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# taz.de -- 20 Jahre Proteste gegen G8 in Genua: Was bleibt, ist das Trauma
> 2001 kam es beim G8-Gipfel in Genua zum gewaltsamen Vorgehen der
> Carabinieri. 20 Jahre später bleibt das Entsetzen über die Brutalität der
> Täter.
Bild: 300.000 Aktivist*innen kamen vom 18. bis 22. Juli 2001 nach Genua
Seattle, Prag, Göteborg und dann Genua. Gipfel der Welthandelsorganisation,
dem Weltwährungsfonds, der EU, der G8 – und die Proteste dagegen.
Stocknagelplaketten am Wanderstab der Globalisierungskritik der
Jahrtausendwende. Symbole der physischen Konfrontation mit der globalen
Macht durch die Multitude, eine internationale und internationalistische
Bewegung. Anschub für so unterschiedliche aktivistische Ansätze wie die von
Attac, Indymedia oder das Peoples Global Action Network. Für die einen Orte
des Aufbegehrens gegen die neoliberale Neuaufteilung der Welt und die
gnadenlose Niederschlagung jeder widerständigen Regung, für die anderen
Straßenterror linker Gewaltgruppen.
Der Mythos des „Black Block“, einer gesichtslosen, aggressiven Masse, die
ohne Sinn und Verstand einfach alles kurz und klein schlägt, erlebte seine
Renaissance, wie auch das Bild des faschistischen Bullen als Schläger des
Kapitals. Realität und Erinnerung werden zu kontrastreichen Karikaturen –
paradoxerweise umso mehr, als diese Erinnerungen von so vielen geteilt
wird.
Mit geschätzt 300.000 Menschen übertraf die Teilnahme an den
Gegenveranstaltungen zum G8 in Genua vom 18. bis 22. Juli 2001 selbst die
kühnsten Erwartungen der Organisator*innen. Eine Vielzahl von
Diskussionsveranstaltungen, Workshops, Konzerten und Demos sollten das
Treffen der offiziellen Weltelite in der italienischen Hafenstadt am Fuße
des nordwestlichen Zipfels des Apennin begleiten. Zunächst ging der Plan
sogar auf.
Manu Chao, selbst Gründungsmitglied von Attac und Unterstützer der
mexikanischen Zapatisten jener Tage, gab ein umjubeltes Konzert am Abend
des 18. Juli. Tags darauf folgten Zehntausende dem Aufruf antirassistischer
und migrantischer Initiativen und zogen in einer friedlichen Demonstration
durch die oft engen Straßen der Stadt, zum Teil am meterhohen Sperrzaun zur
„roten Zone“ entlang. Auf der anderen Seite des Walls fanden die Beratungen
des Gipfels im Palazzo Ducale statt.
## Spürbar gestiegenes Aggressionspotential
Einige Verhaftungen und kleinere Scharmützel zwischen Polizei und
Teilnehmer*innen des Gegengipfels blieben nicht aus, sind vor allem im
Vergleich zu den Ereignissen der folgenden Tage aber wahrlich nicht der
Rede wert. Für den Einsatz gegen Pazifist*innen,
Sans-Papier-Aktivist*innen, Anhänger*innen der Entschuldung von
Schwellen- und Entwicklungsländern und Streiter*innen für eine
0,1-prozentigen Finanztransaktionssteuer schienen die in Alarmbereitschaft
stehenden Panzer der Carabinieri und die im Hafen stationierten mobilen
Flugabwehrraketenbatterien dann doch etwas übertrieben.
Die Hochrüstung vor Ort war einer regelrechten Hysterie geschuldet, die
sich bis zu einer bizarren Gewaltlust der gastgebenden Regierung Berlusconi
steigerte. Befeuert war die durch die Auseinandersetzungen beim EU-Gipfel
nur einen knappen Monat zuvor. [1][In Göteborg hatte die schwedische
Polizei] erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg scharfe Munition eingesetzt
und dabei mehrere Personen verletzt, eine davon lebensgefährlich.
