# taz.de -- 100 Jahre Institut für Sozialforschung: „Widersprüche ins Zentr… | |
> Stephan Lessenich möchte als Direktor des IfS zu einer Globalisierung der | |
> Kritischen Theorie beitragen und Bezüge zum alten Institut akzentuieren. | |
Bild: Der Soziologe Stephan Lessenich | |
Vor der Kulisse der Frankfurter Hochhäuser steht in der Senckenberganlage | |
26 ein unauffälliges dreistöckiges Gebäude, das von einer widerständigen | |
Geschichte zeugt. Hier residiert das [1][Institut für Sozialforschung | |
(IfS), das in diesen Tagen sein 100-jähriges Bestehen] feiert. Der Gedanke | |
des Instituts war und ist, statt beim katastrophalen „Weiter so“ des | |
gesellschaftlichen Alltags mitzumachen, Kritik am Gegebenen zu formulieren. | |
So unscheinbar das Institutsgebäude heute den Flanierenden erscheinen mag, | |
ist es doch ein von Legenden umrankter Ort voller Geschichten über | |
erbitterte Kämpfe und Heiligsprechungen. Es sind nur neun Stufen hinauf ins | |
Institut, doch bereits das Treppenhaus erinnert an die Bilder seiner | |
Besetzung in den 60er Jahren. Angesichts dieser Mythen erscheinen die | |
heiligen Hallen wie verhext, als würden im Besprechungsraum im ersten Stock | |
noch ehemalige Direktoren herumgeistern. | |
Der Soziologe Stephan Lessenich, bei dem der Autor dieses Textes | |
promoviert, will als neuer Direktor Bezüge zum alten Institut und der | |
Kritischen Theorie schärfer akzentuieren. Das Jubiläum ist für ihn | |
Gelegenheit, den neuen Ansätzen seines Teams eine breite gesellschaftliche | |
Öffentlichkeit zu geben. Und es war Anlass, den Etat zu erhöhen. Lessenichs | |
Bedingung, um aus München nach Frankfurt zu wechseln, war: mehr Geld. | |
Mit erhöhtem Etat durch das Land Hessen und die Stadt Frankfurt und einer | |
Kooperationsprofessur an der Goethe-Universität soll in den nächsten Jahren | |
ein neues Forschungsprogramm entwickelt werden. Dieses wird sich auch | |
kritisch mit der Institutsgeschichte auseinandersetzen und soll die | |
„selbstgewählte Provinzialität“ hinter sich lassen. Lessenich möchte zu | |
einer Globalisierung der Kritischen Theorie beitragen. | |
## Verlust von Gestaltungsmöglichkeiten | |
Im Sitzungssaal mit dem Rücken zur historischen Bücherwand mit Hängetafel | |
und Bibliotheksleiter erklärt Lessenich, wie er das heutige Institut in das | |
große Erbe einreihen möchte: „Wir machen hier herrschaftskritische | |
Soziologie auf der Höhe ihrer Zeit, auf der Zeit der Herrschaft, und | |
versuchen aus der Negierung dessen, was ist, etwas zu ziehen für das Denken | |
in alternativen Gestaltungsoptionen.“ Da kommt Alexandra Schauer ins Spiel. | |
Schauer, Mitarbeiterin des IfS, hat im obersten Stockwerk ihr Büro mit | |
Sicht auf die Goethe-Universität. Sie hat im Januar ihre mehrfach prämierte | |
Monografie „Mensch ohne Welt“ veröffentlicht, mit der sie die Gegenwart mit | |
den frühen Grundhaltungen des Instituts verbindet. Sie untersucht darin den | |
(gefühlten) Verlust von Gestaltungsmöglichkeiten in der Spätmoderne. Die | |
Menschen erleben in ihr eine Gegenwart, „in der sie sich nicht | |
wiedererkennen“. Sie leiden an Idealen, die sie nicht erfüllen können, und | |
vertrauen weder ihren eigenen noch politischen Möglichkeiten, das Leben zu | |
verändern: In dieser Gegenwart herrscht die Angst, einzeln und kollektiv zu | |
versagen. | |
Die 100-jährige Geschichte des Instituts begann mit einer Freundschaft, | |
[2][dem engen Kreis um Max Horkheimer, Friedrich Pollock und Felix Weil]. | |
Das ganze Leben Pollocks und Horkheimers war durch diese Freundschaft | |
gekennzeichnet, sie verschriftlichten ihre Beziehung 1911 sogar in einem | |
Freundschaftsvertrag, den sie bis an ihr Lebensende immer wieder | |
aktualisierten. Dieser Vertrag, eine Auflistung von Verhaltensregeln und | |
