# taz.de -- Kommunalwahl in Großbritannien: Aufruhr in Tory-England | |
> Großbritanniens Konservative müssen ihre Hochburgen verteidigen – | |
> ausgerechnet jetzt, wo Theresa May den Brexit in den Sand gesetzt hat | |
Bild: Bedford: trügerische Tory-Idylle | |
Bedford/Swindo/Gravesend/Cuxton taz | Der [1][Brexit] ist festgefahren, der | |
Glaube der britischen Öffentlichkeit an die Politik liegt auf einem | |
Tiefpunkt. Für manche sind die Konservativen nicht mehr glaubwürdig, für | |
andere Labour, für viele sind es beide. Neue versuchen sich dem Volk | |
anzubieten, so die proeuropäische Change UK oder Nigel Farages Brexit | |
Party. | |
Diese beiden stehen aber erst bei den Europawahlen auf den Stimmzetteln und | |
nicht, wenn an diesem Donnerstag in weiten Teilen Englands Kommunalwahlen | |
stattfinden. Da geht es um Gemeindesteuern, leere Einkaufstraßen, | |
Ortskrankenhäuser, Müllabfuhr und Sicherheit. Hier stellen sich nun die | |
Altparteien dem Wahlvolk. | |
Bedford, 75 Kilometer nördlich von London, hat mit seinen 170.000 | |
Einwohnern einen besonderen Status in Großbritannien. Wie hier gewählt | |
wird, stimmt meistens mit der Ausrichtung des Landes als Ganzes überein. | |
Beim Brexit-Referendum 2016 stimmte Bedford 52 zu 48 für den EU-Austritt, | |
haargenau wie das ganze Land. | |
Die Verhältnisse im Stadtparlament gleichen jenen im Londoner Unterhaus: | |
Niemand hat eine Mehrheit, die Konservativen liegen mit 15 zu 14 Sitzen | |
knapp vor Labour, und es gibt elf andere, darunter neun Liberaldemokraten. | |
Nur bei den Parlamentswahlen 2017 lag Bedford ausnahmsweise falsch, als | |
Labours Mohammad Yasin mit nur 789 Stimmen Vorsprung den Wahlkreis holte. | |
Daneben regiert jedoch ein Liberaldemokrat als Bürgermeister. | |
## Bedford: Am besten gar nicht wählen | |
Wie verhalten sich jetzt die Wähler in Bedford? Eine Antwort lautet: | |
Wahlboykott. Das Rentnerehepaar Claire, 75 und Ray 84, sie wollen wie so | |
viele ihren Nachnamen nicht nennen, will nie wieder wählen. | |
Früher waren sie treue Tories. Ihre Stimme für den Brexit sei ihr letzter | |
Akt in Sachen Demokratie gewesen, sagen sie. „Im Ausland lachen sich die | |
Leute über uns Briten kaputt“, glaubt Claire. | |
Viele denken ähnlich. Martin Dodge, ein 57-jähriger Geschäftsmann in einem | |
der vornehmen Stadtbezirke, meint, dass Labour und Konservative wegen der | |
letzten drei Jahre Schocktherapie brauchen. „Vielleicht wähle ich bei den | |
Europawahlen danach sogar Nigel Farage“, sagt er. | |
Nicht ungewöhnlich in Bedford ist auch die Meinung eines Bauarbeiters: | |
„Mein Motto ist inzwischen so, dass ich nur noch die Person wähle, bei der | |
ich glaube, dass sie macht, was sie sagt, ganz egal was. Leute wie Donald | |
Trump.“ | |
Bei Kommunal- und Europawahlen dürfen EU-Migranten mitwählen. „Ich wähle | |
sozialistisch“, versichert der 40-jährige Italiener Claudio Bigani, der | |
seit acht Monaten in Großbritannien lebt. Er meint Labour. | |
Thomas Moran, 47, aus dem benachbarten Luton glaubt auch an Labour – er ist | |
in der Partei aktiv. Aber „es ist kaum mehr möglich, über irgendetwas | |
anderes zu sprechen als Brexit“, sagt er. | |
## Swindon: „Corbyn schon gar nicht“ | |
Wer nach Konsequenzen des Brexit sucht, tippt auf Swindon, eine mittelgroße | |
Stadt mit 182.000 Einwohnern zwischen Oxford und Bristol. Einst | |
Labour-dominiert, regieren heute die Tories. Im Gegensatz zur gepflegten | |
alten Festungsstadt Bedford hat Swindon etwas Verfallenes: Vom Stadtbild | |
her scheint es weder für Drogensüchtige noch Obdachlose viel Hilfe zu | |
geben, die Stadt hätte Erneuerung nötig. | |
Schlagzeilen machte im Februar die Schreckensmeldung, dass der japanische | |
Autobauer Honda seine Präsenz beenden will – mit über 3.000 Arbeitsplätzen. | |
