Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Perspektiven im Berliner Speckgürtel: Stahl und Ziegel
> Industriebrachen und der Finowkanal als Lebensader: Eberswalde hat
> Perspektiven, und das nicht nur im aktuellen Jahr der Industriekultur.
Bild: Kultiviert seine industrielle Vergangenheit: Eberswalde
Berlin taz | Achtundfünfzig Meter ragt der Eberkran, kurz Eber, über die
zwischen grüne Wälder eingebettete Stadt Eberswalde. Er ist sichtbares
Wahrzeichen der brandenburgischen Stadt. Eine gewichtige Stahlkonstruktion,
als Symbol für die industrielle Entwicklung, in der Maschinen und Bauten
aus Eisen, Stahl und Ziegeln scheinbar für die Ewigkeit gebaut wurden. Das
„Märkische Wuppertal“, wie die Stadt oft genannt wird, gilt als Wiege der
Industrie in der Mark Brandenburg. Bereits im 17. Jahrhundert entstanden
hier die Eisenspalterei, das Messingwerk mit seiner Siedlung, das Alte
Walzwerk, die Papierfabrik und das Kraftwerk Heegermühle.
Lebensader der Stadt war der Finowkanal. Er diente zum Transport und zur
Energiegewinnung. An ihm reihen sich die industriellen Bauten aneinander.
Ein Architekturensemble, das teils verfallen und überwuchert ist. Der Weg
entlang des Kanals ist heute eine Dornröschenidylle für Radfahrer, der
Kanal eine historische Strecke für Paddler und Freizeitschiffer.
Der 400 Jahre alte Finowkanal ist die älteste künstliche und noch
befahrbare Wasserstraße Deutschlands. Mit der Übernahme der zwölf
Finowkanal-Schleusen vom Bund durch den Zweckverband Region Finowkanal ist
die Schiffbarkeit des Kanals für Freizeitverkehr und Wassertourismus
gesichert.
In der Umgestaltung von Industrieanlagen zu Freizeitparks, Wohn- und
Kulturstätten will sich die Stadt eine neue Zukunft geben. Auch der
Eberkran steht auf altem Industriegelände, das zu einem 17 Hektar großen
Familiengarten umgestaltet wurde. Von der 38 Meter hohen Plattform des
Krans blickt man auf die alten Produktionshallen des ehemaligen Kranbaus,
die Ardelt-Werke. Im Zweiten Weltkrieg beschäftigte das Unternehmen
[1][tausende Zwangsarbeiter]. Hier wurde in unterirdischen Hallen
Kriegsgerät produziert. Ingenieure der Ardelt-Werke waren maßgeblich an
Entwicklung, Produktion und Test der Rakete V2 beteiligt.
Ivonne Affeld und Benjamin Westphal führen durch den Familiengarten. „Was
fällt Ihnen bei Eberswalde ein“, fragt Westphal eine größere
Besuchergruppe. Heruntergekommen Industriestadt, reichlich Platte,
schlagende Rechte, der rassistische Mord an Amadeu Antonio sind die bei
allen gängigen Bilder. „Sie sehen“, sagt er, „es gibt viel zu tun.“
Die Gartenanlage ist gut besucht. Familien picknicken, Kinder turnen auf
den Spielplätzen. Es gibt einen Asiatischen Garten mit Bonsais und einer
Modelleisenbahn, einen Japanischen Garten, einen „Jesusgarten“ genannten
begehbaren Wassergarten, einen Apothekergarten, Gastronomie und
Veranstaltungsräumlichkeiten.
Daneben sind technische Anlagen und Bauwerke zu besichtigen, unter anderen
das Blechenhaus, die Hufeisenfabrik, Reste des alten Walzwerks. Der
Familiengarten wird für Open-Air-Konzerte auf der bis zu 4.000 Personen
fassenden Freilichtbühne genutzt, Hallenkonzerte finden in der als
Stadthalle genutzten Hufeisenfabrik statt.
Heute ist Tanzabend des Stadtfests FinE auf dem Platz des ehemaligen
Walzwerkes im Familiengarten. Schuppi-duppi Tanzmusik und Elektrosound.
Letzere ist eindeutig der Trend. Das DJ-Kollektiv Luckins hat seine Fans.
Die Tanzfläche ist brechend voll. Unter dem Motto „Save your culture“
bespielten die Luckins zu Corona-Hochzeit Eberswalder Kulturorte und
sammelten auf diesem Weg Spenden für diese ein. Die Videos sämtlicher
DJ-Sets sind dafür über Youtube frei verfügbar.
