# taz.de -- Der Libanon ein Jahr nach der Explosion: Das Meer oder die Armut | |
> Seit der Explosion im Beiruter Hafen haben sich die Lebensumstände der | |
> Menschen im Libanon weiter verschlimmert. Ein Ortsbericht. | |
Bild: Am Morgen danach: Was vom Beiruter Hafen übrig blieb | |
Beirut taz | An die Hafenmauer von Beirut sind die entscheidenden Fragen | |
gepinselt: Wer, wie, warum – und wie geht es weiter? Dazu die Namen einiger | |
der über 200 Toten, die die Explosion damals hinterlassen hat. | |
Ein paar Hundert Meter von den zerstörten Hafensilos entfernt, in denen vor | |
einem Jahr das dort gelagerte Ammoniumnitrat in die Luft geflogen ist, | |
steht Noaman Kinno auf seinem Balkon und erzählt von [1][dem | |
schicksalshaften Tag]. Wie er, seine Frau und seine Kinder damals verletzt | |
wurden und seine Wohnung zerstört. | |
Er zeigt Fotos auf seinem Handy, von der verwüsteten Wohnung, von den | |
Verletzungen seiner Kinder und denen seiner Frau, die durch einen | |
Glassplitter fast ihr Auge verlor. Von den Verletzungen, meist von | |
zerbrochenen Scheiben, sind nur noch die Narben über. | |
Die seelischen lauern im Verborgenen. „Meine zwei Kinder zucken bis heute | |
zusammen, wenn sie ein lautes Geräusch hören“, erzählt Noaman. Die Wohnung | |
wurde inzwischen wieder renoviert, mit der Unterstützung privater | |
libanesischer Selbsthilfeorganisationen. „Von der Regierung habe ich bisher | |
keinerlei Unterstützung bekommen. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, | |
dass da noch etwas kommt“. | |
## Keine Medikamente, kein Strom | |
Das libanesische Pfund hat seit der Explosion 95 Prozent seines [2][Werts | |
verloren]. In einem Land, in dem so ziemlich alles importiert wird, heißt | |
das, dass auch die Menschen 95 Prozent ihrer Kaufkraft verloren haben. Man | |
sieht es im Apothekenschrank des größten staatlichen Krankenhauses des | |
Landes, der Rafik-Hariri-Universitätsklink, den Muhammad Ismail öffnet. | |
Bei den Präparaten für eine Krebschemotherapie herrscht gähnende Leere. Im | |
Lagerschrank daneben, der für Antibiotika und entzündungshemmende | |
Medikamente bestimmt ist, liegen ein paar vereinsamte Packungen. „Selbst zu | |
den Zeiten des Bürgerkriegs waren unsere Bestände nicht so aufgebraucht“, | |
sagt Ismail. Der Grund ist einfach: Weil der Libanon schon länger nicht | |
mehr seine Rechnungen für die im Ausland gekauften Medikamente bezahlt hat, | |
liefert niemand mehr. | |
Hassan Moaz sieht im Kontrollraum seiner sechs riesigen Generatoren | |
besorgt auf die Temperaturanzeige. Bei 90 Grad schaltet sich der Generator | |
wegen Überhitzung ab. Der Zeiger steht zwischen 88 und 89 Grad, weil die | |
Generatoren zu lange durchlaufen. | |
Im Moment hat das Krankenhaus im Schnitt nur 12 Stunden am Tag Strom aus | |
dem libanesischen Netz, den Rest müssen die Generatoren schaffen. „Ich | |
lasse mich jeden Tag von neuen Herausforderungen überraschen. Vor Kurzem | |
gab es drei Tage lang keinen Strom aus dem Netz, und auch das haben wir | |
überstanden“, erzählt Moaz. | |
## Der Geruch der Krise: Faules Fleisch | |
Auch in der nordlibanesischen Stadt Tripoli, eineinhalb Autostunden von | |
Beirut entfernt, riecht es auf dem Markt nach wirtschaftlichem Kollaps oder | |
besser gesagt: nach verrottetem Fleisch, weil die Kühlketten kaum | |
aufrechterhalten werden können. Das ist ein Grund, warum es im Land | |
vermehrt Lebensmittelvergiftungen gibt. Aber wer kann sich schon Fleisch | |
leisten. | |
Ein paar Meter weiter streift Mitri Azaar um den Wagen eines | |
Gemüsehändlers. Minutenlang studiert er einen Sack Kartoffeln und überlegt, | |
ob er sich das für seine fünfköpfige Familie leisten kann. „Ich habe eine | |