Grundüberzeugungen, sollte zur „Schaffung der Solidarität aller Menschen“ | |
führen. | |
Die drei Freunde heckten die Idee einer Einrichtung aus, die theoretisch | |
wie empirisch über soziale Zusammenhänge forschen sollte, auf der Suche | |
nach einem Weg zu einer besseren,vernünftigeren Gesellschaft. Die Freunde | |
waren sich der Notwendigkeit eines solchen Instituts sicher, da „der | |
Prozess der Gesellschaft neuen Katastrophen zutreiben werde“ (Horkheimer). | |
Glücklicherweise hatte Felix Weils Vater, ein erfolgreicher Unternehmer, | |
schon länger den Gedanken, zum Mäzen aufzusteigen. Er finanzierte seinem | |
Sohn ein Institut an der Universität Frankfurt. | |
## Marx und Freud | |
Als erster Direktor wurde der Austromarxist Carl Grünberg berufen, der sich | |
in seiner flammenden Antrittsrede zur Bestürzung der versammelten | |
Frankfurter Ordinarien zum Marxismus bekannte. Die Rede gab die | |
Stoßrichtung des IfS für Jahrzehnte vor. Nach einem Schlaganfall Grünbergs | |
ersetzte ihn Max Horkheimer, der 1931 zum Direktor berufen wurde. | |
Horkheimer verschob den Fokus vom reinen Marxismus zu einer [3][Verbindung | |
zwischen den Überlegungen von Karl Marx und Sigmund Freud], wodurch im | |
Laufe der dreißiger Jahre die Kritische Theorie entstand. Diese Form der | |
Theorie stellt in Abrede, dass die Wirklichkeit abgeschlossen oder | |
endgültig ist. Sie will stattdessen aufzeigen, dass eine andere Welt ohne | |
Unterdrückung des Menschen durch den Menschen möglich ist. | |
Auf diese Überlegungen traf jedoch die gesellschaftliche Wirklichkeit mit | |
all ihrer Radikalität. Horkheimer, der schon vor Machtübernahme der Nazis | |
in immer wechselnden Hotels wohnte, um einer möglichen Verhaftung zu | |
entgehen, hatte Teile des Instituts schon 1932 nach Genf übersiedeln | |
lassen. Es sollte sich als vorausschauende Maßnahme erweisen. Kurz darauf | |
schloss die Gestapo das Institut und beschlagnahmte ihr Archiv. Der | |
Faschismus beendete die erste Frankfurter Phase des Instituts. Horkheimer | |
leitete das Institut durch die Jahre des Exils zuerst aus Genf, später aus | |
den USA und versuchte, die Forschung weiterzuführen und Mitarbeitende mit | |
ins Exil zu nehmen. Doch nicht alle schafften es in Sicherheit. Wichtige | |
Denker der kritischen Theorie fielen dieser Zeit zum Opfer: Walter Benjamin | |
nahm sich auf der Flucht das Leben. | |
Die Jahre im Exil waren trotz aller Herausforderungen auch von enormer | |
Produktivität gezeichnet. Die Zeitschrift für Sozialforschung | |
veröffentlichte bahnbrechende Arbeiten – die stets von der Überzeugung | |
geprägt waren, sich einmischen zu müssen, ohne mitzumachen. „Aber der | |
Gedanke des Instituts war ja eben, sich dieser Wirklichkeit nicht so ohne | |
weiteres zu fügen. Vielleicht wird es doch so kommen, aber dann wenigstens | |
nicht ganz ohne Widerstand“, so Horkheimer. | |
Nach Kriegsende stand eine weitreichende Entscheidung für das Institut an: | |
Sollte man in den USA bleiben oder nach Frankfurt zurückkehren? In den | |
Briefen zwischen den Akteuren lassen sich langjährige harte | |
Auseinandersetzungen nachvollziehen. Zum Schluss fiel die Entscheidung | |
doch, nach Deutschland zurückzukehren. Man fand ein verändertes Land vor. | |
Das alte Gebäude war im Krieg zerstört worden, ein neues musste gebaut | |
werden. Den neuen Räumen folgte ein neuer Geist: In den 50ern entwickelte | |
das Institut eine noch nicht dagewesene Nähe zu den Studierenden. In dieser | |
Phase, in der die Stärkung des Individuums als Ziel formuliert wurde, | |
warfen sich Horkheimer und Theodor W. Adorno mit Freude in die Lehre. | |
## An anderen Orten weitergeführt | |
Ihre Radikalität zeigten sie nur hinter vorgehaltener Hand. Wie die | |
internen Protokolle dieser Tage zeigen, wurde am Institut über eine | |
