# taz.de -- Autor über globale Verflechtungen: „Man muss die Wörter schreie… | |
> Er will Sprache entfesseln und schreibt über modernen | |
> Rohstoff-Kolonialismus: Fiston Mwanza Mujila gastiert beim Hamburger | |
> Literaturfest „Europa 24“. | |
Bild: Plädiert für eine plurale Perspektive auf globale Verflechtungen: Fisto… | |
taz: Herr Mwanza Mujila, warum ist es wichtig, Literatur auch laut zu | |
lesen? | |
Fiston Mwanza Mujila: Weil Sprache einen Geschmack hat. Sie kann bitter, | |
süß oder salzig sein, und wenn ich laut lese, versuche ich das zu genießen. | |
Ich glaube, dass Sprache nicht nur eine Seele, sondern auch einen Körper | |
hat, dass sie etwas Physisches ist. Schreiben ist für mich etwas | |
Handwerkliches, ja Haptisches. Ich experimentiere damit und versuche bis zu | |
ihrer Essenz vorzudringen. Deshalb ist es für mich wichtig, manchmal laut | |
zu lesen, mit einem Repertoire an Timbres und Rhythmen. Denn für mich ist | |
der geschriebene Text wie ein Gefängnis, und man muss die Wörter schreien, | |
um sie zu befreien. | |
Jedes Buch ein Gefängnis? | |
Aus meiner Perspektive schon. Ich komme aus einer mündlichen Kultur, und | |
für uns Menschen aus dem Globalen Süden ist „Land“ ein kolonialer Begriff. | |
Vor der Kolonisierung gab es dort keine Länder. Es gab Völker, und jedes | |
hatte sein Gebiet, seine Sprache, seine Weltanschauung. Ich zum Beispiel | |
gehöre dem kongolesischen Luba-Volk an. Da wird viel gesungen, da kann ein | |
Erzähler die gleiche Geschichte 30-mal vortragen, aber jedes Mal kommt | |
etwas Neues heraus. So ist es auch, wenn ich heute meine Texte singe, | |
schreie, rappe: Sie bekommen jedes Mal einen neuen Aspekt. | |
In Ihren Romanen kommen Diamantminen vor, Kolonialismus und Bürgerkriege. | |
Sind Sie ein politischer Autor? | |
Ich empfinde mich nicht als politischen Autor. Ich gehöre eigentlich zur | |
Gruppe 47. Deren Autoren – etwa Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Ilse | |
Aichinger, Siegfried Lenz – schreiben über die Nachkriegsrealität, sind | |
aber nicht unbedingt politische Autoren. Im [1][Kongo] ist es derzeit | |
ähnlich: [2][Nach dem Bürgerkrieg] ist alles zerstört, wir müssen ein Land | |
neu aufbauen. Kongolesische Autoren sind heutzutage Kriegs- beziehungsweise | |
[3][Nachkriegs-Autoren]. Denn wenn ein Land im Krieg ist, liegt es in der | |
Verantwortung des Schriftstellers, davon zu erzählen und das Land sichtbar | |
zu machen. Ich bin in der Mobutu-Diktatur aufgewachsen. Meine Großeltern | |
sind in der Kolonialzeit aufgewachsen. Das heißt, es gibt eine Genealogie | |
der Gewalt. Und Literatur kann diese Gewalt sichtbar machen. | |
Empfinden Sie Verbitterung wegen der Kolonialzeit? Oder ist die lange her? | |
Ich glaube, Traumata können über drei, vier oder fünf Generationen | |
weitergegeben werden. Und der Kolonialismus ist insofern nah, als meine | |
Großeltern in der Kolonialzeit geboren sind. Und die erlebte Gewalt ist wie | |
eine Krankheit, die sich über Generationen fortsetzt. Insofern prägt der | |
[4][Kolonialismus] die Gesellschaften Afrikas bis heute. Und manche Länder | |
sind heute moderne Kolonien, die weiterhin ausgebeutet werden. | |
Haben Sie dafür ein Beispiel? | |
Der Kongo ist reich an [5][Rohstoffen], von denen große Konzerne aus | |
Europa, China oder den USA profitieren. Deshalb ist es meine Aufgabe, als | |
Kongolese, als Betroffener, auch darüber zu schreiben, denn die Krisen der | |
Welt sind ja alle verbunden. Die Tatsache, dass der Regenwald des Kongo für | |