Pension von umgerechnet 55 Dollar. Deswegen baue ich in meinem Garten | |
Gemüse an und kaufe jetzt die Kartoffeln dazu. Fleisch riechen wir nur aus | |
der Ferne“, erzählt der Veteran der libanesischen Armee. | |
Adham Maamaris Tagesgeschäft ist die Armut. Er leitet die | |
Al-Zahraa-Wohlfahrtorganisation in der Stadt mit einem Krankenhaus, einem | |
Waisenhaus und einer Armenspeisung. „Der Mindestlohn lag früher bei | |
umgerechnet 450 Dollar, heute ist er nur noch 37 Dollar wert. Eine Studie | |
besagt, dass man für das Überleben einer vierköpfigen Familie aber | |
mindestens 150 Dollar im Monat braucht“, erläutert er. | |
Schon vor der Krise lebte die Hälfte der Bewohner der Stadt unter der | |
Armutsgrenze. Aber der Kreis jener, die Hilfe benötigen, wird immer größer. | |
„Wir dienen hier normalerweise den Ärmeren am Rande der Gesellschaft. Aber | |
jetzt kommen auch viele Menschen aus der einst gehobenen Mittelschicht zu | |
uns, deren Gehälter oder Renten abgestürzt sind. Ich weiß nicht, wie lange | |
wird das noch schaffen“, klagt er. | |
## Nur die Flucht nach vorne | |
Für Abu Khaled, der in einem kleine Café arbeitet, Abu Osman, Angestellter | |
bei einem Gemüsehändler, und Osama Amir, einem Schweißer, ist das alles | |
weit weg. Vor ein paar Monaten hatten sie sich mit 73 anderen ein Boot | |
gekauft und sich in Richtung Italien aufgemacht. Doch die libanesische | |
Küstenwache hielt sie auf. Ihr Boot wurde konfisziert. | |
Jede Woche, erzählen sie, legen hier Boote ab, meist in Richtung Zypern. | |
„Ich verdiene umgerechnet eineinhalb Dollar am Tag. Sie sagen, über das | |
Meer zu fahren, ist zu gefährlich, aber was ist das für ein Leben hier?“ Er | |
würde es jederzeit wieder versuchen, sagt er, ohne zu zögern. | |
Ammar Maari, der mit seiner Wohlfahrtorganisation das Schlimmste mildern | |
will, meint, es werden sich bald noch viel mehr Menschen aus dem Libanon | |
auf den Weg nach Europa machen. Er fasst die Optionen vieler Libanesen in | |
einem Satz zusammen: „Das Meer liegt vor und die Armut hinter dir.“ | |
4 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Explosion-im-Libanon/!5705536 | |
[2] /Wirtschaftskrise-im-Libanon/!5700059 | |
## AUTOREN | |
Karim El-Gawhary | |
## TAGS | |
Libanon | |
Wirtschaftskrise | |
Explosion | |
Beirut | |
Schwerpunkt Armut | |
GNS | |
Libanon | |
Libanon | |
Libanon | |
Beirut | |
Libanon | |
Libanon | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Explosion von Treibstofftank im Libanon: Mindestens 28 Tote | |
In der Region Akkar im Norden Libanons ist ein Treibstofftank explodiert. | |
Die Armee hatte zuvor Soldaten entsandt, um die Benzinverteilung zu | |
kontrollieren. | |
Libanon ein Jahr nach der Explosion: Erst die Stille, dann „Revolution“ | |
Am Jahrestag der Detonation im Hafen gedenken die Menschen in Beirut den | |
Opfern. Bei Protesten fordern sie einen Systemwandel. | |
Geberkonferenz in Paris: Heftige Kritik an Libanons Eliten | |
Bei einer Hilfskonferenz für das Land findet Frankreichs Präsident scharfe | |
Worte gegen die Führungsriege. Dennoch kündigt er Hilfsgelder an. | |
Ein Jahr nach der Explosion in Beirut: Der große Knall und die Gründe | |
Vor einem Jahr explodierten tonnenweise Chemikalien im Hafen von Beirut. | |
Für die Katastrophe sollen Korruption und Mafia verantwortlich sein. | |
Regierungskrise in Libanon: Weiterer Milliardär soll’s richten | |
Ex-Premier Saad Hariri ist mit der Bildung einer Regierung gescheitert. Nun | |
soll ein anderer reicher Ex-Premier Libanon aus der Krise führen. | |
Armut im Libanon: Hilfsgelder helfen nicht | |
Die rasende Inflation im Libanon verschärft die Not der Menschen. | |
Internationale Hilfen landen bei den Banken und korrupten Politikern. |