| # taz.de -- Japanischer Arbeitsfetisch: Arbeiten, arbeiten, arbeiten, arbeiten,… | |
| > In Japan sterben viele Beschäftigte an Überarbeitung. Hinterbliebene | |
| > kämpfen für eine neue Arbeitskultur. Doch die Premierministerin hält | |
| > davon wenig. | |
| Bild: Yukimi Takahashis Tochter Matsuri nahm sich 2015 überarbeitet das Leben | |
| Das Einfamilienhaus von Yukimi Takahashi in Mishima, eine Schnellzug-Stunde | |
| südwestlich von Tokio, ist grau und unscheinbar. Die zierliche Frau Anfang | |
| sechzig bittet ihren Besucher verlegen hinein, sie habe die Unordnung der | |
| Enkelkinder eigentlich noch aufräumen wollen. Dann öffnet sie die Tür zum | |
| ehemaligen Zimmer ihrer Tochter Matsuri. | |
| Auf einer Anrichte stehen eine Totenurne und ein kleines Foto mit einem | |
| lächelnden Gesicht, daneben liegen ihr Portemonnaie, ihr Smartphone in | |
| einem zerfledderten Lederumschlag und andere persönliche Dinge – so, als | |
| könnte die junge Frau jederzeit zur Tür hereinkommen. Doch Matsuri nahm | |
| sich vor 10 Jahren, am Heiligabend 2015, das Leben – als Folge von | |
| unmenschlich vielen Überstunden, die sie für ihren ersten Arbeitgeber, | |
| Japans größten Werbekonzern Dentsu, leisten musste. „Für mich ist die Zeit | |
| damals stehen geblieben“, erzählt Yukimi Takahashi. Die Liebe zu ihrer | |
| Tochter sei seitdem „wie eingefroren“. | |
| Der Tod der 24-jährigen Angestellten lenkte damals den Blick auf ein | |
| japanisches Phänomen: [1][den Krankheitstod durch Überarbeitung, Karoshi], | |
| und den Suizid durch Überarbeitung. Der Fall sorgte damals weltweit für | |
| Schlagzeilen, weil Dentsu die Werbung für viele Konzerne in Japan macht. | |
| Aber Matsuri war und ist kein Einzelfall. Im Jahr 2024 erkannten Gerichte | |
| 89 arbeitsbedingte Suizide oder Suizidversuche sowie 67 Hirn- und | |
| Herzinfarkte als Folgen von Stress und Überlastung an. Expert:innen | |
| gehen von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus. | |
| Doch die Arbeitswelt hat sich in den zehn Jahren seit Matsuris Suizid | |
| verändert: Die Bevölkerung schrumpft, Unternehmen suchen händeringend | |
| Nachwuchs. Das erleichtert es Jüngeren, Überstunden abzulehnen oder den | |
| Arbeitgeber zu wechseln. „In meinem früheren Job waren es so 50 bis 60 | |
| unbezahlte Überstunden im Monat“, erzählt ein junger Mann in einer | |
| Straßenumfrage des TV-Senders TBS. Nach einiger Zeit habe er deshalb den | |
| Job gewechselt. Unbezahlte Überstunden seien ohnehin illegal, fügt er | |
| hinzu. | |
| ## Zwei bis vier Stunden Schlaf | |
| Mit dem Arbeitsethos der neuen Premierministerin Sanae Takaichi können | |
| solche Beschäftigte nichts anfangen. Anfang Oktober 2025 wählt die | |
| regierende LDP Takaichi zu ihrer Vorsitzenden, wenig später wird sie | |
| Premierministerin. In ihrer Siegesrede fordert sie die Parteifreunde auf, | |
| „wie Ackergäule zu schuften“. [2][Sie selbst werde den Begriff | |
| Work-Life-Balance wegwerfen] und „arbeiten, arbeiten, arbeiten, arbeiten | |
| und arbeiten“. Bald danach kündigt sie an, die bisherigen Regeln für | |
