| # taz.de -- Eine Weihnachtsgeschichte: Johnny kommt zu dritt | |
| > Das Weihnachtsfest mit neuer Liebe und unerwartet vielen neuen Menschen – | |
| > und dann auch noch dieser uralte Hund, der einfach nicht pinkeln will. | |
| Bild: Weihnachtsgeschichte: Weihnachten ist für die Liebe da, sagt man – und… | |
| Die Sache ist die, ich habe Johnny schon im August eingeladen“, sagte | |
| Herbert und was sollte ich dazu sagen? Ich kannte Herbert seit vier Monaten | |
| und Johnny kannte ihn schon seit Jahren. | |
| „Er ist ein bisschen komisch“, sagte Herbert. „Er verhält sich nicht so, | |
| wie andere Menschen. Also nicht, dass er irgendwie gestört wäre, das nicht. | |
| Und im Grunde weiß ich auch nicht, was ich dir damit sagen will.“ | |
| „Na ja, irgendwas willst du mir aber sagen, oder?“, sagte ich. | |
| „Ich will dich darauf vorbereiten, dass wir Weihnachten zu dritt sein | |
| werden: Johnny, du und ich. Es geht nicht anders. Ich kann ihn jetzt nicht | |
| mehr ausladen.“ | |
| „Natürlich nicht“, sagte ich, „das verstehe ich doch. Ich bin gespannt, … | |
| freu’ mich drauf.“ | |
| Herbert sah mich aufmerksam an. Forschte in meinem Gesicht. Packte mich am | |
| Arm. | |
| „Wirklich?“ | |
| „Ja!“ Ich war so froh, dass ich ihm beweisen konnte, wie tolerant, | |
| freundlich und liebevoll ich sein konnte. Wie sehr ich bereit war, mich auf | |
| ihn und sein mir noch recht unbekanntes Leben einzulassen. Wir kannten uns | |
| seit vier Monaten und liebten uns schon so, als kannten wir uns vier Jahre. | |
| Oder doch nicht. Ich habe schon Erfahrung mit Beziehungen und kann sagen, | |
| nach vier Jahren muss die Liebe nicht unbedingt größer als nach vier | |
| Monaten sein. Die Liebe bewegt sich auf unvorhersehbaren Wegen, sie kann | |
| eine Parabel, eine Welle oder ein Kreis sein. Man weiß es vorher nie. | |
| Mein neuer Freund Herbert ist ein mittelgroßer, stämmiger, fast schon | |
| glatzköpfiger Mann. Er hat ein wundervolles Gesicht und eine | |
| unwiderstehliche Art, einen von sich einzunehmen. Mich jedenfalls. | |
| Wir feierten in Herberts Wohnung, er lebt in einem hübschen, alten Haus. Es | |
| ragt zwischen dreistöckigen Backsteinbauten, wie sie in Hamburg sehr | |
| verbreitet sind, heraus, als hätte es sich verirrt. Aber auch die | |
| Backsteinbauten finde ich hübsch, ich mag diese einfache, rostrote | |
| Bescheidenheit. Herberts Wohnung ist groß und vollgestopft, er hat sie von | |
| seiner Großmutter übernommen, die schon vor dem Krieg hier gewohnt und ihm | |
| einige Möbel hinterlassen hatte. Inzwischen ist diese Wohnung teuer, die | |
| Miete und das Heizen, das hübsche alte Haus mit der Jugendstilfassade ist | |
| vernachlässigt worden. In den Achtzigerjahren wurde ein bisschen | |
| modernisiert. Neue Fliesen, neue Heizkörper, PVC-Boden in der Küche. | |
| Inzwischen ist auch das alles alt, vor allem die Fenster sind alt und die | |
| Farbe blättert ab, aber es ist gemütlich. Wirklich, sehr gemütlich. Mit | |
| Ausnahme von Bad und Küche ist in allen Räumen ein dicker, dunkelgrüner | |
| Teppichboden verlegt. Noch nie habe ich so schönen, weichen Teppichboden | |
| gesehen. Er ist so weich, dass ich mich am liebsten überall hinlegen würde. | |
| Der Staub ist kaum zu sehen, er versinkt einfach im dichten Flor. | |
| Herberts Möbel sind teilweise von seiner Großmutter, Wiebke Karstensen, und | |
| das uralte Namensschild: Karstensen, ist immer noch an der Tür angebracht. | |
| Die Möbel, die Herbert selbst angeschafft hat, sind sehr modern, und das | |
| ergibt einen manchmal ein bisschen erschreckenden Kontrast, als wohne ein | |
| Verrückter in dieser Wohnung. Ein fröhlicher, schizophrener Innenarchitekt | |
| hat diese Wohnung eingerichtet – mein Freund Herbert Karstensen. | |
| „Tja, ich konnte diesen stabilen, alten Schrank einfach nicht wegwerfen“, | |
| sagt er und deutet auf seinen gewaltigen, eichenen Schlafzimmerschrank. | |
| „Warum auch?“, heuchele ich und denke, ich könnte es. | |
| „Weil er hässlich ist?“, sagt Herbert. | |
