| # taz.de -- 31. Todestag von Amadeu Antonio: „Das ist Vergangenheit“ | |
| > Augusto Jone Munjunga kam wie Amadeu Antonio als Vertragsarbeiter in die | |
| > DDR. Heute leitet er den Kulturverein Palanca. Er erzählt, wie es dazu | |
| > kam. | |
| Bild: Augusto Jone Munjunga (56) vor der Ruine des Wohnheims der Vertragsarbeit… | |
| taz: Herr Munjunga, Sie waren nicht gerade begeistert von unserer | |
| Interviewanfrage, richtig? | |
| Augusto Jone Munjunga: Was heißt begeistert? Man hat zu viel zu tun. Zu | |
| dieser Jahreszeit häufen sich die Journalistenanfragen, je näher der | |
| Todestag von Amadeu Antonio rückt. Sonst interessiert sich kaum jemand | |
| dafür, was unser Verein macht. | |
| Amadeu Antonio wurde in Eberswalde von Neonazis zusammengeschlagen und ist | |
| danach nicht mehr aus dem Koma erwacht. Am 6. Dezember jährt sich sein | |
| Todestag zum 31. Mal. | |
| Ja. Wir waren als Vertragsarbeiter nach Eberswalde gekommen, und hier ist | |
| unser Kollege gestorben, ohne Grund. Dieses schreckliche Ereignis hat dazu | |
| geführt, dass wir 1994 den afrikanischen Kulturverein Palanca gegründet | |
| haben, als Treffpunkt für uns und damit unsere Geschichte nicht vergessen | |
| wird. | |
| Sie sind der Vorsitzende von Palanca. Was genau macht der Verein? | |
| Am Anfang hatten wir viele Projekte mit Kindern und an Schulen. Wir haben | |
| über Rassismus gesprochen, zusammen gekocht. Wir hatten eine Band, eine | |
| Tanzgruppe, die Afro-Sterne. Und wir haben hier auf dem Industriegelände am | |
| Wochenende Unterhaltung und Musik angeboten. Das war immer voll. Die jungen | |
| Leute hier hatten nicht viel, wohin sie gehen können. Die Punks haben | |
| Musikbands reingebracht. | |
| Und heute? | |
| Wir machen neue Projekte. Seit 2015 betreuen wir in Eberswalde ein | |
| Wohnprojekt mit Flüchtlingen. Ich bin der Wohnprojektkoordinator und mache | |
| alles. Palanca betreut neun im Stadtraum verteilte Wohnungen. Wir helfen | |
| bei Ämter- und Schulangelegenheiten und haben ein | |
| Frauen-Empowerment-Projekt. | |
| Was heißt das? | |
| Wir schaffen zunächst einen Raum für die Frauen. Sie können sich hier | |
| treffen, kochen, tanzen. Und wir machen politische Bildung mit den | |
| Flüchtlingen. Wir fahren mit der Bahn nach Berlin, gehen in den Bundestag, | |
| ins Museum oder den Zoo. | |
| Über diese Arbeit mit Flüchtlingen ist wenig bekannt. | |
| In den Berichten über uns geht es geht immer nur um die Aufarbeitung des | |
| Rassismus. Aber wir wünschen uns, dass man unsere Entwicklung wahrnimmt. | |
| Wir möchten nicht nur auf den Rassismus festgenagelt werden. | |
| Woher kommen die Geflüchteten, um die sich Palanca kümmert? | |
| Aus afrikanischen Ländern. Die Syrer wollen in Eberswalde einen eigenen | |
| Verein gründen. Schon unsere afrikanische Community besteht aus | |
| verschiedenen Kulturen. Und ich weiß aus Erfahrung: Sie unter einen Hut zu | |
| bringen ist nicht leicht. Inzwischen sind das mehr 200 Leute: Somalis, | |
| Eritreer, Kameruner, Kenianer, Angolaner. Einige waren früher, so wie ich, | |
| in der DDR Vertragsarbeiter und sind hier geblieben. | |
| Sie sind 1987 in die DDR gekommen. Wie war das damals eigentlich genau? | |
| Unsere Gruppe war die zweite Vertragsarbeitergruppe aus Angola. Wir waren | |
| etwa 100 Leute. Ich erinnere mich noch genau an die Ankunft am Flughafen | |
| Schönefeld. Uns wurden sofort die Pässe abgenommen, die haben wir nicht | |
| mehr gesehen. | |
| Einfach weg? | |
| Ja. Als wir in unserem Wohnheim in Eberswalde ankamen, wurden als Erstes | |
| Fotos von uns gemacht. Am nächsten Tag um 5 Uhr morgens aufstehen und dann | |
| schnell, schnell, dass du um 6 Uhr an der Bushaltestelle stehst. Und dann | |
| kommst du in den Betrieb, und ein Geruch nach Tier empfängt dich. Du hörst | |
