ist das die Zukunft Europas? | |
| Bild: Trotz Brexit zur Europawahl – was wohl die Queen darüber denkt? | |
| Am 23. Juni 2016 stimmten die Briten für den Austritt aus der Europäischen | |
| Union – am 23. Mai 2019 sollen sie [1][neue Abgeordnete für das | |
| EU-Parlament wählen]. Das hätte noch vor wenigen Wochen niemand für möglich | |
| gehalten. „Die Regierung wird umsetzen, was Sie entscheiden“, hatte die | |
| Premierminister David Cameron vor dem Referendum den Wählern versprochen. | |
| „Großbritannien wird die EU am 29. März 2019 verlassen“, hat seine | |
| Nachfolgerin Theresa May unzählige Male im Parlament gesagt. Es ist alles | |
| anders gekommen. Der Brexit ist nicht vollzogen, und ob er es je sein wird, | |
| steht in den Sternen. | |
| Entsprechend wird dies keine Routinewahl wie in anderen EU-Ländern. Sie ist | |
| die Konsequenz eines Politikversagens. Jede Wahlbenachrichtigung, die nach | |
| Ende der Wählerregistrierung am 7. Mai an Großbritanniens gut 47 Millionen | |
| Wahlberechtigte gehen wird, ist ein amtlich an jeden Bürger übersandtes | |
| Eingeständnis des Scheiterns. Die Regierung hat es nicht geschafft, für | |
| ihren Kurs zu werben. Dadurch ermuntert, haben die Parlamentarier den | |
| Volkswillen, die Parteidisziplin und die eigenen Regeln missachtet, um am | |
| Ende jeden denkbaren Kurs zu blockieren. | |
| Die Europawahl eignet sich wie keine andere Abstimmung der vergangenen | |
| Jahre zur Protestwahl, auch weil sie vergleichsweise folgenlos bleiben | |
| wird. Es ist eine Einladung an alle Wutbürger, wütend zu sein. Das | |
| britische Parteiensystem droht daran irreparablen Schaden zu nehmen. | |
| Niemand, der eine klare Haltung zum Brexit hat – ob dafür oder dagegen – | |
| fühlt sich von einer der großen etablierten Parteien vertreten. Bei Tories | |
| und Labour herrscht komplette Ratlosigkeit. Sie haben kein EU-Wahlprogramm | |
| und wissen derzeit wohl auch nicht, was sie da hineinschreiben sollten. Im | |
| Lager der Konservativen ist die Wut auf Theresa May und ihren „Verrat“ am | |
| Brexit gigantisch. Die Basis will mit überwältigender Mehrheit inzwischen | |
| den No-Deal-Brexit, sogar die Mehrheit der Parlamentsfraktion, aber die | |
| Premierministerin blockiert, und eine Parlamentsmehrheit dafür gibt es | |
| nicht. | |
| ## Stunde der Antisystemparteien | |
| Aber auch bei Labour rumort es: Die eigenen Brexit-Modelle sind im | |
| Parlament alle durchgefallen, Gegner und Befürworter eines zweiten | |
| Referendums beharken sich öffentlich, der Sinn der laufenden Gespräche mit | |
| May wird zunehmend in Zweifel gezogen und die militanten EU-Befürworter | |
| wollen den Druck, den sie regelmäßig auf der Straße ausüben, endlich in die | |
| Politik umsetzen. | |
| So schlägt die Stunde der Antisystemparteien. Auf der Rechten ist die neue | |
| Brexit Party des ewigen Anti-EU-Agitators Nigel Farage aus dem Stand heraus | |
| kurz nach ihrem Wahlkampflaunch in zwei der drei seither veröffentlichten | |
| Meinungsumfragen zur Europawahl auf den ersten Platz geschossen. Ihr | |
| kometenhafter Aufstieg ist die zentrale Story dieses britischen | |
| EU-Frühwahlkampfs. | |
| Die Brexit Party lässt die Dinge einfach aussehen, wo die offizielle | |
| Politik alles verkompliziert. Ihr Parteisymbol ist ein Pfeil, der nach | |
| vorne weist. Ihre Parole „Change Politics For Good“ lässt sich sowohl als | |
| „Verändern wir die Politik zum Guten“ als auch als „Ein endgültiger | |
| Politikwechsel“ verstehen. „Die Demokratie ist bedroht, schließen Sie sich | |
| an, um sich zu wehren“, lädt die Website ein. | |
| ## Farage machte die Ukip groß | |
| Nigel Farage ist ein Profi. Er machte die United Kingdom Independence Party | |
| (Ukip) groß, deren Daseinszweck in der Ablehnung der EU besteht, und gewann | |
| mit ihr die letzte britische Europawahl (2014) mit 27 Prozent – ein von | |
| vielen Kommentatoren später vergessener Grund, warum der damalige Premier | |
| David Cameron bei der Parlamentswahl 2015 hinter sein etwas leichtfertig | |
| abgegebenes Versprechen eines EU-Referendums nicht mehr zurückkonnte. | |
| 2016 leitete Farage die radikalere der beiden rivalisierenden | |
| Brexit-Kampagnen und mobilisierte mit Populismus und Stimmungsmache gegen | |
| Einwanderer die abgehängten proletarischen Wählerschichten der von der | |
| Politik ignorierten alten Industriestädte, zu denen die offizielle | |
| Brexit-Kampagne von Establishment-Politikern wie Boris Johnson keinen | |
| Zugang fand. | |
| Es ist kein Geheimnis, dass Farage damals lieber knapp verloren als knapp | |
