Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Armut im Libanon: Hilfsgelder helfen nicht
> Die rasende Inflation im Libanon verschärft die Not der Menschen.
> Internationale Hilfen landen bei den Banken und korrupten Politikern.
Bild: Schlange an einer Tankstelle in Beirut: Der Staat kann den Treibstoffimpo…
Diesen Text schreibe ich mit der letzten Akkulaufzeit meines Laptops. Nun
geht auch in reicheren Vierteln Beiruts der Strom aus. Bisher war es ein
eingespieltes Prozedere: Wenn es klackt und alle Lichter ausgehen, laufe
ich an den Schalter im Erdgeschoss, um das Stromaggregat einzuschalten.
Doch das funktioniert nicht mehr. Der Generatorenbetreiber kommt nicht an
Benzin, das den Stromerzeuger antreibt.
Wegen der Dieselknappheit lassen die privaten Betreiber die Aggregate für
fünf Stunden täglich ruhen. Der staatliche Strom kommt nur noch zwei
Stunden am Tag. An den Tankstellen bilden sich lange Schlangen, weil der
Staat den Treibstoffimport nicht mehr bezahlen kann.
[1][Der Libanon ist pleite]. Die lokale Währung hat 90 Prozent ihres Wertes
verloren. In den Staatsreserven liegen nicht genügend US-Dollar, um die
Inflation aufzuhalten. So kommt es, dass Importeure Arzneimittel
zurückhalten, weil die Zentralbank die 180 Millionen Dollar zur
Subventionierung nicht herausgibt. Die Regale in den Apotheken leeren sich.
Sogar Milchpulver für Babys gibt es nicht mehr.
Der Staat reduziert die Transaktionen, um die Abwertung aufzuhalten. Das
System sollte der Regierung Zeit kaufen, um die dringendsten Probleme zu
lösen. Doch im Libanon wird nichts gelöst. Dringend nötige Reformen wurden
seit Jahren verschleppt.
## Banken sind mit den Politiker*innen verbandelt
Für die inflationären Preise müssen die Konsument*innen aufkommen.
Krisenprofiteure sind die Banken, die nicht pleitegehen, denn sie geben die
eingezahlten Dollar der Privatkonten nicht aus. Es profitieren auch die
Politiker*innen, die jahrelang fett Kohle machten und das Geld auf
ausländischen Konten bunkerten.
Der Libanon ist das Paradebeispiel dafür, wie kaputt der Kapitalismus ist.
Die Banken sind mit den Politiker*innen verbandelt. Das Bankensystem
basiert auf einem Ponzi-Schema mit utopischen Zinsversprechen. So wurden
Gewinne mit Finanzanlagen gemacht, Immobilien waren Spekulationsobjekte.
Die politische Elite dachte nicht an die Gemeinschaft, sondern sackte
Staatsgelder selbst ein. Nun hungert die Bevölkerung. Laut Weltbank ist
knapp die Hälfte der Libanes*innen arm.
Die Inflation spielt Kriminellen in die Hände: Sie bunkern Mehl,
Medikamente und Benzin, das bisher aus knappen Reserven subventioniert
wurde, um es für das Dreifache im Nachbarland Syrien zu verkaufen. Manche
rechtfertigen den Schmuggel als einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen.
Kurzfristig [2][profitiert auch die schiitische Hisbollah], zugleich Partei
und Miliz. Die Hisbollah hat mancherorts den Sozialstaat ersetzt, sie
finanziert Schulen und Krankenhäuser und hortet nun für ihre Anhängerschaft
Lebensmittel und Benzin. Viele Produkte importiert sie aus dem Iran oder
Syrien. Sie eröffnet Supermärkte, verteilt Essensgutscheine oder Saatgut
zum Selbstanbau und schafft eine Abhängigkeit der Menschen von ihrer Hilfe.
## Unterstützung nur gegen Reformen
Frankreich, Deutschland und der Internationale Währungsfonds (IWF) wollen
den Libanon nur dann finanziell unterstützen, wenn weitreichende Reformen
eingeleitet werden. Doch es gibt seit dem Rücktritt des Kabinetts infolge
der Explosion vor gut einem Jahr keine Regierung, die mit dem IWF
verhandeln könnte.
Anfangs versprach der französische Präsident Emmanuel Macron, Druck auf die
politische Führung aufzubauen. Passiert ist bis heute nichts. Präsident
Michel Aoun und sein Gegenspieler Saad Hariri profitieren von dem
politischen Chaos in Beirut und lassen sich Zeit mit der Regierungsbildung.
Dass keine Hilfsgelder an die Übergangsregierung fließen, ist richtig. Soll
Europa zusehen, wie die Menschen hungern, Medizin fehlt und Lebensmittel
schlecht werden, weil die Kühlkette unterbrochen ist? Leider ja. Denn die
Hilfsgelder kommen nicht an, solange sie über den Staatsapparat laufen.
Nach R[3][echerchen der Nachrichtenagentur Reuters] sind seit Beginn der
Krise 2019 UN-Hilfen in Höhe von mindestens 250 Millionen US-Dollar in
Banken versandet.