den Abbau von Bodenschätzen abgeholzt wird, wirkt sich im Zuge des | |
Klimawandels auch auf Europa aus. Ganz zu schweigen etwa von Kinderarbeit | |
in Asien, die in Europa [6][Fast Fashion] möglich macht und noch dazu | |
extrem umweltschädlich ist. | |
Sie leben seit 2009 in Graz. Können Sie den Kongo aus der Distanz schärfer | |
sehen? | |
Ich glaube, schon. Das Zentrum für mich als Person, als Schriftsteller ist | |
meine Wohnung, mein Bett. Von hier aus schaue ich auf die Welt – als | |
Kongolese, und als Schwarze Person, die in Europa lebt. Daher ist meine | |
Realität in Europa auch mit Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus | |
verbunden. Aber mein Leben – und die Geschichte Afrikas – ist nicht nur | |
Rassismus, Kolonialismus und Sklaverei. Im Kongo trifft man Leute, die wie | |
ich in Europa leben. Und in Europa trifft man Kinder in Armut und | |
Obdachlose, die im Kongo durch die Familien aufgefangen würden. All diese | |
Realitäten sind verwoben. Deshalb brauchen wir eine globale Solidarität. | |
Wie hat sich Ihr Leben durch Europa verändert? | |
In Europa hatte ich – und das war die größte Überraschung – erstmals das | |
Gefühl: Ich bin schwarz. Bis dahin hatte ich mich keine Sekunde lang | |
schwarz gefühlt. Im Kongo wird Identität über die Genealogie definiert: | |
Wenn ich dort jemanden treffe, ist die erste Frage: „Wessen Sohn bist du?“, | |
und danach erst: „Wie geht es dir?“ Als ich nach Europa kam, war ich | |
plötzlich der Schwarze, der Kongolese, der in Europa lebt. | |
Wie empfinden Sie das heute? | |
Inzwischen sehe ich mich als Europäer. Ich habe in mehreren europäischen | |
Ländern gelebt, spreche drei europäische Sprachen, wohne in Graz und | |
beobachte von dort aus die Welt. Für mich als kongolesischen und | |
frankophonen Schriftsteller ist es spannender, in Mitteleuropa zu leben als | |
etwa in Paris. Denn aufgrund der geographischen Nähe kann ich hier viel | |
lernen über deutschsprachige, osteuropäische, natürlich auch über | |
französische Literatur. Mein Blick ist immer plural, und die Peripherie, in | |
der ich lebe, ist mein Zentrum. | |
Wird Ihre Literatur im Kongo rezipiert? | |
Sie wird gelesen und anerkannt, aber [7][meine Bücher] sind dort schwer zu | |
bekommen. Es ist fast unmöglich, in Kinshasa ein Buch eines europäischen | |
Verlags zu bekommen. Das war schon während meiner Kindheit so. Da gab es in | |
meiner Stadt so wenige Bücher, dass ich dasselbe Buch 50-mal gelesen habe, | |
sogar Koch- und Mathebücher. Mein Durst nach Büchern war riesengroß. | |
Hat sich das geändert? | |
Kaum. Zwar gibt es jetzt das Internet. Bücher sind im Kongo immer noch | |
schwer zu bekommen. Wenn jemand ein Buch hat, wird es im Viertel, in der | |
Stadt zirkulieren. Wenn es dann 20, 30 Leute gelesen haben, sieht es aus | |
wie ein Museumsstück, mit Tomatensoße und Kerzenwachs drauf. Denn auch das | |
hat sich nicht geändert: Wenn es mal ein, zwei Wochen keinen Strom gibt, | |
liest man bei Kerzenlicht. Ich habe Marguerite Duras, Toni Morrison, Böll | |
bei Kerzenschein gelesen, und dabei tropft es eben mal aufs Buch. Aber | |
diese Gebrauchsspuren haben auch etwas Verbindendes. Es ist schön zu | |
wissen, dass viele Leute dieses Buch gelesen haben und es schon an so | |
vielen Orten war. | |
28 May 2024 | |
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## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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