„Es hat sich viel getan in Eberswalde,“ sagt Patrick Steppons, Gründer der
Luckins und Save your culture. „Springerstiefel und Glatzen, das war
gestern. Meine rechten Schulkameraden von damals sind in die Jahre
gekommen. Man findet sie jetzt [2][in der AfD].“
Patrick Steppons und seine Mitstreiter, Mathias Kienz und Philipp Heinze,
sehen viel Potenzial in ihrer Heimatregion. „Rund um die Hochschule für
nachhaltige Entwicklung sind nicht nur junge Studierende in die Stadt
gekommen, sondern auch ganz neue Ideen und Impulse“, sagt Kienz. Zwar gäbe
es immer noch vergleichsweise wenig Kneipen – von 77 vor der Wende sind
vielleicht noch sieben übrig – aber es entstünden neue Orte. Etwa das Café
& Bar Alte Post, oder eben Kulturorte wie die Borsighalle, die für Konzerte
und Stadtevents genutzt wird.
Die Borsighalle gleich gegenüber dem Familiengarten ist eine elegante
Konstruktion aus Holz und Stahl: Der Prototyp einer stützenfreien, beliebig
erweiterbaren Hallenkonstruktion. Die Borsighalle wurde von 1847 bis 1849
in Berlin-Moabit errichtet. Sie diente als Vorbild für unzählige
gleichartige Bahnhofs-, Fabrik- oder Ausstellungshallen in ganz Europa. Der
Entwurf dazu stammte von August Borsig persönlich. Um 1900 wurde die Halle
verkauft, abgebaut und auf den heutigen Standort am Finowkanal umgesetzt.
Das imposante Stahlgerippe hat die Stadt schrittweise für über 2 Millionen
Euro renoviert. Ein Bekenntnis zu ihrer Industriegeschichte.
Anfang Juni in diesem Jahr wurde hier direkt am Finowkanal das Themenjahr
Kulturland Brandenburg eröffnet. Es beschäftigt sich mit „Zukunft der
Vergangenheit – Industriekultur in Bewegung“ und führt zu Orten, die durch
den Strukturwandel nach der Wende radikal betroffen waren. Arbeit und Leben
etwa der Eberswalder wurden grundlegend verändert, zerüttet. Eberswalde
muss sich neu erfinden. An der Hochschule für nachhaltige Entwicklung
Eberswalde wird an zukunftsträchtigen Wirtschaftsformen geforscht.
Preisgekrönte Innovationen, etwa [3][auf dem Gebiet der Solarenergie],
kommen aus Eberswalde.
Innovativ geht es auch auf dem Gelände des Rofinparks oberhalb des
Familiengartens zu. Die ehmalige Rohrfabrik ist Sitz circa 80 gewerblicher
und privater Mieter. Einer der ältesten Mieter auf dem Hof ist der
Afrikanische Kulturverein Palanca, der sich nach dem rassistischen Mord an
Amadeu Antonio 1990 gründete. Auch das DJ-Kollektiv Lukins und der Verein
Save Your Culture sind hier ansässig.
## Ein Flötenchor
Publikumsmagnet ist die 1.000 Quadratmeter große Boulderhalle samt schönem
Café. Es gibt große Mieter wie den Elektrofachhandel Obeta oder den
Malerfachbetrieb Brillux. Handwerker, Musiker, ein Flötenchor. „Der breite
Mix mag auf den ersten Blick konzeptionslos wirken, ist aber beabsichtigt“,
sagt Sarah Polzer-Storek, die Besitzerin des Geländes. Aus
betriebswirtschaftlicher Sicht sorge dies für eine Risikostreuung. „Während
der Pandemie hat es sich als folgerichtig erwiesen und bewahrt den
Rofinpark auch in dieser schwierigen Zeit vor einem breiten Mietausfall“,
sagt sie.
Ihr Mix biete gleichzeitig Potential für Synergieeffekte und Kooperationen
innerhalb der Mieterschaft. Nicht zuletzt werde durch diese Vielfalt einer
Gentrifizierung vorgebeugt. Immer mehr Berliner Unternehmer*innen
kämen nach Eberswalde, etwa der Kreuzberger Holzrestaurator Eberhard
Roller, die Jurtenbauerin Angelika Barall oder die Kaffeerösterei
Firstcrack Coffee Roasters.
„2009 habe ich die Verantwortung für den Rofinpark übernommen, 30 Jahre alt
und ohne Erfahrung. Das Interesse für solche Objekte war überschaubar,
Eberswalde verlor jährlich Einwohner*innen“, erzählt Polzer-Storek beim
Rundgang über das Gelände.
