| # taz.de -- Bodenoffensive in Gaza: Verhandeln statt vergelten | |
| > Trotz gefallener Soldaten steht die Mehrheit der Israelis hinter der | |
| > Bodenoffensive in Gaza. Widerspruch kommt von Angehörigen der Opfer. | |
| Bild: Zur Beerdigung des Soldaten Lavi Lipschitz kamen Befürworter und Gegner … | |
| JERUSALEM taz | Das letzte Foto auf Lavi Lipschitz’ Instagram-Kanal ist vom | |
| 6. Oktober 2023, dem Vorabend des Terrorangriffs der Hamas. Zu sehen sind | |
| zwei dösende Hunde vor einer Baracke auf dem Armeeposten „Karmei Tzur“ nahe | |
| der gleichnamigen israelischen Siedlung im besetzten Westjordanland. | |
| Tag für Tag dokumentierte der 20-jährige Wehrpflichtige und Kunstschüler | |
| seinen Alltag: Patrouillen, Wachdienste und Kochabende zwischen | |
| Sperranlagen und Checkpoints. Knapp einen Monat später ist der junge | |
| Fotograf einer der ersten gefallenen Soldaten der israelischen | |
| Bodenoffensive. Er wurde am 31. Oktober bei Kämpfen im Norden Gazas | |
| getötet. | |
| „Ich bete, dass es nicht umsonst war“, schreibt jemand unter Lipschitz’ | |
| letztem Foto. Die Bilder stammen aus einer Zeit, als Armee und | |
| Sicherheitskräfte den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern zwar | |
| nicht lösen konnten, den meisten Menschen auf israelischer Seite aber das | |
| Gefühl eines mehr oder weniger sicheren Lebens vermittelten. Regelmäßige | |
| Razzien im Westjordanland und die weitgehende Abriegelung des | |
| Gazastreifens hielten die Lage vermeintlich unter Kontrolle. | |
| Der Überraschungsangriff der radikalislamischen Hamas, der Israels | |
| Sicherheitsapparat unvorbereitet traf, hat die gefühlte Sicherheit | |
| zerschlagen. Für Israel war es der schlimmste Terrorangriff seit der | |
| Gründung des Staates: Mehr als 1.400 Israelis, größtenteils Zivilisten, | |
| wurden in ihren Dörfern und [1][auf einem Musikfestival ermordet], mehr als | |
| 240 als Geiseln verschleppt. | |
| Bei den darauffolgenden israelischen Luftangriffen starben seit | |
| Kriegsbeginn nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums | |
| über 9.000 Menschen, [2][mehr als ein Drittel von ihnen Kinder]. | |
| ## Bereit, einen hohen Preis zu zahlen | |
| Am 1. November regnet es in Strömen, während sich Hunderte auf dem | |
| Soldatenfriedhof am Jerusalemer Herzlberg versammeln, um Lipschitz zu | |
| verabschieden. „Ich kenne die meisten eurer Gesichter nicht, danke, dass | |
| ihr für uns gekommen seid“, sagt sein Vater unter Tränen am Grab. Aus den | |
| Gesichtern der Anwesenden sprechen Fassungslosigkeit, Trauer und Wut. „Wir | |
| haben immer versucht, diese Welt zu einem besseren Ort zu machen“, sagt | |
| Lipschitz’ jüngerer Bruder nach Worten ringend. | |
| Israels Armeeführung und die Regierung haben zwei Ziele formuliert: Die | |
| Geiseln zurückholen und die Hamas vernichten. Eine Entführte konnten die | |
| israelischen Truppen seit dem [3][Beginn der Bodenoffensive vor rund einer | |
| Woche] befreien. Insgesamt 23 israelische Soldaten sind bisher gefallen. | |
| Trotzdem wird die harte militärische Antwort auf den Terror der Hamas von | |
| einer Mehrheit in Israel mitgetragen. „Wir haben getan, was wir konnten, | |
| wir sind 2005 aus Gaza abgezogen und jetzt kommt die Hamas und schlachtet | |
| uns ab“, sagt Ayelet Schachar, eine Freundin der Familie Lipschitz, nach | |
| der Beisetzung. | |
| Sie habe fünf Jahre lang in Versöhnungsprojekten mit Palästinensern | |
| gearbeitet, sei mit einer gemischten Gruppe nach Nordirland gereist, um zu | |
| lernen, wie der Konflikt beizulegen sei. „Jetzt denke ich: Wir müssen die | |
| Hamas auslöschen und dann hoffen, dass sie danach jemand anderen wählen.“ | |
| Einer der jungen Soldaten unter den Trauergästen stimmt ihr zu: „Wir haben | |
| die Mittel und die moralische Rechtfertigung und wir werden gewinnen“, sagt | |
| er. „Aber es wird wahrscheinlich viele Leben kosten.“ | |
| ## Das Bedürfnis nach Rache ist groß | |
| Wie die beiden fühlen viele Israelis, von rechtsaußen bis links. Manche | |
