# taz.de -- Beschluss nach Vorkaufsrecht-Urteil: Mietenschutz auf der Kippe | |
> Erstmals erlaubt ein Gericht einer Hauseigentümerin, eine | |
> Abwendungsvereinbarung zu kündigen, die Mieter:innen vor Verdrängung | |
> schützen soll. | |
Bild: Im Gericht und im Brettspiel gilt: Wer viel besitzt, gewinnt | |
BERLIN taz | Der Schutz für MieterInnen in Berlin ist möglicherweise | |
durch ein weiteres Gerichtsurteil geschwächt worden. Laut einem am Freitag | |
öffentlich gewordenden Beschluss des Verwaltungsgerichts vom September darf | |
die Eigentümerin der Jonasstraße 24 in Neukölln, die das Wohnhaus erst | |
2019 erworben hat, die Abwendungsvereinbarung kündigen, die die | |
MieterInnen bis dahin zum Beispiel vor Kündigungen wegen Eigenbedarfs | |
schützte. Zuerst hatte der Tagesspiegel eine entsprechende Meldung der | |
Immobilien-Zeitung über den noch nicht rechtskräftigen Beschluss | |
aufgegriffen. | |
Erstmals hat mit dem Beschluss ein Gericht über eine Abwendungsvereinbarung | |
entschieden, die im Zuge des im November 2021 gekippten bezirklichen | |
Vorkaufsrechts zustandegekommen war. Das Vorkaufsrecht erlaubte es Kommunen | |
in sogenannten Milieuschutzgebieten, zum Verkauf stehenden Wohnraum vor der | |
Nase von InvestorInnen wegzuschnappen und die BewohnerInnen so vor | |
Verdrängung zu schützen. Verhindern konnte der Käufer dies nur durch eine | |
Abwendungsvereinbarung, die ihn für längere Zeiträume zur Einhaltung | |
sozialer Standards verpflichtete. | |
Im November vergangenen Jahres kippte das Bundesverwaltungsgericht diese | |
Praxis fast vollständig. Bisher gingen MieterInnenanwälte dennoch | |
[1][davon aus], dass die bereits abgeschlossenen Abwendungsvereinbarungen | |
rechtssicher sind. | |
Das stellt der Gerichtsbeschluss nun infrage – potenziell sind alle 9.300 | |
Wohnungen, die über eine Abwendungsvereinbarung gesichert wurden, bedroht. | |
Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung betont allerdings, es handele | |
sich um ein Einzelfallurteil. Sie hat Beschwerde gegen den Beschluss | |
eingereicht, über den das Oberverwaltungsgericht entscheiden wird. | |
## Vereinbarung grundsätzlich nicht nichtig | |
Zunächst erklärt das Gericht in dem [2][der taz vorliegenden Beschluss], | |
das Kippen des Vorkaufsrechts bedeute keineswegs, dass die beschlossene | |
Abwendungsvereinbarung nichtig ist. Das Gericht interpretiert diese als | |
sogenannten Vergleichsvertrag. In einem solchen legen zwei Vertragsparteien | |
einen Rechtsstreit beiseite, indem sie gegenseitige Zugeständnisse machen – | |
dieser Kompromiss gilt grundsätzlich auch dann, wenn er leicht vom | |
geltenden Recht abweicht. | |
Das Gericht ist allerdings auch der Auffassung, dass sich die Rechtslage | |
seit dem Kippen des Vorkaufsrechts „so wesentlich geändert“ hat, dass | |
„nicht anzunehmen ist, dass die Antragsgegnerin (die Eigentümerin, Anm. d. | |
Red.) die Abwendungsvereinbarung geschlossen hätte“, wäre die aktuelle | |
Rechtslage damals bekannt gewesen. Im Klartext: Das Gericht geht nicht | |
davon aus, dass sich die Eigentümerin freiwillig an die | |
sozialverpflichtenden Standards gehalten hätte. Daraus leitet es ein | |
Kündigungsrecht für die Abwendungsvereinbarung ab. | |
In der Immobilienwirtschaft wird der Beschluss bereits als das Ende aller | |
nervigen Sozialverpflichtungen gefeiert. Im Tagesspiegel erklärte | |
Immobilienanwalt Mathias Hellriegel, „alle“ Abwendungsvereinbarung seien | |
nun „hinfällig“. Seine Kanzlei allein vertrete über 50 Fälle, in denen d… | |
Verträge bereits gekündigt wurden. Nachprüfbar ist das nicht. | |
Tatsächlich sind sich JuristInnen keineswegs sicher, dass der Beschluss | |
derart drastische Konsequenzen hat. Denn das Gericht begründete seinen | |
Beschluss mit Einzelheiten zum Verhandlungsablauf in diesem konkreten Fall. | |
Auch die Verwaltung für Stadtentwicklung ist sich sicher, dass daraus | |
„nicht die Kündbarkeit sämtlicher Abwendungsvereinbarungen“ folgt. | |
## FDP blockiert im Bund | |
Über den Folgen des Beschlusses stehen also noch viele Fragezeichen, die | |
erst durch das Urteil des Oberverwaltungsgericht aufgeklärt werden können. | |
Katrin Schmidberger, mietenpolitische Sprecherin der Grünen, sprach | |
gegenüber der taz dennoch von einer „verheerenden Situation“. Auch wenn der | |
Beschluss nur einen Einzelfall behandle, sei die Gefahr real, dass | |
VermieterInnen nun eine Welle von Kündigungen der | |
Abwendungsvereinbarungen lostreten. | |
Berlin müsse sich juristisch wehren. Gleichzeitig sollten sich die Bezirke | |
mit den Eigentümern zusammensetzen und neue Vereinbarungen treffen. „Wir | |
müssen alles in unserer Macht stehende tun, um Betroffene zu unterstützen“, | |
so Schmidberger. | |
Sofort helfen könnte der Bund. Dort plant man schon länger, den Kommunen | |
das gekippte Vorkaufsrecht zurückzugeben – doch die FDP und ihr | |
Justizminister Marco Buschmann blockieren. Schmidbergers Hoffnung liegt in | |
dieser Situation auf der SPD, die auf Bundes- und Landesebene das | |
Vorkaufsrecht unterstützt. „Wenn die SPD auf Bundesebene ein Machtwort beim | |
Thema Atomkraft sprechen kann, dann sollte es doch auch möglich sein, das | |
beim MieterInnenschutz zu tun“, findet Schmidberger. | |
30 Oct 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Gerichtsentscheidung-zum-Vorkaufsrecht/!5815067 | |
[2] https://openjur.de/u/2453185.html | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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