| # taz.de -- Altkanzler in den 90er Jahren: Neues vom Gazprom-Gerd | |
| > In den 1990ern habe ich Gerhard Schröder als hilfbereiten Menschen | |
| > kennengelernt. Das ist nun vergessen, ebenso wie die Zusammenhänge aus | |
| > den Balkankriegen. | |
| Bild: Jung und knackig: Schröder im November 1995 | |
| Gerhard Schröder werden jetzt also sein Büro, die Apanage, die Mitarbeiter | |
| gestrichen, die in Deutschland jedem Ex-Regierungschef gewohnheitsmäßig | |
| zustehen. Praktisch wird das wohl nicht viel ändern, denn Berichten zufolge | |
| herrscht in Schröders Büro längst gähnende Leere, nachdem die ihm | |
| zugeteilten Amtspersonen den Dienst wütend quittierten. Auch [1][Schröder] | |
| selbst sei in den Gängen seit Monaten nicht gesehen worden, ist zu hören, | |
| was verständlich ist: Wenn da keiner mehr ist, findet er wohl nicht einmal | |
| den Lichtschalter, er müsste sich den Espresso selbst brühen, und wer will | |
| schon in der toten Atmosphäre des leeren Offices rumhängen? | |
| Ich male mir das so aus: Da gibt’s irgendwo eine Etage für ausrangierte | |
| Diener des Volkes, und der Schröder-Trakt ist seit Monaten menschenleer. | |
| Staub legt sich über die Einrichtung, die Zimmerpflanzen lassen betrübt die | |
| Blätter fallen, Mäuse und Spinnen holen sich das Territorium zurück, eine | |
| gespenstische Stimmung. Selbst die Leute von der Gebäudesicherheit betreten | |
| die knarrenden Gänge nur mit Widerwillen. Die Wände atmen den sozialen Tod | |
| aus, den ihr Bewohner erlitt. Schröder selbst hüllt sich weitgehend in | |
| Schweigen, schreibt verbitterte Briefe, allein der New York Times gab er | |
| ein Interview, das von einer deprimierenden Entrücktheit war. Viele fanden | |
| es skandalös. Mich machte es vor allem traurig. | |
| Das liegt an meiner menschenfreundlichen Natur, aber auch an meinem Status | |
| als Zeitzeuge. In den neunziger Jahren war Schröder Ministerpräsident in | |
| Niedersachsen und ich Berlin-Korrespondent eines Wiener | |
| Nachrichtenmagazins, ich habe ihn ein paar dutzend Male getroffen, | |
| regelmäßig mit ihm telefoniert, in kleineren und größeren Kreisen mit ihm | |
| zusammengesessen. Anders als sein Parteirivale Oskar Lafontaine – der | |
| quasi die Personifizierung des Unsympathen war – hatte Schröder nicht nur | |
| diese schulterklopfende Freundlichkeit, sondern auch eine egalitäre Ader, | |
| die mich für ihn einnahm. | |
| Er begegnete den Leuten als Gleiche, belehrte nicht. Und wenn ich mal meine | |
| Journalisten-Identität gegen meine Aktivisten-Identität wechselte, konnte | |
| man von ihm auch als Kanzler noch unkompliziert Unterstützung erlangen, wie | |
| seinerzeit, als die Wiener linke Zivilgesellschaft gegen die | |
| Rechtsregierung von ÖVP und FPÖ revoltierte. All das ist mehr als zwanzig | |
| Jahre her und dieser Schröder ist in Vergessenheit geraten, in Erinnerung | |
| ist nur mehr der „Basta“-Schröder, der Genosse-der-Bosse-Schröder, zuletzt | |
| der [2][Putin-Schröder] und Gazprom-Gerd. | |
| ## Die Vorgeschichte fehlt | |
| Apropos vergessen: Es gibt ein aktives Vergessen, das die Geschichte | |
| mittels selektiver Erinnerung strukturell falsch erzählt. Die Nato ist | |
| böse, hat schreckliche Großmachtpolitik betrieben, Kriege entfacht, | |
| Russland gedemütigt und so weiter, ist heute oft zu hören. Einen | |
| völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf Serbien hat die Nato gestartet. Aber | |
| es wird eben die lange Vorgeschichte vergessen. | |
| Die Vorgeschichte war: Im blutigen Bosnienkrieg hat man den Gewaltorgien | |
| jahrelang zugesehen und genozidale Verbrechen wie in [3][Srebrenica] | |
| geschehen lassen. Der Völkermord in Ruanda wurde nicht gestoppt, obwohl es | |
| möglich gewesen wäre. Dieses Versagen war das große Trauma des westlichen | |
| Linksliberalismus der neunziger Jahre. | |
| Nur vor diesem Hintergrund war die Entscheidung erklärbar, im | |
| Kosovo-Konflikt nach einigen wenigen Gräueltaten zu intervenieren. Die | |
| Nato-Länder griffen ein, ohne dass sie dafür ein Mandat durch die UN | |
| erhalten hatten. Möglicherweise war das nicht schlau. Ich persönlich halte | |
| es immer noch für richtig, aber vielleicht liege ich damit ja falsch. Der | |
| Punkt ist nur: Ohne diese Vorgeschichte von Nicht-Intervention mit fatalen | |
| Folgen ist das ja alles gar nicht verstehbar. | |
| Es macht mich auch müde, wenn heute Kommentator*innen über die Grünen | |
| staunen, dass die „von Pazifismus auf Olivgrün“ gewechselt hätten. Hallo? | |
| 1999 hat ein grüner Parteitag (!) einem Kriegseintritt zugestimmt. Joschka | |
| Fischer bekam einen Farbbeutel ans Ohr. Alles vergessen offenbar. | |
| 21 May 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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