| Schreie von den Tieren, die geschlachtet werden, und denkst nur: oh, oh, | |
| oh. Und wir gucken uns an und denken, ist das der Betrieb für die | |
| Ausbildung, die wir erhalten? | |
| Sie waren dem Schlacht- und Verarbeitungskombinat Eberswalde zugeteilt. | |
| Ja, in der Produktion. Wir gehen also in den Betrieb rein, und sie sagen, | |
| das ist euer Arbeitsplatz für vier Jahre. Vier Jahre? Was sollen wir denn | |
| hier machen? Als wir gefragt haben, ob das ein Missverständnis ist, hieß | |
| es: Nein, das ist euer Betrieb. | |
| Was hatten Sie erwartet? | |
| Wir haben gedacht, dass wir weiterqualifiziert werden. Wir sind davon | |
| ausgegangen, dass wir, wenn wir zurück nach Angola kommen, befördert | |
| werden. | |
| Dass Sie nach dem Auslandsaufenthalt Karriere machen? | |
| Ja. Auf unseren Papieren stand „zur Qualifikation“. Wir haben uns das so | |
| schön vorgestellt. Ich war ja bereits studierter Finanzkaufmann. Ich habe | |
| mir gedacht, okay, wenn ich in der DDR bin, mache ich noch eine Ausbildung | |
| und kann damit dann später in Richtung Ökonomie gehen. | |
| Haben Sie denn nicht protestiert? | |
| Ja, aber dann hieß es, das müssten wir mit der angolanischen Botschaft | |
| klären. Der Botschafter hat gesagt: „Du kannst ja zurückgehen nach Angola. | |
| Aber du weißt auch, dass du dort im Knast landest.“ Das war moderne | |
| Sklaverei. Später haben wir verstanden, dass wir Staatsschulden von Angola | |
| an die DDR abarbeiten müssen. Schulden für Medikamente, für Waffen, für | |
| alles Mögliche. Aber keiner hat uns das gesagt. | |
| Wie waren die Arbeitsbedingungen in dem Betrieb? | |
| Wir haben gearbeitet wie Roboter. Ich war in einer Wurstkammer. Es war eine | |
| sehr alte, dunkle Kammer, der Boden war steinhart. Alles klebte. Mit | |
| Wasser, das über 90 Grad heiß war, musste man den Boden sauber machen. Dazu | |
| gab es ein Produkt, das nicht an die Haut kommen durfte. Du hast keine | |
| Maske auf, du stehst im vollen Dampf. Das war sehr gefährlich. | |
| Amadeu Antonio war Ihr Kollege? | |
| Ja, wir lebten zusammen im Wohnheim, abgetrennt von der einheimischen | |
| Bevölkerung. | |
| Fühlten Sie sich isoliert? | |
| Ich fühlte mich nicht wirklich schlecht. Wir waren ja jung. | |
| Es war also nicht alles nur schlimm? | |
| Nein. Wir hatten im Kopf, wir sind hier für eine bestimmte Zeit und werden | |
| wieder zurückgehen und vielleicht auch studieren. Was es damals nicht gab, | |
| war der offene Rassismus. Niemand hat uns angegriffen. Und wir Latinos | |
| untereinander hatten wirklich großen Spaß. Die Deutschen wollten ja ohnehin | |
| nichts von uns wissen. | |
| Latinos? | |
| Ja, ich meine, wir sprechen portugiesisch. Und mit den Kubanern haben wir | |
| uns gut verstanden, auch was die Musik betrifft. Die Kubaner haben Angola | |
| viel geholfen. Kubaner, sagen wir, sind Brüder. Erst als wir merkten, dass | |
| nichts für unsere Qualifikation getan wird, nur Arbeit, Arbeit, Arbeit, | |
| haben wir die Hoffnung verloren. Aber das ist Vergangenheit. Man muss sie | |
| vergessen, sonst bekommt man Kopfschmerzen. | |
| Hatten Sie auch Frauen kennengelernt? | |
| Die Gaststätte Mitropa war unser Treffpunkt. Dorthin kamen auch viele | |
| Frauen aus Eberswalde und Umgebung. Das waren nicht immer feste | |
| Beziehungen. | |
| Was hat die Frauen in die Gaststätte geführt? | |
| Die Frauen hatten kein gutes Leben. Sie waren meistens arbeitslos, und | |
| Arbeitslosigkeit war in der DDR offiziell verboten. Sie wussten, Mitropa | |
| ist der Treffpunkt für Ausländer. Und wenn sie dort etwas essen oder | |
| trinken, würden die Ausländer das vielleicht bezahlen. | |
| Amadeu Antonio war das erste rassistische Todesopfer nach der Wende. Er | |
| wurde von Skinheads erschlagen. Hatten Sie auch Angst um Ihr Leben? | |