| Überstunden aufzuweichen. Sie selbst schläft nach eigenen Angaben nur zwei | |
| bis vier Stunden pro Nacht, fährt um drei Uhr morgens ins Büro. | |
| Der Arbeitsethos von Takaichi ähnelt dem der jungen Matsuri. Diese stammt | |
| aus einfachen Verhältnissen, ihre Mutter ist alleinerziehend, aber Matsuri | |
| arbeitet sich nach oben, besteht die schwere Aufnahmeprüfung an der | |
| Eliteuniversität Tokio und studiert Geisteswissenschaften. Als Dentsu sie | |
| einstellt, scheint sich ein klassischer japanischer Traum zu erfüllen: der | |
| prestigeträchtige Job in einem Großkonzern, Sicherheit, Status. Doch der | |
| Traum kippt. „Sie hat mir am Telefon erzählt, dass sie bis spät in die | |
| Nacht und bis in den frühen Morgen arbeiten muss“, erinnert sich die | |
| 62-jährige Takahashi. Ihre Tochter sei manchmal erst um vier Uhr morgens in | |
| ihr Wohnheim zurückgekehrt, habe schnell geduscht und gleich wieder | |
| losgemusst. | |
| Später zeigen die Protokolle der Zugangsschranke der Konzernzentrale, dass | |
| Matsuri über Monate jeweils mehr als 105 Überstunden leistete. Dentsu | |
| versuchte, die Belastung zu kaschieren. „Ihre Vorgesetzten zwangen sie, | |
| andere Gründe für ihre Anwesenheit im Büro in die Protokolle einzutragen, | |
| etwa, dass sie freiwillig etwas für sich recherchiere oder sich privat | |
| fortbilde“, erzählt Takahashi. | |
| In Wirklichkeit verbrachte sie viele Überstunden damit, eine firmeninterne | |
| Veranstaltung zu planen. Nach dem Event rügte ihr Chef sie für angebliche | |
| Fehlleistungen bei der Moderation und der Organisation von Spielen. Dentsus | |
| interne Leitsätze fordern Selbstaufopferung. „Gib die Aufgabe nicht auf, | |
| auch wenn du dafür stirbst“, lautet ein Prinzip darin. Dieser | |
| rücksichtslosen Firmenkultur hält Matsuri nicht stand. Nach nur acht | |
| Monaten bei Dentsu springt sie am 24. Dezember 2015 vom Dach des | |
| firmeneigenen Wohnheims in den Tod. | |
| ## „Das ist Karoshi“ | |
| Die Mutter erinnert sich an den Moment in der Polizeistation: „Als ich ihre | |
| Leiche gesehen habe, wusste ich sofort: Das ist Karoshi. Dafür ziehe ich | |
| Dentsu zur Verantwortung.“ Takahashi klagt gegen den mächtigen Werbekonzern | |
| – und gewinnt. Dentsu erkennt den Suizid als Arbeitsunfall an, zahlt eine | |
| Entschädigung und verspricht Besserung. | |
| Vertreten wird die Mutter vom Anwalt Hiroshi Kawahito, der seit den 1990er | |
| Jahren Angehörige von Karoshi-Opfern unterstützt. Sein damals | |
| prominentester Erfolgsfall ist ebenfalls der Suizid eines | |
| Dentsu-Mitarbeiters, den der oberste Gerichtshof schließlich als | |
| Karoshi-Fall bestätigt. Kawahitos heutiges Fazit fällt ernüchternd aus: In | |
| Japan sei das Bewusstsein gewachsen, dass Todesfälle durch Überarbeitung | |
| verschwinden müssten. „Aber eine grundlegende Veränderung hat noch nicht | |
| stattgefunden“, sagt Kawahito. | |
| Zahlen stützen seine Diagnose. Laut OECD arbeiten Japaner:innen im | |
| Schnitt rund 1.600 Stunden im Jahr – etwa 300 Stunden weniger als in den | |