EU-Befürworter*Innen prangerten dies sofort als Konsequenz des Brexit an. | |
Aber Honda dementierte, und keiner der in Swindon Befragten schiebt Hondas | |
Rückzug auf den Brexit. Die Autoindustrie stecke in der Krise, sagen Livia | |
Sutton, 64, und ihr Ehemann Ron, 67, pensionierte Sicherheitskraft. | |
Über die Kommunalwahlen befragt, verlieren sich die beiden in der Politik | |
Westminsters. „Corbyn schon gar nicht“, urteilt Ron, der Exsoldat. Livia | |
entpuppt sich als potentielle Farage-Wählerin. | |
Dan, 28, möchte gar nicht mehr wählen. Seine Stimme sei nur noch für echten | |
gesellschaftlichen Wandel zu haben. „Die meisten Parteien nutzen die Ängste | |
von Menschen mit wenig Bildung voll aus und schieben die Schuld auf | |
Einwanderer“, findet er. | |
## Gravesend: „Farage wäre gut“ | |
Das Thema Brexit findet man eher in Kent südöstlich von London. In | |
Gravesend an der Themse mit 106.000 Einwohnern, wo 2016 stolze 65,5 Prozent | |
den Brexit wählten, hängen über der Haupteinkaufsstraße und vor dem Rathaus | |
merklich viele rot-weiße Englandfahnen. | |
Senioren und Arbeitslose dominieren das Stadtbild. Auch hier ist der Glaube | |
an die Politik untergegangen. Doch es liegt nicht nur an der Londoner | |
Politik. | |
Die hier dominanten Konservativen sind zerrissen: Der Großteil der | |
konservativen Fraktion im Gemeindeparlament, darunter ihr Chef, hat mit | |
Vorwürfen von Einschüchterung gegen ihre Kollegen die Partei verlassen und | |
die Unabhängigen Konservativen gegründet, die sich aber auch untereinander | |
streiten. Am Donnerstag machen sich verschiedene Tories gegenseitig | |
Konkurrenz. | |
Im örtlichen konservativen Klubhaus mit seiner Bar für Mitglieder lässt der | |
Vorsitzende dessen, was vom konservativen Ortsverband noch übrig ist, | |
ordentlich Dampf über [2][Theresa May] ab. „Wir brauchen dringend einen | |
echten, starken Führer, wie Maggie, oder Winston“, sagt der 80-jährige | |
ehemalige Schöffe Alistair Ellis – Margaret Thatcher und Winston Churchill | |
sind gemeint. | |
Danach nennt er Putin und Trump als beispielhaft und landet schließlich bei | |
Hitler, der die deutsche Wirtschaft aus dem Abgrund geführt habe. „Wenn der | |
nicht so ein Idiot gewesen wäre, wäre der gut für alle gewesen“, findet der | |
Alte und fügt an: „Ja, Farage könnte ein guter Premierminister sein.“ | |
## Cuxton: „Genug von Machtspielchen“ | |
Wohin steuert das konservative England? Eine Antwort mag 15 Kilometer | |
hinter Gravesend zu finden sein, in der grünen 2.000-Seelen-Gemeinde | |
Cuxton. „Wir hatten nach Jahren der Vetternwirtschaft der Tories und ihren | |
Machtspielchen genug und gründeten unsere eigene Bürgerpartei“, erzählt die | |
ehemalige Dozentin in Krankenpflege, Kay Hutchfield. | |
ACT (Act for Cuxton Together – Für Cuxton gemeinsam handeln) nannten sie | |
ihren Wählerverband. Angesichts der Aussicht, das Dorf nicht mehr alleine | |
zu regieren, ließen die Konservativen ganz von ihrer Kandidatur ab, erzählt | |
die 68-jährige Hutchfield. | |
So wurden die elf ACT-Kandidat*Innen vollkommen unangefochten die neuen | |
Gemeindevertreter. Die Wahl am Donnerstag wurde für Cuxton unnötig und | |
abgesagt. | |
„Wir wollten bewusst Leute, die frei denken und dafür bekannt sind, Dinge | |
in Bewegung zu setzen“, erzählt Hutchfield. Nun ist Cuxton Englands erste | |
und einzige Gemeinde, die parteiunabhängig von der Bevölkerung regiert | |
wird, behauptet sie. | |
Nicht, dass es irgendjemand außerhalb Kents bisher bemerkt hätte. Aber auch | |
wenn es auf dem Dorf oft nur um eine Ampel geht, oder um Züge, die nachts | |
hupen, ist es ein politischer Neuanfang, der ansteckend sein könnte. | |
30 Apr 2019 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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