Die Banken bekommen das Geld, tauschen die Dollar aber zu einem extrem
schlechten Kurs um. Die Leidtragenden sind Geflüchtete und arme
Libanes*innen, die vom Welternährungsprogramm (WFP) monatliche Auszahlungen
beziehen. Die politische Klasse weiß um die Sorge Europas vor einem
weiteren Erstarken der Hisbollah. Langfristig brauchen die Islamisten
selbst die starke amerikanische Währung, an die sie nur herankommen, wenn
die US-Sanktionen gegen sie gelockert werden.
Je länger der politische Stillstand und der Währungsverfall andauert, desto
schwieriger wird die Versorgung. Die Hisbollah kann zwar Medikamente und
Nahrungsmittel stellen, nicht aber einen Sozialstaat ersetzen, für
bezahlbaren Wohnraum sorgen, für Internet und Strom. Die führenden Parteien
wissen, dass Europa erpressbar ist und dass Berichte über Menschen im
Norden des Landes, die in Boote steigen, [4][um nach Zypern zu flüchten],
in Paris, Berlin und andernorts mit großer Sorge verfolgt werden.
Mit gutem Grund hat [5][Deutschland seit 2012 1,2 Milliarden Euro
Entwicklungsgelder in die libanesische Infrastruktur gepumpt]. Doch das
Geld darf nicht in den Ministerien versacken. Um den Schulen zu helfen,
müssen die Direktor*innen und Lehrkräfte oder auch der Elternbeirat
unterstützt werden; um die Hungerkrise anzugehen, müssen lokale Initiativen
gestärkt werden, die Lebensmittel gezielt in Nachbarschaften verteilen. Um
die Lebensmittelkrise anzugehen, muss Landwirt*innen finanziell geholfen
werden.
Langfristig können zivile Organisationen den Staat nicht ersetzen. Aber
solange der Staat nicht funktioniert, sind Hilfszahlungen an ihn zwecklos.
15 Jul 2021
## LINKS
[1] /Wirtschaftskrise-im-Libanon/!5700059
[2] https://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/hezbollah-has-created-p…
[3] https://news.trust.org/item/20210617094247-a5d9z
[4] https://nowlebanon.com/deadly-escape/
[5] https://www.bmz.de/de/laender/libanon
## AUTOREN
Julia Neumann
## TAGS
Libanon
Saad Hariri
Beirut
Hilfsgelder
Hisbollah
Libanon
Lesestück Recherche und Reportage
Libanon
Libanon
Schwerpunkt Coronavirus
Libanon
Libanon
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Hisbollah
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Libanon
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Streik im Libanon: Ein neuer Tag des Zorns
Im Libanon streiken die Taxi- und Lkw-Fahrer*innen. Sie fordern
bezuschussten Treibstoff. Zugleich protestieren sie gegen die Regierung.
Ein Jahr nach der Explosion in Beirut: Tiefe Narben, keine Gerechtigkeit
Während der libanesische Staat auf allen Ebenen versagt, wird die
Gesellschaft von einzelnen Initiativen zusammengehalten.
Der Libanon ein Jahr nach der Explosion: Das Meer oder die Armut
Seit der Explosion im Beiruter Hafen haben sich die Lebensumstände der
Menschen im Libanon weiter verschlimmert. Ein Ortsbericht.
Jahrestag der Explosion in Beirut: Die Warnungen ignoriert
Die furchtbare Explosion im Hafen von Beirut war kein Unfall. Die führenden
Köpfe von Militär und Politik waren gewarnt – und unternahmen nichts.
IWF-Hilfe zur Pandemiebekämpfung: Geldspritze für den Globalen Süden
Um die Coronakrise zu bewältigen, stockt der Internationale Währungsfonds
seine Kapazitäten um 650 Milliarden US-Dollar auf. Profitieren sollen alle.
Regierungskrise in Libanon: Weiterer Milliardär soll’s richten
Ex-Premier Saad Hariri ist mit der Bildung einer Regierung gescheitert. Nun
soll ein anderer reicher Ex-Premier Libanon aus der Krise führen. ​
Regierungsbildung in Libanon: Hariri gibt es auf
Seit der Beiruter Explosionskatastrophe ist in Libanon eine
geschäftsführende Regierung im Amt. Nun ist die Bildung einer neuen
gescheitert.
Nahost-Diskussion im Libanon: Pro Palästina ohne Wenn und Aber
Im Libanon unterstützen die Menschen die Palästinenser*innen. Viele
sprechen von „asymmetrischem Krieg“ und kritisieren die Medien.
Verbot von Hisbollah-nahen Vereinen: Ein gefährlicher Feind
Mit dem Verbot von drei Hisbollah-nahen Vereinen handelt der Innenminister
richtig. Wer diesen Geld spendet, unterstützt indirekt den Terrorismus.
Deutschland und der Nahostkonflikt: Drei Vereine verboten
Wegen ihrer Nähe zur Hisbollah sind drei Vereine in Deutschland verboten
worden. Es kam zu Durchsuchungen.
Feuer in Libanons Hauptstadt Beirut: Erneut Großbrand im Hafen
Fünf Wochen nach der Explosion von Beirut ist ein Lagerhaus für Öl und
Autoreifen in Brand geraten. Auslöser könnte die Hitze gewesen sein.
Ein Monat nach der Explosion in Beirut: Zimmer mit zu viel Aussicht
Seit der Explosion klafft in der Beiruter Wohnung der Familie al-Khodr ein
Loch. Auch ihr Vertrauen in den Staat ist kaputt.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.