| Ja, ich hätte in Eberswalde der zweite Amadeu werden können, weil ich | |
| engagiert war. Es war hier wirklich schlimm, als die Mauer fiel. Wir hatten | |
| gehört, dass sich Schlägertrupps von Rostock auf den Weg machen. Die | |
| Skinheads wussten, wo sie uns finden. Die kannten die Adressen der | |
| Privatwohnungen, in denen wir uns aufgehalten haben. Sie haben die Straßen | |
| blockiert und die Türen. Wir mussten aus den Fenstern springen. Da gab es | |
| großen Stress. | |
| Und niemand hat geholfen? | |
| Doch. Die antirassistische Initiative in Berlin Kreuzberg war wirklich eine | |
| große Hilfe. Manche Leute sind auch aus England und aus Frankreich | |
| gekommen, um uns zu unterstützen. Ich wurde gewarnt, es wäre besser, aus | |
| Eberswalde zu verschwinden. Die antirassistische Initiative hat mich nachts | |
| zu Hause abgeholt und nach Stuttgart gebracht. | |
| Aber jetzt leben Sie in Berlin und arbeiten in Eberswalde? | |
| Ja. Ich habe in Berlin eine kleine Wohnung. Berlin war für mich damals | |
| Freiheit, multikulti und offen. Anfang der 2000er Jahre war der Kontrast zu | |
| Eberswalde sehr stark. Das war hier eine No-go-Area. | |
| Auf das Vereinshaus wurde ein Brandanschlag verübt. | |
| Ja, das war im März 2000. Ich habe dann öffentlich kritisiert, dass die | |
| Stadt so wenig macht gegen ihr schlechtes Image. Die Stadt hat reagiert und | |
| finanziert uns seit 2011 die Miete hier auf dem alten Industriegelände, dem | |
| Rofin Gewerbepark. | |
| Wo fühlen Sie sich heute mehr zu Hause: in Berlin oder Eberswalde? | |
| Ich bin nach Eberswalde zurückgekommen. So fühle ich es. Weil hier meine | |
| Freundin, sie kommt aus Kamerun, und unser gemeinsames Kind lebt. Und ich | |
| arbeite hier. Aber Eberswalde ist auch anders geworden. Es gibt sie noch, | |
| die alte Verschlossenheit, aber es sind sehr viel neue Leute dazugekommen. | |
| Allein hier, in unserer Umgebung im Rofin Park, leben und arbeiten viele | |
| Kreuzberger. Und dann haben wir die Fachhochschule, und manche Studenten | |
| bleiben ganz hier. Und viele Leute, denen Berlin zu teuer wird, ziehen | |
| hierher. Das hat Eberswalde sehr gutgetan. | |
| In dem Film „Baseballschlägerjahre“, der im Herbst 2020 in der ARD | |
| ausgestrahlt wurde, werden Sie und ein angolanischer Freund über die Zeit, | |
| als Amadeu Antonio getötet wurde, befragt. Ihr Freund sagt, er habe nachts | |
| immer noch Angst, auf die Straße zu gehen. Sie auch? | |
| Ich werde heute nicht mehr schief angeschaut, das gibt es kaum noch. Aber | |
| nachts allein auf der Straße habe ich auch Angst. | |
| Und in Berlin? | |
| Es kommt drauf an, wo. Zwischen Lichtenberg und Marzahn möchte ich nachts | |
| auch nicht allein gehen. | |
| Wie oft sind Sie im Vereinshaus? | |
| Fast jeden Tag, ich möchte dass das Palanca lebt. Die Leute kommen spontan | |
| vorbei. Wir haben ein Jahresprogramm gemacht, wo die jeweilige Community | |
| ihre Festtage einträgt, es gibt dann Feiern. | |
| Wollen Sie auch wieder offene Musikveranstaltungen machen wie zu | |
| Anfangszeiten? | |
| Ganz weit weg ist die Idee nicht, aber wir haben Angst vor | |
| Auseinandersetzungen, auch weil nun viele Muslime gekommen sind. Disco ist | |
| nicht so deren Sache. Außerdem hören Eriträer und Somalier eine ganz andere | |
| Musik als wir aus Kamerun oder Angola. | |
| Würden Sie sagen, Ihre eigene Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte? | |
| Kürzlich habe ich eine Auszeichnung für Mut und Verständigung bekommen. Ich | |
| versuche meine Sache gut zu machen. Aber es ist wie beim Fußball: Du kannst | |
| selbst schlecht beurteilen, ob du gut spielst. | |
| 3 Dec 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Edith Kresta | |
| Plutonia Plarre | |
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