| gewonnen hätte – eine knappe Niederlage hätte dem Populisten die Basis für | |
| eine mächtige Volksbewegung gegen das Establishment beschert, so ähnlich | |
| wie die schottischen Nationalisten in Schottland, aber mit dem knappen Sieg | |
| konnte er in Ermangelung jeden Einflusses auf die Politik nichts anfangen. | |
| Er zog sich zurück und verließ die Ukip Ende 2018 ganz, weil seine alte | |
| Partei nach rechts abgedriftet war; Farage, der die Ukip im Europaparlament | |
| in eine Fraktion mit der Fünf-Sterne-Bewegung aus Italien gesteckt hatte, | |
| verschmäht die Rechtsaußenecke als sicheren Weg in die Irrelevanz. | |
| ## The Independent Group um Chuka Umunna | |
| Nun, da aus dem britischen Brexit-Sieg von 2016 eine Brexit-Niederlage | |
| geworden ist, schlägt Farages Stunde erneut. „Ich komme zurück“, tönt er | |
| auf Twitter, und: „Wir haben nicht so lange gekämpft, um jetzt aufzugeben.“ | |
| Während May, Corbyn und all die anderen nach Monaten fruchtloser | |
| Brexit-Hakelei ausgebrannt und ermattet erscheinen, ist Farage frisch, | |
| energiegeladen und aufgedreht. Die meisten der Ukip-Europa-Abgeordneten von | |
| 2014 haben sich seiner Brexit Party angeschlossen; zum Wahlkampfauftakt | |
| präsentierte er als Promikandidatin die Journalistin Annunziata Rees-Mogg, | |
| Schwester des konservativen Brexit-Wortführers Jacob Rees-Mogg. | |
| In Umfragen sagt die Hälfte der konservativen Parteibasis, sie werde Farage | |
| wählen, und die meisten seiner Wähler aus Ukip-Zeiten 2014 dürften ihm | |
| ebenfalls zu seiner neuen Partei folgen. Während Farage der Regierung May | |
| den Boden unter den Füßen wegzieht, tut sich die [2][Pro-EU-Abspaltung auf | |
| Labour-Seite], die erst im Februar Furore machte, deutlich schwerer. | |
| Die elf Abgeordneten um den nigerianischstämmigen Chuka Umunna, die teils | |
| von Labour, teils von den Konservativen kamen und sich klar zur EU | |
| bekannten, hatten eigentlich einen guten Start hingelegt: Im Parlament | |
| konstituierten sie sich als The Independent Group (TIG) und wurden damit | |
| auf geniale Weise als „Tiggers“ bekannt, im Anklang an den unbändigen | |
| hyperaktiven kleinen Tiger aus den „Pu der Bär“-Geschichten. Aber dieses | |
| Branding gaben sie auf, als sie im März die Parteigründung unter dem Namen | |
| „Change UK“ ankündigten und nunmehr mit dem Kürzel „Chuk“ eher als Fa… | |
| ihres Sprechers und bekanntesten Gesichts, Chuka Umunna, daherkamen. | |
| ## Ex-Bankier gegen den Migrantensohn | |
| Zur Europawahl kehrten sie dann doch wieder zum Kürzel TIG zurück, und sie | |
| könnten auch mit nur 8 oder 9 Prozent dafür sorgen, dass Labour am Ende | |
| hinter die Brexit Party zurückfällt. Sie sprechen ein Publikum an, das | |
| sich ansonsten auf Pro-EU-Demonstrationen wiederfindet: jung und städtisch, | |
| gebildet – und genervt. Ihr Impuls ähnelt spiegelbildlich dem von Farage: | |
| Während dieser „Change Politics For Good“ predigt, sagt Change UK/TIG auf | |
| seiner Webseite: „Politics is broken – let’s change it“ (Die Politik ist | |
| kaputt, lasst sie uns verändern). Die Brexit Party will Großbritannien | |
| „Stolz“ wiedergeben, die TIG „Hoffnung“. | |
| Es ist nicht auszuschließen, dass Change UK/TIG doch noch den Durchbruch | |
| schafft – sofern sich Labour in den eigenen Widersprüchen verstrickt. | |
| Wichtige Labour-Politiker sagen, ihre Partei habe nur dann eine | |
| Siegeschance bei den Europawahlen, wenn sie klar für ein zweites | |
| EU-Referendum eintritt – wogegen sich Jeremy Corbyn sträubt. Sollte Corbyn | |
| endgültig die Rolle des linken Volkstribuns gegen die eines ineffektiven | |
| May-Juniorpartners eintauschen, könnten die „Change UK“-Abweichler Labour | |
| auf ähnliche Weise das Wasser an der Basis abgraben, wie die Brexit Party | |
| es bei den Konservativen tut. | |
| Dann würde Großbritannien den Siegeszug von gleich zwei Bewegungen | |
| außerhalb der traditionellen Parteienlandschaft erleben – sozusagen ein | |
| doppeltes „En Marche“-Phänomen, ein nationalistisches und ein europäische… | |
| ein rechtes und ein linkes, passend zur tiefen Spaltung Großbritanniens in | |
| der Europafrage. Nigel Farage gegen Chuka Umunna, der Ex-Bankier gegen den | |
| Migrantensohn – es wäre ein angemessenes Duell für das globalisierte und | |
| geschäftstüchtige, aber zutiefst verunsicherte und zerrissene | |
| Großbritannien. Sieht so die Post-Brexit-Politik aus? Es könnte für den | |
| Rest Europas ein Fingerzeig sein. | |
| 20 Apr 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dominic Johnson | |
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