| gehen sogar noch weiter. Der Komiker Guy Hochman forderte in einem | |
| Interview mit dem israelischen Sender Kanal 12: „Wir werden noch unser | |
| ganzes Leben trauern können. Jetzt gibt es nur ein Ziel: Rache nehmen.“ | |
| Israel hat in der Vergangenheit oft große Zugeständnisse gemacht, um eigene | |
| Staatsbürger zu befreien. 1985 ließ es 1.150 Palästinenser im Austausch für | |
| 3 gefangene israelische Soldaten frei. Unter ihnen war der spätere | |
| Hamas-Gründer Ahmad Jassin. | |
| 2011 wurde der Soldat Gilad Shalit nach fünf Jahren in den Händen der Hamas | |
| gegen mehr als 1.000 palästinensische Gefangene ausgetauscht. Viele der | |
| damals Freigelassenen haben den Terrorangriff vom 7. Oktober mitgeplant und | |
| ausgeführt. [4][Bisher wird öffentlich wenig darüber gesprochen, welche | |
| Zugeständnisse Israel für eine Freilassung der rund 240 Geiseln bereit wäre | |
| zu machen]. | |
| ## Nicht den eigenen Schmerz nutzen, um anderen Schmerz zuzufügen | |
| Wenige Meter neben Lipschitz’ Grab liegt dessen Schulfreund Amir Lavi | |
| begraben, der beim Überfall der Hamas in einer Armeebasis nahe Gaza getötet | |
| wurde. Neben dem schlichten Grab aus weißem Kalkstein steht die | |
| Kunstlehrerin Adi, die die beiden jungen Männer an der Akademie der Künste | |
| und Wissenschaften unterrichtet hat. | |
| In seiner letzten Nachricht habe Lipschitz ihr geschrieben, er könne den | |
| Tod seines Freundes nicht fassen, sagt sie. Er habe mit der Kunst | |
| weitermachen wollen, jetzt wo Amir es nicht mehr konnte. „Er hat es nicht | |
| geschafft, jetzt bleiben uns nur noch seine Fotos.“ Unter den Soldaten in | |
| Gaza seien viele ihrer Schüler. „Doch ich fühle vor allem Trauer – für a… | |
| Seiten.“ | |
| Je länger der Krieg in Gaza dauert, desto lauter werden in Israel Stimmen | |
| wie die von Adi, die sich weigern, ein Leid mit dem anderen aufzuwiegen. | |
| Überraschend viele von ihnen sind Menschen, deren Angehörige von der Hamas | |
| ermordet oder [5][nach Gaza verschleppt wurden]. | |
| Zu ihnen zählt etwa Noy Katsman, deren Bruder Chaim im Kibbutz Holit | |
| ermordet wurde. Chaim war Aktivist und Gegner der israelischen Besatzung | |
| des Westjordanlandes. In ihrer Trauerrede bei der Beerdigung beschwor Noi | |
| Katsman, nicht „unsere Toten und unseren Schmerz zu nutzen, um anderen | |
| Menschen und anderen Familien Tod und Schmerz zuzufügen“. Der einzige Weg | |
| nach vorne seien „Freiheit und Gleichberechtigung“. | |
| Ziv Stahl, Leiterin der Menschenrechtsorganisation Jesch Din, die das | |
| Hamas-Massaker in einem Schutzraum in Kfar Aza überlebte, schrieb in der | |
| Zeitung Ha’aretz: „Ich brauche keine Rache, nichts wird die Getöteten | |
| zurückbringen.“ | |
| ## „Wenn wir so weitermachen, stehen wir in 20, 30 Jahren wieder am selben | |
| Punkt“ | |
| Rund 50 Kilometer westlich vom Herzlberg in Tel Aviv sitzt Yonatan Ziegen | |
| erschöpft auf dem Sofa. Er schlafe kaum noch und wenn, dann schlecht, | |
| erzählt er. Auf seinem Telefon zeigt er die letzten Nachrichten, die er von | |
| seiner Mutter Vivian Silver bekommen hat. „Sie sind jetzt im Haus“, schrieb | |
| die 74-Jährige am 7. Oktober um 10.41 Uhr aus ihrem Schutzraum im Kibbuz | |
| Be’eri. | |
| „Ich bin bei dir“, antwortete ihr Sohn. | |
| „Ich fühle dich“, schrieb Silver um 10.54 Uhr. | |
| Dann nichts mehr. | |
| Weil bis heute keine der Leichen als Vivian Silver identifiziert wurde, | |
| geht der 35-Jährige davon aus, dass seine Mutter sich in den Händen der | |
| Hamas befindet. Trotzdem ist der Mann mit dem dichten Vollbart gegen den | |
| Krieg in Gaza. „Rache ist keine Strategie“, sei stets das Motto seiner | |
| Mutter gewesen. „Wir brauchen nicht noch mehr tote Babys in Gaza, wir | |
| brauchen eine Veränderung, einen Waffenstillstand und Verhandlungen“, sagt | |
| Ziegen, der selbst drei Kinder hat. | |
| Dass die Armee eine Geisel befreit habe, gebe ihm keine Hoffnung. Im selben | |
| Zeitraum seien „ein Dutzend Soldaten und wer weiß wie viele Palästinenser“ | |
