| # taz.de -- AKW Saporischschja: Raub eines Atomkraftwerks | |
| > Die Lage im AKW Saporischschja ist heikel. Personal steht unter Stress, | |
| > die Stromversorgung ist prekär. Was passiert, wenn Russland die Reaktoren | |
| > übernimmt? | |
| Bild: Das AKW Saporischschja Anfang August, Aufnahme des russischen Verteidigun… | |
| Niemand zieht beim Bau von Atomkraftwerken in Betracht, dass sie eines | |
| Tages in einem Kriegsgebiet stehen könnten. Ein folgenschwerer Fehler, wie | |
| wir in der Ukraine sehen: Saporischschja ist nicht dafür ausgelegt, | |
| militärischen Angriffen zu widerstehen. Selbst die Internationale | |
| Atomenergie-Organisation (IAEA), eigentlich eine Verfechterin der | |
| Atomkraft, [1][warnt vor einer nuklearen Katastrophe im größten AKW | |
| Europas]. Die Vereinten Nationen fordern aufgrund der außerordentlich | |
| sensiblen Lage eine entmilitarisierte Zone im und um das Atomkraftwerk. | |
| Leider zeichnet sich derzeit keine Lösung der angespannten Lage ab. | |
| Dabei sind Atomkraftwerke völkerrechtlich besonders geschützt. Nach einem | |
| Zusatzprotokoll der Genfer Konvention zum Schutz der Bevölkerung bei | |
| bewaffneten Konflikten sollten Bauten, von denen eine besondere Gefahr | |
| ausgeht – wie Staudämme oder Atomkraftwerke –, in kriegerische Handlungen | |
| nicht einbezogen werden. Doch weder die Genfer Konvention noch die dauernde | |
| Anwesenheit von IAEA-Inspekteur:innen kann derzeit den weiteren Beschuss | |
| des Atomkraftwerks verhindern. Eine Notstandswarte steht nicht mehr der | |
| Reaktorsicherheit zur Verfügung, weil dort Militär einquartiert ist. | |
| Besonders kritisch ist, dass die ukrainische Bedienmannschaft einem kaum | |
| vorstellbaren Stress ausgesetzt ist. Früher arbeiteten bis zu 11.000 | |
| Menschen in dem großen Kraftwerkskomplex, jetzt seien es noch etwa 1.000 | |
| ukrainische Mitarbeiter:innen, wird berichtet. Dieser Schwund stellt ein | |
| schwerwiegendes Sicherheitsproblem dar. Die uneingeschränkte | |
| Einsatzfähigkeit einer Belegschaft eines Atomkraftwerks ist von | |
| entscheidender Bedeutung. | |
| Der erste große Kernschmelzunfall in einem großen Atomkraftwerk, der Unfall | |
| von Three Mile Island bei Harrisburg 1979, war eskaliert, weil die | |
| Bedienmannschaft den Zustand des Reaktors nicht richtig interpretieren | |
| konnte. Erst nach Schichtwechsel wurden die Probleme erkannt und richtige | |
| Gegenmaßnahmen eingeleitet. Harrisburg war eine Mahnung: Um die vielen | |
| Informationen in einer Schaltwarte, auch einander scheinbar | |
| widersprechende, korrekt zu lesen, braucht es ein außerordentlich hohes Maß | |
| an Konzentration. Wie soll das bei den Umständen, die in Saporischschja | |
| herrschen, gewährleistet sein? | |
| ## Ein AKW braucht auch ausgeschaltet Kühlung | |
| Ein weiteres Problem beim Atomkraftwerk Saporischschja sind die zerstörten | |
| Anbindungen an das Stromnetz. Ein Atomkraftwerk muss auch im | |
| ausgeschalteten Zustand gekühlt werden und braucht dafür sehr viel Strom, | |
| der im Normalbetrieb extern eingespeist wird. Während sich die Kernspaltung | |
| per Abschalten stoppen lässt, erzeugen die Spaltbruchstücke allein | |
| [2][durch den radioaktiven Zerfall die problematische Nachwärme]. | |
| Der radioaktive Zerfall lässt sich nicht beeinflussen; man kann nur warten, | |
| bis die Leistung abnimmt – und dabei ständig kühlen. Funktioniert die | |
