# taz.de -- Angehöriger der Hamas-Geiseln: „Uns läuft die Zeit davon“ | |
> Noch immer hat die Hamas rund 230 israelische Geiseln in der Gewalt. Die | |
> Angehörigen warten auf ein Lebenszeichen – wie der Historiker Yuval | |
> Dancyg. | |
Bild: Yuval Danzyg (li) bei an einer Demonstration in Warschau vor dem POLIN-Mu… | |
POTSDAM taz | Es ist acht Uhr morgens, als Yuval Dancyg die ersten | |
Nachrichten im Fernsehen sieht. An jenem 7. Oktober, vor genau einem Monat, | |
realisiert der 42-Jährige, dass etwas Schreckliches vor sich geht. | |
Hamas-Terroristen haben Kibbuzim nahe dem Gazastreifen angegriffen. Dancygs | |
Familie lebt im Kibbuz Nir Oz. Er versucht seinen Vater, seine Schwester, | |
seinen Schwager zu erreichen. „Es gab einen Terrorangriff“, heißt es in | |
einer Nachricht an Yuval Dancyg. Dann bricht der Kontakt ab. | |
Erst Stunden später wird klar: Zwölf Familienmitglieder haben wie durch ein | |
Wunder überlebt, Alex Dancyg, Yuvals Vater, wurde von der Hamas nach Gaza | |
verschleppt. Das letzte Lebenszeichen bekam die Familie vor mehr als drei | |
Wochen. Seitdem wissen sie nicht, wo genau er sich befindet oder ob er | |
überhaupt noch lebt. Der 75-Jährige ist herzkrank, braucht regelmäßig | |
Medikamente. | |
Yuval Dancyg spricht an diesem Montag, rund vier Wochen nach der | |
Terrorattacke, im Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin. Er will auf das | |
Schicksal seines Vaters und [1][das der anderen rund 230 Geiseln] | |
aufmerksam machen. Alex Dancyg ist Historiker, arbeitete für die | |
Gedenkstätte Yad Vashem, kümmerte sich um die polnischsprachige | |
Bildungsarbeit. An diesem Abend sind viele gekommen, die Dancygs Arbeit gut | |
kennen, seine Expertise schätzen, seine Publikationen mit in ihre Forschung | |
einfließen lassen, mit ihm zusammenarbeiteten. | |
Yuval Dancyg ist nach Berlin gekommen, damit die Geschichte seines Vaters, | |
das Schicksal der Geiseln nicht der Nachrichtenlage weicht und in | |
Vergessenheit gerät. Er war bei Politiker:innen in Italien, in Polen, | |
da sein Vater aus Polen stammt. Jetzt ist er in Deutschland. Er hofft auf | |
ihre Unterstützung, dass sie zuhören. Und er fordert: „Verhandelt mit | |
Katar. Verhandelt mit der arabischen Welt, damit die Geiseln freikommen.“ | |
Er weiß, dass Diplomatie Zeit braucht, und wird nicht müde zu betonen, dass | |
die Politik ihm die Türen öffnet und sich einsetzt. „Aber uns läuft die | |
Zeit davon“, sagt er. Und Yuval Dancyg hat noch ein Anliegen an die | |
deutsche Bevölkerung: „Die Menschen hier verstehen nicht, was uns | |
widerfahren ist.“ | |
## Enttäuscht über das Schweigen der Zivilgesellschaft | |
Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) versichert der Familie die | |
Solidarität des Bundestags. Sie spricht von einem Pogrom, das Israel am 7. | |
Oktober widerfahren ist, 85 Jahre nach der Reichspogromnacht. Die | |
brandenburgische Wissenschaftsministerin Manja Schüle (SPD) beteuert, dass | |
man keinerlei Antisemitismus, Terror und Gewalt in Deutschland toleriere – | |
und spricht von einer „moralischen Verwirrung“, die derzeit offenbar in der | |
Gesellschaft herrscht. | |
Und doch begleiten die Eindrücke des vergangenen Wochenendes an diesem | |
Montag am Wannsee die Erzählung Dancygs vom Schicksal seines Vaters. Auf | |
Demonstrationen bundesweit zeigten Anhänger:innen auf irritierende | |
Weise, wie sehr sie Israel das Recht auf Selbstverteidigung absprechen und | |
islamistische Strömungen befürworten. Die Enttäuschung über das Schweigen | |
der Zivilgesellschaft ist bei allen Redner:innen zu spüren. | |
Yuval Dancyg zeigt ein Foto des Hauses, in dem seine Familie wohnte. Es ist | |
ein Bild der Zerstörung, ein ausgebombtes und ausgebranntes Zimmer, die | |
Terroristen haben den Kibbuz unbewohnbar hinterlassen. Nur durch einen | |
Zufall schafften es seine Schwester und ihre Familie aus dem „safe room“ in | |
ihrem Haus zu entkommen – und weder zu ersticken noch erschossen zu werden. | |
Wie bei vielen anderen Häusern, warfen die Terroristen Handgranaten in die | |
Wohnungen, versuchten die Menschen auszuräuchern und dann zu töten, wenn | |
sie fliehen wollten. Es geht nicht nur um die Verschleppung der Geiseln, um | |
die Gewalt, es geht darum, dass ein Weiterleben im Zuhause seiner Familie | |
und aller anderen Kibbuzbewohner:innen unmöglich gemacht wurde. „Das | |
war nicht nur die Hamas. Es waren auch Zivilisten“, sagt Yuval Dancyg. Er | |
spielt damit auf Berichte an, wonach Zivilisten die Terrorakte der Hamas | |
untertützen, Häuser plünderten oder sich direkt beteiligten. | |
Seine Familie im Kibbuz hat überlebt. Sie ziehen nun von Hotel zu Hotel – | |
und warten auf Unterstützung von der israelischen Regierung. Derzeit bleibt | |
diese noch aus. Aber Yuval Dancyg setzt darauf, dass sie kommt. „[2][Unsere | |
Regierung] ist jetzt im Krieg“, sagt er. | |
Ob überhaupt und wann seine Familie wieder zurück in den Kibbuz kann, ist | |
ungewiss. Klar ist nur, es wird sehr lange dauern. Ein Jahr oder mehr, sagt | |
Yuval Dancyg. Und wie sieht er die Zukunft Israels? Der 42-Jährige hat auf | |
jede andere Frage aus dem Publikum zu seiner Familie eine irritierend | |
gefasste, fast schon routinierte Antwort parat. So auch auf diese: „Israel | |
wird bleiben.“ | |
8 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tanja Tricarico | |
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