| getötet worden. „Wenn wir so weitermachen, werden viele Geiseln sterben, | |
| Gaza wird ausgelöscht und nichts wird sich ändern“, sagt Ziegen. „Dann | |
| stehen wir in 20, 30 Jahren wieder am selben Punkt.“ Das alte Denken habe | |
| die Situation erst geschaffen und müsse sich ändern. | |
| ## Silver hat die Möglichkeit des Friedens gelebt | |
| In den Kibbuz-Siedlungen rund um Gaza leben traditionell viele Menschen, | |
| die zur Friedensbewegung gehören. „Meine Mutter hat in ihrer Freizeit | |
| Patienten aus Gaza ins Krankenhaus nach Jerusalem oder Tel Aviv gefahren“, | |
| sagt Ziegen. | |
| Lange leitete sie NISPED, eine arabisch-jüdische Organisation für Frieden | |
| und Entwicklung zusammen mit Cher Albaz, einem Beduinen. Nach dem Gazakrieg | |
| 2014 gründete die damals 65-Jährige mit den kurzen, grauen Haaren die | |
| Organisation Women Wage Peace (Frauen schaffen Frieden) mit dem Ziel, die | |
| israelische Regierung zu Friedensverhandlungen mit den Palästinensern zu | |
| bewegen. | |
| Trotz allem habe seine Mutter nie gepredigt, sagt Ziegen, der im Kibbuz | |
| Be’eri wenige Kilometer von Gaza entfernt aufwuchs. „Wir haben einfach die | |
| Möglichkeit einer gemeinsamen Gesellschaft und des Friedens gelebt.“ Er | |
| erinnere sich an einen Ausflug nach Gaza mit einem palästinensischen | |
| Kollegen seiner Mutter. Er sei elf oder zwölf Jahre alt gewesen, 1999 etwa. | |
| Es habe eine Tour durch Gaza-Stadt und zum Strand gegeben sowie ein Essen | |
| bei der Familie des Kollegen. „Ich erinnere mich an Farben, aufregende | |
| Gerüche, geschäftige Märkte.“ Kurz darauf sei die zweite Intifada, der | |
| große palästinensische Volksaufstand, ausgebrochen. | |
| ## Beide Seiten müssen Zugeständnisse machen | |
| „Katastrophen bringen Veränderung“, sagt Ziegen. „Und ich möchte, dass | |
| diese eine Veränderung zum Guten bewirkt.“ Er sei kein großer Fan von | |
| Jitzchak Rabin, aber ihm sei es gelungen, sich vom Soldaten zum Anführer zu | |
| wandeln. Noch in den 1980er Jahren hatte er in der arabischen Welt wegen | |
| seines harten Vorgehens als Verteidigungsminister in der ersten Intifada | |
| den Beinamen „Knochenbrecher“ erhalten. Später war es derselbe Rabin, der | |
| mit Jassir Arafat in den 1990er Jahren die Oslo-Abkommen aushandelte. | |
| „Wenn dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, dann wird jedes Problem ein | |
| Nagel“, sagt Ziegen. „Rabin hat es geschafft, seinen Werkzeugkoffer zu | |
| erweitern.“ Es sei eine Tatsache, dass die bisherige Strategie gescheitert | |
| sei. Das müssten die extremistischen Politiker heute akzeptieren oder | |
| gehen. | |
| Israel müsse den Palästinensern die Möglichkeit geben, sich selbst zu | |
| regieren und die Palästinenser müssten die Illusion aufgeben, zu den | |
| Verhältnissen vor Israels Gründung zurückzukehren. „Der Preis ist für bei… | |
| hoch.“ Es müsste sehr viel passieren, damit das Gefühl von Sicherheit und | |
| damit die Vertriebenen in die Kibbuzim zurückkehren könnten. | |
| „Aber ich glaube, es ist möglich“, sagt Ziegen. Seine Vision sei, dass | |
| Israelis eines Tages wieder als Touristen an den Strand von Gaza kommen | |
| könnten. | |
| ## „Als ob ich durch einen großen Friedhof gelaufen wäre“ | |
| Am Donnerstag kehrte Ziegen das erste Mal seit dem Massaker selbst in | |
| seinen Kibbuz zurück, der wegen des Krieges in einer Sperrzone liegt. „Das | |
| war eine schwere Erfahrung, als ob ich durch einen großen Friedhof gelaufen | |
| wäre“, erzählt er. „Surreal, in der Asche der Häuser nach Körpern Aussc… | |
| zu halten oder sich vorzustellen, wie ihre letzten Stunden in unserem | |
| Zuhause aussahen.“ | |
| Doch er habe es mit eigenen Augen sehen und fühlen müssen. Erst wenn die | |
| Trauer und der Schmerz einen Platz gefunden hätten, sagt Ziegen, sei Raum | |
| für die Frage, wie es besser werden kann. | |
| 4 Nov 2023 | |
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| Felix Wellisch | |
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