[2][Militanzfragen wurden nicht erst ab da] kontrovers diskutiert,
letztlich immer mit dem Ziel, verschiedenen Aktionsformen jeweils ihren
Raum zu geben und damit diversen Protest zu ermöglichen, sowohl inhaltlich
als auch in der Praxis.
Überhaupt war das allgemeine Aggressionsniveau seit der „Battle of
Seattle“, den Protesten gegen den Gipfel der Welthandelsorganisation 1999,
mit jedem weiteren Gipfeltreffen allseitig spürbar gestiegen. Im Vorfeld
des Genua-Gipfels wurde eine quasimilitärische Invasion von Heerscharen
an Brandstiftern und Bombenlegern herbeihalluziniert, sogar von geplanten
Anschlägen mit aidsverseuchten Blutbeuteln war die Rede. Die Freizügigkeit
des Schengenraums endete an den Grenzübergängen zu Italien. Auf Betreiben
[3][des deutschen Innenministers Otto Schily (SPD)] wurden Reiseverbote
gegen mutmaßliche Gewalttäter verhängt.
Während des Gipfels war die lokale Polizeiführung praktisch außer Dienst
gestellt, in der Genueser Einsatzzentrale übernahmen die
Kommandostrukturen des italienischen Innenministeriums die Kontrolle.
Gianfranco Fini, Vorsitzender der postfaschistischen Alleanza Nazionale
(AN) und stellvertretender Ministerpräsident unter Berlusconi, war mehrfach
vor Ort. Filippo Ascierto, ebenfalls Abgeordneter der AN und in der
Einsatzzentrale zugegen, wird nach dem Gipfel [4][die unheilvolle
Drohung gegen die globalisierungskritischen Aktivist*innen
aussprechen]: „Sie werden nicht ruhig schlafen, denn wir werden sie holen.
Einen nach dem anderem.“ Schon am 20. Juli 2001 holten sie Carlo Giuliani.
## In Gedenken an Carlo Giuliani
Dem [5][Genoa Legal Forum, ein Zusammenschluss engagierter Anwält:innen,
ist eine minutiöse Rekonstruktion des Verlaufs der Ereignisse] zu
verdanken, die zum Tod des 23-Jährigen führten. Nachdem Einheiten der
Carabinieri eine Straßenschlacht mit den Aktivist*innen Tute Bianchi
provoziert hatten, kam Giuliani bei den anschließenden Auseinandersetzungen
ins Visier des 20-jährigen Wehrdienstleistenden Mario Placanica. Noch am
Tatort behaupteten Ordnungskräfte, Giuliani sei von einem geworfenen Stein
getötet worden. Später wurde von Notwehr seitens Placanicas gesprochen.
Dessen Freispruch im Jahr 2003 schließlich wurde damit begründet, sein in
die Luft abgegebener Warnschuss wäre von einem Steinwurf so abgelenkt
worden, dass die Kugel Giuliani getroffen habe.
Die als Abschluss geplante Demonstration am Samstag sollte zur
Manifestation für Carlo Giuliani werden. Stundenlang dauerte allein die
Aufstellung der Hunderttausenden Teilnehmer*innen. Auf der für die
riesige Menschenmenge viel zu kurzen Demostrecke an der Strandpromenade,
dem Corso Italia, herrschte relative Stille. Unterbrochen immer dann, wenn
die hochgerüsteten Carabinieri in einer Seitenstraße ins Sichtfeld der Demo
gerieten: „Assassini! Assassini!“ Sowohl an der Demospitze kam es zu
Zusammenstößen, als auch auf halbem Wege. Augenscheinlich anlasslos teilten
die Carabinieri den Zug mit Tränengassalven von Hausdächern und aus
Hubschraubern heraus. Anwohner*innen ließen für die fliehenden, teils
weinenden, teils blutenden Demonstrant*innen mit Schläuchen Wasser aus
ihren Haustüren und über die Gartenmauern laufen.