Die engagierte Grüne setzt sich seit Jahren politisch für den Umwelt- und
Naturschutz ein. „Industrie- und Gewerbeflächen machen rund ein Fünftel der
Siedlungsfläche in Deutschland aus. Sie spielen daher eine wichtige Rolle,
wenn es um die Umsetzung von Konzepten zum Klimaschutz geht. Wir verbinden
die nachhaltige Entwicklung des Gewerbeparks mit unternehmerischer
Verantwortung und nehmen zum Beispiel unsere gesellschaftliche
Verantwortung ernst, indem wir lokale Vereine mit besonderen Konditionen
und fairen Mieten unterstützen“, sagt sie. Das Themenjahr Industriekultur
begrüßt Polzer-Storek ausdrücklich. „Es gibt dem historischen Vermächtnis
endlich den Stellenwert, den es verdient.“
Vom Rofinpark und Familiengarten ins Zentrum der Stadt zieht sich die
Bundesstraße vier Kilometer. Der Bandstadtcharakter einer langgezogen Stadt
mit aufgelassen Fabrikanlagen, Plattenbauten und Einkaufszentren entlang
des Finowkanals ist eine städtebauliche Herausforderung und wenig
attraktiv.
Das Zentrum mit kleinem Altstadtkern ist renoviert. Auf dem Marktplatz
steht das vielfach für seine Nachhaltigkeit ausgezeichnete
Paul-Wunderlich-Kreisverwaltungsgebäude. Am Finowkanal wurden Parks
angelegt. Hotellerie ist fast nicht existent in Eberswalde. Den
kulinarischen Ruf der Stadt retten die Vietnamesen. Das Hoi An in einem
Fachwerkhaus im historischen Altstadtkern gleich am Marktplatz hat einen
schattigen Garten und geschmackvolle Inneneinrichtung. Und vor allem
schmackhaftes Essen.
Nicht weit davon steht die ehemalige Forstkademie, die heute Hochschule für
nachhaltige Entwicklung heißt. Sie wirkt auf die Stadtentwicklung. „Wir
wollen ein nachhaltiges und sozial verträgliches Wachstum für Eberswalde“,
sagt Anne Fellner, Baudezernentin der Stadt. Darüber gebe es einen
konstruktiven Dialog in der Stadtverwaltung.
„Eberswalde ist eine Stadt in der zweiten Reihe im Berliner Umfeld. Der
[4][Speckgürtel um Berlin ächzt mittlerweile unter seinen Wachstumssorgen].
Die Städte in der zweiten Reihe sind für viele attraktiv“, sagt Fellner.
Die Stadt wachse wieder. „Wir wollen die Entwicklung gestalten. Welche
soziale Mischung wünschen wir uns? Was für Wohnangebote machen wir?“, sagt
sie. Ziel sei weniger klassische Einfamilienhäuser. „Wir wollen als gut
erreichbares Mittelzentrum mit der Bahn verdichtete Wohnangebote im Zentrum
der Stadt anbieten.“ Es gibt eine Holzbauinitiative für kommunale Bauten.
Gerade entsteht am Bahnhof ein großes Fahrradparkhaus in Holzbauweise.
„Wenn ich Vorstellungsgespräche in meinem Dezernat habe, frage ich immer:
Finden Sie Eberswalde schön?“, sagt Fellner. „Jemand, der ja sagt, macht
sich unglaubwürdig. Eberswalde ist nicht niedlich. Es hat Spannung, einen
rauen Charme.“
11 Aug 2021
## LINKS
[1] /Vergangenheit-in-Pommern/!5785441
[2] /Als-Schwarzes-Kind-auf-dem-Dorf/!5787874
[3] /Naturschutz-contra-erneuerbare-Energie/!5773026
[4] /Die-Innovationsachse-BerlinLausitz/!5787788
## AUTOREN
Edith Kresta
## TAGS
Brandenburg
Stahlindustrie
Amadeu-Antonio-Stiftung
Amadeu-Antonio-Stiftung
Brandenburg
Lesestück Recherche und Reportage
Stadtplanung
## ARTIKEL ZUM THEMA
31. Todestag von Amadeu Antonio: „Das ist Vergangenheit“
Augusto Jone Munjunga kam wie Amadeu Antonio als Vertragsarbeiter in die
DDR. Heute leitet er den Kulturverein Palanca. Er erzählt, wie es dazu kam.
Wohnen in Brandenburg: Noch kein Tesla-Effekt
Bei Mieten und Wohnungsleerstand geht die Schere zwischen Speckgürtel und
Peripherie in Brandenburg weiter auseinander.
Bauen und Wohnen: Kampf um Grund und Boden
Die Ressource Land ist endlich. Das sorgt oft für Streit – auch in
Neuenhagen. Von Wildschweinen, Verkehrslärm und der Frage: Wie wollen wir
leben?
Zukunft Berlin und Brandenburg: Vom Siedlungsstern zum Netz
Berlin und Brandenburg wachsen. Bislang gilt, dass dieses Wachstum entlang
der Siedlungsachsen ins Umland stattfinden soll. Doch wird das reichen?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.