| 1990er Jahren, aber immer noch knapp 300 Stunden mehr als Deutsche. Ein | |
| Grund: Im Durchschnitt nehmen sie nur 11 Urlaubstage, obwohl ihnen bis zu | |
| 20 gesetzlich zustehen. Hinzu kommt viel unbezahlte Mehrarbeit, die in der | |
| Statistik nicht auftaucht. Halb scherzhaft reden die Beschäftigten von | |
| „Service-Überstunden“. | |
| Die Bereitschaft, lange zu schuften, sei tief in der Gesellschaft | |
| verankert, meint der Anwalt. Schon früh würden Kinder mit dem Motto | |
| sozialisiert: „work hard, study hard“, hart arbeiten, hart lernen – um auf | |
| eine bessere Universität und in eine noch bessere Firma zu kommen. „Das ist | |
| der typische Lebensentwurf in Japan“, erklärt er. Wer es in ein angesehenes | |
| Unternehmen geschafft habe, leiste dann auch bereitwillig mehr Stunden, um | |
| im Betrieb anerkannt zu werden. Auch Matsuri wollte nach all den | |
| Anstrengungen nicht aufgeben. | |
| ## Die Jungen machen Druck | |
| Japans Arbeitskultur belohnt bis heute diejenigen, die lange im Büro | |
| bleiben – nicht diejenigen, die effizient arbeiten. Viele Angestellte gehen | |
| erst nach Hause, nachdem der Chef das Haus verlassen hat. Besonders Frauen | |
| und Ältere können wegen dieser Präsenzkultur oft nicht Vollzeit arbeiten, | |
| was angesichts der schrumpfenden Erwerbsbevölkerung zum Problem wurde. Der | |
| Tod von Matsuri Takahashi erhöhte den Handlungsdruck auf die Politik. Der | |
| damalige Regierungschef Shinzo Abe legte schließlich eine | |
| „Arbeitsstilreform“ auf, die 2019 in Kraft tritt. Zum ersten Mal führt | |
| Japan gesetzliche Obergrenzen für Überstunden ein. | |
| Regulär erlaubt sind seitdem bis zu 45 Überstunden im Monat. Im | |
| Durchschnitt mehrerer Monate dürfen Firmen aber bis zu 80 Überstunden | |
| verlangen, in Ausnahmefällen in einem Monat sogar 100. Bei einer | |
| Fünftagewoche sind also 12-Stunden-Tage über längere Zeit erlaubt. Die | |
| Weltgesundheitsorganisation empfiehlt höchstens 55 Überstunden. Nach | |
| Inkrafttreten der Reform kontrollierte die Gewerbeaufsicht intensiv, ob | |
| sich Behörden und Firmen an die neuen Regeln halten. In vielen Ämtern und | |
| Unternehmen entstand in dieser Zeit ein Krisenbewusstsein; die | |
| Stadtverwaltung von Tokio etwa schaltet seither um 20 Uhr das Licht im Büro | |
| aus. | |
| Zugleich verschiebt die stark geschrumpfte Zahl von jüngeren Arbeitskräften | |
| die Machtverhältnisse in der Arbeitswelt. Die Unternehmen bieten ihnen | |
| höhere Einstiegsgehälter und versprechen eine gute Work-Life-Balance, um | |
| sie für sich zu gewinnen. Üben sie zu viel Druck aus, wechseln Jüngere | |
| einfach den Arbeitgeber. In sozialen Medien kursiert seit einiger Zeit der | |
| Hashtag „Zangyou Kyancelu“ – das „Streichen von Überstunden“. | |
| „Ich bin jemand, der keine Überstunden machen will“, sagt eine junge Frau | |
| bei der TBS-Umfrage. Sie verstehe nicht, warum man seine private Zeit | |
| opfern müsse, nur um noch mehr zu arbeiten. Eine andere Frau berichtet von | |
| jüngeren Kolleg:innen, die auf der Toilette Nickerchen machen. | |
