| # taz.de -- 20 Jahre nach G8-Protesten in Genua: Der zerschlagene Protest | |
| > Vor 20 Jahren entfesselte die Staatsmacht in Italien eine Gewaltorgie | |
| > gegen die G8-Proteste in Genua. Das Unrecht ist bis heute nicht | |
| > aufgearbeitet. | |
| Bild: Carlo Giuliani, von der italienischen Polizei erschossen, bei den Anti-G8… | |
| Vor 20 Jahren, im Juli 2001, mobilisierten Hunderte Bewegungen, Parteien | |
| und Gewerkschaften zum [1][Protest gegen den G8-Gipfel] in Genua. „Ihr G8, | |
| wir 6 Milliarden“ – so lautete das eingängige Motto. Man wollte nichts | |
| weniger als die Stimme der Weltbevölkerung gegen die Herren der | |
| Globalisierung, gegen die Staats- und Regierungschefs der acht mächtigsten | |
| Staaten auf dem Globus sein. | |
| Und die Szenerie gab den Protestierer*innen recht. Die G8-Teilnehmer | |
| hatten sich in der festungsgleich zur Roten Zone umgewandelten, | |
| gespenstisch menschenleeren Innenstadt von Genua verschanzt, während | |
| draußen in den anderen Vierteln die Zehntausenden Gipfelgegner*innen | |
| in ihrer bunten Vielfalt das Straßenbild dominierten. | |
| Um den Protest der Globalisierungskritiker*innen in Schach zu halten, | |
| hatte Italiens Regierung unter Silvio Berlusconi mehr als 20.000 | |
| Einsatzkräfte aus Polizei, Carabinieri, Finanzpolizei aufgeboten. Ja, | |
| selbst die Forstpolizei war dabei. | |
| Italiens Staatsmacht wollte den Protest mit voller Härte zerschlagen, brach | |
| dafür systematisch Gesetze und setzte systematisch demokratische | |
| Grundfreiheiten außer Kraft. Die Staatsmacht entfesselte zwei Tage lang | |
| eine Gewaltorgie, die einer präzisen Agenda folgte. | |
| Das Ergebnis waren ein Toter – [2][Carlo Giuliani] –, Hunderte teils | |
| Schwerverletzte, Hunderte willkürlich Inhaftierte, Tausende bei den | |
| Schlagstockeinsätzen verprügelte Demonstrant*innen. Am Schluss folgte der | |
| brutale Sturm auf die Scuola Diaz, die Gipfelgegner*innen als | |
| Übernachtungsstätte diente. Polizisten hatten die „Beweisstücke“, darunt… | |
| einen Molotow-Cocktail, die die militante Gefährlichkeit der | |
| Protestierenden beweisen sollte, selbst in die Scuola Diaz gebracht. | |
| ## Straftäter als Staatsdiener | |
| Dank mühsamer Ermittlungen der Justiz gelang es später, diverse | |
| Spitzenbeamte der Polizei unter anderem wegen dieser gefakten Beweise zu | |
| verurteilen. Allerdings musste keiner von ihnen die Haftstrafen von bis zu | |
| fünf Jahren antreten. Diverse Beamte wurden auf gerichtliche Anordnung für | |
| fünf Jahre vom Dienst suspendiert – und gleich darauf wieder in die Polizei | |
| aufgenommen. Und sogar befördert. In den Augen der Polizeiführung und des | |
| Innenministeriums hatten die Straftäter ja als treue Staatsdiener | |
| gehandelt. | |
| Die volle Härte des Gesetzes traf dagegen zehn Aktivist*innen des Black | |
| bloc, die einen Supermarkt geplündert hatten. Für sie setzte es Haftstrafen | |
| von bis zu 14 Jahren. Einer ist noch immer inhaftiert. Bei einem anderen | |
| bemüht sich Italiens Regierung gegenwärtig um die Auslieferung aus | |
| Frankreich. Diese Asymmetrie zeigt, dass von einer wirklichen Aufarbeitung | |
| der Ereignisse von Genua durch Italiens Institutionen bis heute keine Rede | |
| sein kann. | |
| Die entfesselte staatliche Gewalt folgte scheinbar einer plausiblen Ratio. | |
| Die verschiedenen Segmente der Protestfront sollten auseinander dividiert, | |
| die eher pazifistisch Gestimmten ein für alle Mal abgeschreckt werden. In | |