| Kühlung nicht ausreichend, erhitzt sich der Kernbrennstoff. Ab 800 Grad | |
| Celsius beginnt ein Oxidationsprozess, bei dem Wasserstoff entsteht. Anders | |
| ausgedrückt: Bei Stromausfall und mangelnder Kühlung bildet der Reaktor | |
| seinen eigenen Sprengstoff, der zu einer kompletten Zerstörung des Reaktors | |
| und großen Freisetzungen von Radioaktivität führen kann. | |
| Damit das AKW die russisch besetzte Krim beliefern kann – [3][denn das | |
| scheint das Ziel Russlands zu sein] – muss es zunächst vom ukrainischen | |
| Netz getrennt werden. Dem kann die Ukraine zu Recht nicht zustimmen. Doch | |
| diese Gemengelage ist hochgefährlich. Für einen beschränkten Zeitraum kann | |
| ein Reaktor im Inselbetrieb laufen und nur Strom für den Eigenbedarf | |
| erzeugen. | |
| Das ist aber wegen der sehr geringen Leistung kein stabiler Zustand. Im | |
| Fall der Unterbrechung der Stromversorgung stünde noch Notstromdiesel | |
| bereit, der zehn Tage lang die Kühlung aufrechterhalten könnte. Einen | |
| Präzedenzfall gibt es dafür nicht. Sind die Tanks der Generatoren leer, | |
| würden kurzfristig rund 200 Tonnen Diesel für den Betrieb benötigt, die in | |
| den Kriegswirren nicht leicht zu besorgen sind. | |
| Es scheint sich hier um den völkerrechtswidrigen Raub eines Atomkraftwerks | |
| zu handeln. Das wirft komplizierte Fragen auf. Was ist, wenn Rosatom den | |
| Reaktor komplett übernimmt? Wenn die Stromleitungen ans russische Netz | |
| angebunden werden? Welche Rolle nimmt dann die IAEA ein, wenn sie sich | |
| „neutral“ verhält und sich allein auf die technische Überprüfung | |
| konzentriert? Wird der Raub abgesegnet, wenn die Arbeiten technisch korrekt | |
| durchgeführt worden sind? | |
| Während man bei Öl, Kohle und Gas Sanktionen verhängt oder zumindest mit | |
| erheblicher Anstrengung versucht, die Abhängigkeit zu beenden, wird der | |
| Atomsektor von Sanktionen gegen Russland ausgenommen. Man geht sogar neue | |
| Abhängigkeiten ein. | |
| ## Russische AKW-Technik in der EU | |
| Rosatom ist international der größte Konstrukteur von Atomkraftwerken: 34 | |
| Reaktor-Neubauprojekte gibt es in 11 Ländern. Alle werden von der IAEA | |
| unterstützt, die Beziehungen sind eng. Auch in Europa baut Russland neue | |
| Atomreaktoren. Erst am 26. August 2022 hat Ungarn die Baugenehmigung für | |
| den Neubau von zwei russischen WWER-1200-Reaktoren in Paks erteilt. | |
| Zum ersten Mal darf dieser Reaktortyp in der Europäischen Union gebaut | |
| werden. Das bringt Russland nicht nur viele Milliarden Euro aus Europa, | |
| sondern führt auch in eine weitere Energieabhängigkeit, und das auf | |
| Jahrzehnte. Ganze 16 Reaktoren in Europa sind von russischen Lieferungen | |
| abhängig. | |
| Dabei haben wir es durch die kriegerischen Handlungen von Russland mit | |
| einer neuen Bedrohungslage zu tun. Auch Cyber-Angriffe stellen eine Gefahr | |
| dar. Bei einer Eskalation des Konflikts könnte jedes Atomkraftwerk ein | |
| potenzielles militärisches Angriffsziel sein. Die Schlussfolgerung kann | |
| daher nur lauten: Wenn sich Europa im Krieg befindet, sollte Europa keine | |
| Atomkraftwerke betreiben. | |
| 20 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Bericht-der-IAEA-zu-Saporischschja/!5880638 | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Zerfallsenergie | |
| [3] /Kampf-um-AKW-Saporischschja/!5877380 | |
| ## AUTOREN | |
| Heinz Smital | |
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