Theorieausbildung gesprochen, die „Marx, Engels und Lenin“ (Adorno) die | |
Treue halten und sich gegen den Konservatismus der Adenauer-Zeit stellen | |
sollte. Unter den Studierenden dieser Zeit finden sich nicht wenige, die in | |
den nächsten Jahrzehnten die deutsche Forschungslandschaft maßgeblich | |
mitbestimmen sollten: Elisabeth Lenk und ihre literaturwissenschaftlichen | |
Studien, Regina Becker-Schmidt und die Ausweitung der Kritischen Theorie | |
auf feministische Fragen oder Friedrich Weltz und seine Pioniertätigkeiten | |
in Sachen qualitativer Sozialforschung. Auch wenn ihre Wege weg vom | |
Institut führten, schrieben sie die Geschichte des IfS als Lehreinrichtung | |
fort. | |
Die Nähe zwischen Studierenden und Dozenten wurde in den stürmischen 60ern | |
brüchig. Die bewegte Generation der Universitätsproteste stellte radikale | |
Forderungen, auf die die Direktoren nicht im gewünschten Sinne antworten | |
wollten. Insbesondere die Vorgehensweise der Studierenden erregte den Unmut | |
der Direktoren. Am Zenit dieser Entfremdung zwischen den Studierenden und | |
den Vertretern des Instituts stand das bekannte „Busenattentat“. | |
Bei diesem letzten öffentlichen Auftritt Adornos, kurz vor seinem | |
überraschenden Tod, umringten drei barbusige Studentinnen Adorno am | |
Vorlesungspult und ließen Blumen auf sein Haupt fallen, worauf Adorno mit | |
der Aktentasche über dem Kopf und mit dem Gelächter des Auditoriums im | |
Nacken den Saal verließ. Hans-Jürgen Krahl, ein jung verstorbener Schüler | |
Adornos, schrieb, sein einstiger Lehrer habe sich vom aufrührerischen | |
Revolutionsrot zum spießigen Polizeigrün gewandelt. Weitere Brüche | |
zeichneten sich auch mit der Abkehr von Jürgen Habermas von Frankfurt ab | |
und der Trennung des gemeinsamen Wegs des Instituts und der Kritischen | |
Theorie. | |
Während die Kritische Theorie nun an anderen Orten weitergeführt wurde, | |
setzte sich das Institut verstärkt mit seinem Erbe auseinander. Hierfür | |
steht exemplarisch die 75-Jahr-Feier 1999 und die Kritik an dem nun als zu | |
anspruchsvoll geltenden Theorieprogramm. Diese Kritik distanzierte sich | |
deutlich von den Grundannahmen des frühen IfS und sah ihr Programm | |
Kritischer Theorie als gescheitert an. | |
Das aktuelle Jubiläum steht unter einem günstigeren Stern. Stephan | |
Lessenich gibt das Motto vor: Zurück auf Los. „Wir wollen Widersprüche | |
wieder ins Zentrum von kritischer Gesellschaftsanalyse und empirischer | |
Sozialforschung stellen.“ Oder um nach 100 Jahren Institut für | |
Sozialforschung in den Worten Schauers zu sprechen: „Versuchen wir, was | |
unmöglich erscheint, retten wir das Mögliche!“ | |
3 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] /100-Jahre-Institut-fuer-Sozialforschung/!5907842 | |
[2] /Ein-Gruender-der-Frankfurter-Schule/!5656747 | |
[3] /Lehrstuhl-vor-dem-Aus/!5765960 | |
## AUTOREN | |
Marc Ortmann | |
## TAGS | |
Gesellschaftskritik | |
Kritische Theorie | |
Theodor W. Adorno | |
Horkheimer | |
Karl Marx | |
Sigmund Freud | |
Soziologie | |
Psychoanalyse | |
Neue Frankfurter Schule | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
100 Jahre Institut für Sozialforschung: Marxistische Arbeitswochen | |
Das Institut für Sozialforschung in Frankfurt feiert seinen hundertsten | |
Geburtstag. Zum Auftakt blickte man zurück in die Geschichte und hörte | |
Musik. | |
Lehrstuhl vor dem Aus: Verdrängung der Psychoanalyse | |
In Frankfurt ist einer der letzten psychoanalytischen Lehrstühle in Gefahr. | |
Dabei könnte er helfen, die Corona-Protestbewegung zu verstehen. | |
Ein Gründer der Frankfurter Schule: Der Undurchschaubare | |
Der große Anteil Friedrich Pollocks an der Kritischen Theorie ist kaum | |
bekannt. Philipp Lenhard hat nun die erste Biografie über ihn geschrieben. |