| Genua waren 300.000 Demoteilnehmer*innen. Danach gab es nie mehr | |
| Gipfelproteste dieses Ausmaßes. | |
| ## Der Niedergang der Bewegung | |
| Dennoch überzeugt diese Abschreckungsthese nicht. Denn im November 2002, 16 | |
| Monate nach Genua, kamen eine halbe Million Menschen nach Florenz zur | |
| Abschlussdemonstration des European Social Forum. Sie demonstrierten gegen | |
| den von den USA seinerzeit vorbereiteten Irakkrieg und ließen sich nicht | |
| von den vorher ausgemalten Horrorszenarien eines brennenden Florenz | |
| abschrecken. | |
| Die Gründe für den Niedergang der folgenden Jahre sind wohl in den Reihen | |
| der Globalisierungskritiker*innen selbst zu suchen, in jener | |
| „Bewegung der Bewegungen“, die „nichts für sich selbst verlangt, sondern | |
| Gerechtigkeit für die ganze Welt einfordert“, wie es damals hieß. | |
| Breiter konnte diese Front in der Tat kaum aufgestellt sein. Sie reichte | |
| von katholischen Ordensschwestern und Pfadfinder*innen bis zu | |
| Dritte-Welt-Gruppen, von Umweltinitiativen bis zu Attac, von | |
| Basisgewerkschaften bis zu orthodox-kommunistischen Parteien und | |
| Anarchist*innen. Alle diese Menschen redeten miteinander. Heraus kam ein | |
| buntes Potpourri an Forderungen von der Finanztransaktionssteuer bis zu | |
| gerechterem Welthandel, von öffentlicher Wasserversorgung bis zu einer | |
| Öffnung gegenüber Migrant*innen. | |
| ## IWF zerstören – oder reformieren? | |
| Zusammengehalten wurde dieser Strauß an Positionen von einer gemeinsamen | |
| diffusen Gegnerschaft gegen den Neoliberalismus. Doch eine gemeinsame | |
| Sprache, gar eine gemeinsame Agenda entstand so nicht, weder in Genua noch | |
| auch gut ein Jahr später beim European Social Forum in Florenz. Dort warben | |
| die einen für die Reform des IWF. Die anderen – von der radikalen Linken – | |
| dagegen verlangten gleich dessen Abschaffung. | |
| So wurden die Mobilisierungsanlässe weiter durch die Gegenseite gesetzt, | |
| durch die diversen G8- oder G7-Gipfel, durchgeführt an immer entlegeneren | |
| Orten und mit Protesten, die von Jahr zu Jahr bescheidener ausfallen. Es | |
| entbehrt nicht der Ironie, dass das letzte European Social Forum im Jahr | |
| 2010 stattfand, nur kurz nach dem Ausbruch der globalen Finanzmarktkrise, | |
| die den schon in Genua lautgewordenen Warnungen der | |
| Globalisierungskritiker*innen auf ganzer Linie recht gab. | |
| Es war dann die Eurokrise, die in diversen Ländern Europas neue | |
| organisierte Formen des Protestes hervorbrachte oder nach oben trug, von | |
| Syriza in Griechenland über die Fünf Sterne in Italien bis zu den | |
| spanischen Indignados. Überall dort spielten und spielen Aktivist*innen | |
| aus dem gut gebildeten Prekariat eine wichtige Rolle – Menschen, die nicht | |
| nur „Gerechtigkeit für die ganze Welt“ fordern, sondern die auch ihre | |
| eigenen Lebensumstände verändern wollen. | |
| Entstanden sind auch Bewegungen, vorneweg Fridays for Future, die eine | |
| radikale Wende in der Klimapolitik reklamieren. Sie knüpfen auf ihre Weise | |
| an Genua an – an den Protest gegen eine Globalisierung, die den Planeten | |
| ebenso wie die Lebensperspektiven von Milliarden Menschen zu zerstören | |
| droht. | |
| 20 Jul 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://de.wikipedia.org/wiki/G8-Gipfel_in_Genua_2001 | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Carlo_Giuliani | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Braun | |
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