Auf den Straßen, wie schon an den Tagen vorher, schwarz vermummte
Gestalten, die zum Teil aus Kleinbussen ausstiegen, völlig unbehelligt
irgendetwas, ein Auto, ein Schaufenster, demolierten und wieder in ihr
Fahrzeug sprangen. Belegt wurde die Untätigkeit von Polizei und Carabinieri
in Bezug auf den „Black Block“ für den gesamten Gipfelzeitraum von
verschiedenen Seiten. Der Verdacht, dass es zumindest in Teilen eine
Zusammenarbeit über die übliche Einschleusung einzelner Agents Provocateurs
hinaus gab, ist zwar durch verschiedene Foto- und Videoaufnahmen
aufgekommen, aber nie untersucht worden.
Wer verfolgt wurde, und zwar unmittelbar, waren die friedlichen
Aktivist*innen. In der Nacht auf den 22. Juli drangen Carabinieri in
die [6][als Unterkunft für Protestierende geöffnete Diaz-Schule ein]. Dort
prügelten sie auf die wehrlosen, teilweise in ihren Schlafsäcken liegenden
Menschen ein, nahmen jene, die sich überhaupt noch bewegen konnten, direkt
fest und setzen sie neben anderen Verhafteten in der Bolzaneto-Kaserne über
mehrere Tage psychischer und physischer Folter aus. Nicht von ungefähr
beschrieb die Opposition im italienischen Senat diese Nacht und ihre Folgen
mit dem Vorwurf „chilenischer Verhältnisse“. Die Carabinieri sangen
faschistische Lieder, Sektkorken knallten bei den Feiern zur „gelungenen
Schlacht“ um Genua – nach Zeugenaussagen auch im Beisein hochrangiger
Beamter und Politiker. „Einer nach dem anderen.“ In den folgenden Tagen
wurden noch die Campingplätze in der Umgebung von Genua überfallen.
## Dem Faschismus in die Augen gesehen
Das Entsetzen über die Vorgänge, die Brutalität gegenüber Aktivist*innen,
aber auch Beobachter*innen und Journalist*innen, wurde von der
internationalen Bewegung um die Welt getragen. Die Mobilisierungskraft
der globalisierungskritischen Organisationen schien keine Grenzen mehr zu
kennen. Solidaritätskundgebungen, Demos, Besetzungen, die Gründung
unzähliger Basisgruppen; bis keine zwei Monate später 9/11 den Fokus
zumindest der westlichen öffentlichen Aufmerksamkeit in eine gänzlich
andere Richtung verschieben sollte.
Die zügige und noch immer andauernde Erosion jeglicher Rechtsstaatlichkeit
im „Krieg gegen den Terror“ ließ Genua fast wie eine Petitesse erscheinen.
Die juristische Aufarbeitung dauerte lange, viele Verurteilungen gegen
Polizeibeamte hatten wegen Verjährung keine Auswirkungen mehr. Politisch
Verantwortliche wurden nie zur Rechenschaft gezogen, Befehlsketten waren
nicht rekonstruierbar, die Täter schweigen bis heute.
Die Multitude ist in den folgenden Jahren an ihrer Unterschiedlichkeit
zerbrochen. Die letzte Gemeinsamkeit für die Protestierenden von Genua ist
das Trauma, für einen Augenblick, an einem fünf Meter hohen Zaun, in engen
Gassen, in einer Schule und in einer Kaserne dem nackten, ungeschminkten
Faschismus in die Augen gesehen zu haben – und vielleicht die Erinnerung
daran, es wenigstens nicht allein getan zu haben.
17 Jul 2021
## LINKS
[1] /!1166946/
[2] /!1159098/
[3] /!1166748/
[4] https://www.repubblica.it/online/politica/gottodiciassette/tentazione/tenta…
[5] https://www.youtube.com/watch?v=ubc9M9HBcIo
[6] /!1158188/
## AUTOREN
Daniél Kretschmar
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
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