# taz.de -- 50 Jahre Woodstock: Woodstock feiern ist nicht politisch | |
> Es ist an der Zeit, „Woodstock“ nicht mehr zu zelebrieren. 50 Jahre | |
> später sollte man daraus besser politisch kluge Schlüsse ziehen. | |
Bild: Souvenirs gefällig? Zumindest dafür ist Woodstock noch gut | |
Es ist 50 Jahre her, wow. Aber der eigentliche Jahrestag des Ereignisses | |
kann erst Ende nächster Woche gefeiert werden. „Woodstock“ – gemeint ist | |
ein Flecken im US-Bundesstaat New York, bei gewöhnlichem Verkehr von | |
Manhattan aus in zwei Stunden zu erreichen. Eine angehügelte Riesenwiese, | |
amphitheaterähnlich, die die Bühne abgab für das berühmteste Musikfestival | |
der Popgeschichte. | |
Sicher, es gab in den USA vorher und nachher andere Festivals mit | |
Hunderttausenden Besuchern und Besucherinnen, aber keines genoss eine | |
Aufmerksamkeit wie dieses. Vier Tage in einem vom Wetter her gemischten | |
Sommer, Wolkenbrüche inklusive. | |
Berühmt, ja zur Legende wurde dieses „Woodstock“ erst [1][durch seine | |
Medialisierung]: Es waren Kameraleute zugegen, es gab also danach Material | |
für einen Film. Ein Jahr später war dieser dann in den Kinos zu bestaunen – | |
auch in den europäischen. Dass es das, was „Woodstock“ genannt wird, gab, | |
ist somit eine Konstruktion: Die Organisatoren hatten eben vorzügliche | |
Kontakte in die Redaktionen von TV-Sendern und Zeitungen. | |
Nimmt man diese Legende ernst, akzeptiert, dass sie wie alle | |
Überlieferungen von Ereignissen auch Märchenhaftes enthält, muss man | |
dennoch genau hinschauen, was auf dem Material von „Woodstock“ zu sehen war | |
– und was fehlt. Man sieht: zu 99 Prozent junge Menschen mit weißer | |
Hautfarbe. Man erkennt leicht, wie mittelschichtig ihre Prägung sein muss, | |
wohlgenährt, glücklich erschöpft guckend, lebenszugewandt. | |
Man erkennt auch: ein Chaos, weil es schon am zweiten Festivaltag nicht | |
mehr möglich war, ohne Helikopter das Gelände noch zu erreichen. Man sieht | |
das Glück in den Mienen der Besucher*innen, sich nach den vielen | |
Regenschauern in einem Feld zu aalen und zu rutschen. Kindergeburtstag | |
forever! | |
## Was wir sehen und was fehlt | |
Man erkennt die Lust an der Unordnung und der Pannenhaftigkeit des | |
Projekts. Und wir hören die Musik von Künstler*innen, die damals mehr oder | |
weniger Underground waren, aber durch ihre Plattenfirmen plötzlich mit | |
„Woodstock“ zu den heißesten Acts der Hippie- und Protestszenen wurden, | |
Janis Joplin, Joe Cocker, Creedence Clearwater Revival, Country Joe | |
McDonald, Melanie – und natürlich die unverwüstliche Joan Baez, die | |
Troubadourin der US-amerikanischen Protestbewegung gegen den Vietnamkrieg | |
und überhaupt alle Kriege der Militärs ihres Landes. Sie war, man muss es | |
so schlicht sagen, die Musikerin, die immer dann auf die Bühne geschickt | |
wurde, wenn es vom Line-up mal wieder hakte: Joan Baez war so tapfer und | |
diszipliniert, sie sprang immer ein. | |
Und die Bilder zeigen auf den zweiten Blick auch, was auf ihnen fehlt: | |
afroamerikanisches Publikum, das seinen Kampf gegen Rassismus seit Langem | |
focht, aber für einen Zwischen-den-Trimestern-Trip nach Upstate New York | |
keine Zeit hatte. Ebenso Menschen aus jenen Schichten, aus denen | |
überwiegend die Soldaten für Vietnam rekrutiert wurden. Männer, die weder | |
über das kulturelle noch über das finanzielle Kapital verfügten, sich vom | |
Krieg in Asien freizukaufen – oder zu desertieren, etwa nach Kanada oder | |
Europa. | |
Es war ein bisschen so, wie es auch die Bilder von den meisten | |
Friday-for-Future-Protesten heute zeigen: Die ihre Ansprüche auf eine neue | |
Welt anmeldenden jungen Menschen sind klassenmäßig privilegiert – jene, die | |
vor 50 Jahren lohnarbeitende Jobs hatten, waren für „Woodstock“ so wenig zu | |
gewinnen wie in diesen Wochen etwa jene, die auf Berufsschulen gehen und | |
freitags keine Zeit haben. | |
## Sommertraining in Selbstermächtigung | |
Der „Summer of Freedom“, wie der TV-Sender Arte seit Wochen seine Filme und | |
Dokumentationen [2][zu jener Zeit betitelt], war ein Freiheitsprojekt, das | |
nur davon erzählt, wie der Nachwuchs des weißen | |
Mainstreammittelschichtsamerikas zu einem Teil eines ikonischen Ereignisses | |
wurde und sich darin als zukunftsträchtige Wesen erkannte. „Woodstock“ – | |
das war für das weiße Establishment in den USA ein ästhetischer Angriff | |