| ## „Wie Sklaven“ | |
| Die neue Regierungschefin scheint von der entspannten Arbeitseinstellung | |
| der jüngeren Generation nichts zu wissen – oder nichts zu halten. Im | |
| Parlament erläutert sie ihren Vorstoß, die Obergrenzen für Überstunden | |
| wieder zu lockern. „Ich lehne Überstunden ab, die zum Tod durch | |
| Überarbeitung führen“, erklärt sie im November. Doch die bisherige | |
| Deckelung könnte Menschen zwingen, zusätzliche Nebenjobs anzunehmen, um | |
| ihre Lebenshaltungskosten zu decken – und damit ihre Gesundheit gefährden. | |
| Die Gewerkschaften folgen dieser Argumentation nicht: Die Obergrenzen | |
| müssten für eine echte Work-Life-Balance vielmehr sinken und die Grundlöhne | |
| steigen, sagt Tomoko Yoshino, Präsidentin des größten Gewerkschaftsverbands | |
| Rengo. „Viele Arbeitnehmer sind auf Überstundenzuschläge angewiesen, weil | |
| ihr normales Gehalt nicht zum Leben reicht.“ | |
| Karoshi-Anwalt Kawahito bleibt skeptisch. Unternehmen fänden immer neue | |
| Wege, Mehrarbeit zu verlangen, ohne dass diese offiziell als Überstunden | |
| gelten – auch von Berufseinsteigern. Seit der Reform enthielten viele | |
| Arbeitsverträge eine Klausel, dass 45 Überstunden monatlich als regulär | |
| erwartet würden, und zwar ohne zusätzliche Vergütung. Es gebe zwar immer | |
| mehr junge Menschen, die kürzer arbeiteten und ihre freien Tage wirklich | |
| nähmen. „Aber insgesamt sind sie noch klar in der Minderheit“, meint der | |
| Anwalt. Für die meisten gelte nach wie vor an erster Stelle, sich in einer | |
| möglichst guten Firma einen Status zu sichern – und dafür lange | |
| Arbeitszeiten als unvermeidlich zu akzeptieren.“ | |
| Matsuris Mutter erhält jedes Jahr einen Bericht von einem internen | |
| Kontrollgremium bei Dentsu. Danach ist die Zahl der monatlichen Überstunden | |
| auf 70 gesunken. „Das ist immer noch zu viel“, meint Takahashi, die auch | |
| das Gesundheitsministerium bei Maßnahmen gegen Karoshi berät. „Es gibt | |
| keine Strafen für zu viele oder unbezahlte Überstunden“, sagt sie. | |
| Japanische Arbeitnehmer seien wie Sklaven. „Wer einen Arbeitsvertrag | |
| unterschrieben hat, von dem erwartet das Unternehmen, dass Privatleben und | |
| Familie geopfert werden.“ | |
| Anwalt Kawahito will die Ursachen des Problems bekämpfen. „Unser | |
| Bildungssystem, besser gesagt, die Bildungsideologie muss verändert | |
| werden.“ Deshalb zieht es den inzwischen 76-Jährigen vermehrt in | |
| Klassenzimmer und Konferenzräume. Dort versucht er mit Vorträgen das | |
| Bewusstsein junger Menschen und Arbeitnehmer:innen für die | |
| Schattenseiten von Japans Arbeitswelt zu schärfen, die den Wert eines | |
| Menschenlebens noch immer nicht ausreichend achtet. | |
| Haben Sie suizidale Gedanken? Bitte wenden Sie sich an die nächste | |
| psychiatrische Klinik oder rufen Sie in akuten Fällen den Notruf unter 112. | |
| Eine Liste mit weiteren Angeboten finden Sie unter | |
| [3][taz.de/suizidgedanken]. | |
| 13 Dec 2025 | |
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