durch eine „Counterculture“, die bis 1969 in der Tat als zu verpönende | |
Gegenkultur galt, mit der das Amerika der ordentlichen Bürger*innen nichts | |
zu schaffen haben wollte. | |
Die Erzählung dieses Wochenendes brachte die grüne Welt der Ökologisierung | |
zu einer Kraft, von der sie vorher nicht ahnte, dass sie mal populär werden | |
würde. Robert Habeck und Annalena Baerbock, so gesehen, haben in Country | |
Joe McDonald und Joan Baez ihre Vorfahren: vom schmuddel-gegenkulturellen | |
Underground zum klimawandelkritischen Mainstream. | |
„Woodstock“ – das war ein Sommertraining in Selbstermächtigung, das von | |
einem einzigen Credo lebte: „Wir sind die Coolen.“ An jenem Wochenende | |
wurde im Massenmaßstab durch eine Hippieküchenkommune Ökoessen zubereitet, | |
körnermatschig, aber hungerstillend (wobei: Janis Joplin ließ sich per | |
Luftkurier Nahrung aus einem Delishop kommen, sie hatte eben ihr | |
Starbewusstsein, warum auch nicht). | |
Hier waren auch neue Formen des geschlechterdemokratischen Miteinanders | |
wenigstens in Sicht, Sex, Drugs & Hippie ’n’ Roll gehörten dazu. Im prüden | |
Amerika wagten sich Tausende nun, ganz und gar nackt schwimmen zu gehen – | |
in den Augen der tonangebenden weißen Mehrheit damals eine Art Sodom & | |
Gomorrha im Massenmaßstab. Man nannte sie später die „Blumenkinder“ – u… | |
verkannte, traut man nur einem Bruchteil der Zeitzeugenberichte, die | |
Experimentierlust gerade am Körperlichen, leider auch im Hinblick auf die | |
Vergötterung von Drogen, weichen und harten. | |
Sex? Durfte, musste, sollte sein. (Berichte von damals zeugen indes auch | |
davon, wie teils rücksichtslos die Festivalbesucher miteinander umgingen – | |
Love und Peace und Understanding scheint doch nicht so leicht mit Leben zu | |
füllen zu sein.) | |
## Mother Earth | |
„Woodstock“ war, wenn man so will, auch das erste | |
[3][Klimawandel]kritikfestival – der Bezugsrahmen der politischen und | |
kulturellen Äußerungen war nicht mehr eine „Arbeiterklasse“ (wie in Teilen | |
der bundesdeutschen 68er-Bewegung), sondern die „Welt“ schlechthin, mother | |
earth. Wer dabei war, gehörte faktisch zum Kern einer neuen ökobewussten | |
Welt – und schwärmte ob der neuen Perspektiven von einer „Woodstock World�… | |
So ließe sich das fein feiern, wie eine selige Erinnerung an die guten Tage | |
der Counterculture – ein medial heftig befeuertes Schlesiertreffen für die | |
Ökoerlösung. Ebenso wäre zu preisen, dass die Hippies im konservativen Teil | |
des Bundesstaats New Yorks (und Vermonts, [4][wo heute Bernie Sanders die | |
Kultfigur ist]) zu kolonisieren begannen, sich am Hudson River ansiedelten | |
und in den Wäldern der sanften Hügel der reaktionären Bauernschaft zeigten, | |
dass man es auch anders als redneckhaft kann. | |
Aber das wäre zu viel der Ehre: In „Woodstock“ ist auch eine Kulturelite | |
zur Welt gekommen, die eben kaum sehen wollte, dass ihre politischen Kämpfe | |
vor allem solche der liberalen, linken Weißen waren, der kommenden | |
Topchecker, der Immerschoneingeweihten, der Besserwisser, der Visionären, | |
der kulturell Privilegierten, der Durchsetzungsfähigen, der Ambitonierten. | |
Auf der Strecke ließen sie all jene, für die sie zu sprechen beanspruchten | |
(People of Colour, so würde man heute sagen, aber überhaupt die Working | |
Class People). | |
Deshalb wird es Zeit, „Woodstock“ nicht mehr zu feiern, sondern daraus | |
politisch kluge Schlüsse zu ziehen. Nicht auf nostalgische Seligkeit sich | |
zu verlegen, aufs Sentimentale ob der zerronnenen und doch irgendwie | |
weiterlebenden Hoffnungen zu verzichten – und mal zu gucken, was an der | |
Klassenfrage auch in kultureller Hinsicht neu zu definieren wäre. | |
Musikfestivals wie „Woodstock“ kann es keine mehr geben, sie wären nur | |
schale Reenactments. | |
Deshalb: Vergesst Woodstock – wenn es wirklich um eine andere Politik gehen | |
sollte, etwa mithilfe der Fridays for Future, wäre es schön, es wären nicht | |
nur die privilegierten Nachwuchskader, die den Ton angeben. | |
14 Aug 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Woodstock-Doku/!5610039 | |
[2] https://www.arte.tv/de/videos/RC-017692/summer-of-freedom/ | |
[3] /Schwerpunkt-Klimawandel/!t5008262/ | |
[4] /US-Demokraten-im-Vorwahlkampf/!5614962 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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