| Ich berühre das alte Holz, warm und nachgiebig kommt es mir vor. | |
| „Na ja, so hässlich auch nicht“, sage ich und schon keimt in mir Zuneigung | |
| zu diesem Möbelstück und ich kann ihn verstehen. | |
| Herbert hatte einen Weihnachtsbaum gekauft und ihn mit ein paar Kugeln und | |
| einer Lichterkette geschmückt, für mich, weil ich ihm gesagt hatte, wie | |
| gerne ich das alles hatte, dieses Weihnachtszeug. Wir kochten in der Küche | |
| und tranken Rotwein. Wir hörten ByteFM und mühten uns mit dem vegetarischen | |
| Braten von Jamie Oliver. Das Kochen dauerte Stunden, wir küssten uns | |
| zwischendurch und ich strich übers Herberts Fastglatze. Ich dachte, ich | |
| weiß gar nicht, ob ich Haare auf Männerköpfen noch jemals wieder werde | |
| attraktiv finden können. Ich dachte, Jana, du weißt, dass du das können | |
| wirst, du weißt es nur jetzt gerade nicht, weil du vollkommen verwirrt | |
| bist, von deiner Liebe. Die Liebe verwirrt mich immer mehr, als sie es | |
| sollte. Ich verliere die Orientierung und weiß nicht mehr, wer ich bin. | |
| Weihnachten, der Rotwein, es war so eine lustvolle, hingebungsvolle | |
| Erschlaffung in mir, die ich allgemein von diesen Feiertagen her kenne. Der | |
| Bund meiner Strumpfhose kniff in meinen Bauch, meine Wimperntusche war | |
| verschmiert, meine Wangen rot und ich redete zu viel. | |
| Irgendwann klingelte es. Auf Johnny war ich kaum vorbereitet, auf seine | |
| Mutter noch weniger. Und den Hund! | |
| „Das ist meine Mutter“, sagte Johnny. Er trug einen Dufflecoat und eine | |
| dicke, rote Pudelmütze. Seine Mutter war halb so groß wie er und trug eine | |
| Pelzmütze, die halb so groß war, wie sie. Die Hälfte Pelzmütze, die andere | |
| Hälfte Mensch. Sie war ganz außer Atem, sie keuchte. Der Hund war so ein | |
| eine Art konturloser, schmutziger, grauer Filz. Müde, tränende Augen, | |
| vollkommene Reg- und Lustlosigkeit. Während die Mutter ihre Augen und ihre | |
| Lippen erbittert zusammenkniff. | |
| „Immer herein“, sagte Herbert und sie trapsten und schlurften herein. Der | |
| Hund bewegte sich kaum, sein Schwanz hing herab, er rutschte einfach so mit | |
| hinein und sackte auf dem Teppich zusammen. Ich konnte es verstehen. Mir | |
| ging es ganz genauso. | |
| „Herbert“, sagte Herbert zu Johnnys Mutter und reichte ihr die Hand. | |
| „Ich wollte nicht hierher“, sagte Johnnys Mutter, widerspenstig stand sie | |
| da, mantellos, denn den hatte ihr Johnny vom Körper gerissen, sie | |
| regelrecht gewaltvoll daraus herausgepellt. | |
| Sie trug ein hübsches, dunkelrotes Kostüm, das ihrem runden Körper auf den | |
| Leib geschneidert schien (und es wahrscheinlich auch war). Sie sah, so | |
| ausgezogen, eigentlich ganz süß aus, nur bitterböse, das auch. | |
| „Das ist Margarete“, sagte Johnny, „sie wollte nicht hierher, aber ich ha… | |
| ihr gesagt, hierher oder du kannst gleich wieder nach Hause fahren“. | |
| „So geht er mit mir um“, sagte Margarete. | |
| Wir gingen alle ins Wohnzimmer und Margarete ließ sich im Sessel nieder und | |
| füllte ihn aus, wie ein weicher, roter Stöpsel. Ihre Haare waren ein | |
| bisschen zusammengedrückt, sie hatte so weißes, aufgeplustertes Haar, aber | |
| die Mütze hatte diese hübsche Skulptur zerdrückt. Ich spürte einen | |
| verrückten Impuls in meinen Händen. Natürlich tat ich es nicht. Obwohl die | |
| Luft von Irrsinn flirrte. Ich war ganz elektrisiert, alle waren es, sogar | |
| der Hund, dessen Fell elektrisch abstand, nur einzelne Haare, nicht der | |
| ganze Filz, der immer mehr mit dem grünen Teppich verschmolz. | |
| Johnny setzte sich auf das eckige, harte Sofa, darüber hing ein | |
| riesengroßes Bild, weiß mit kleinen grauen Tupfern. Schneetreiben am | |
| Nachmittag? Ich muss mir immer irgendwas erklären, auch bei abstrakter | |
| Kunst. | |
| „Wein? Oder Sekt?“, fragte Herbert, er schien glücklich, das faszinierte | |
| mich, wie so eine ungemütliche Situation ihn so glücklich machen konnte. | |
| Vielleicht machten ihn Herausforderungen glücklich? | |
| Ich folgte ihm in die Küche und tätschelte seinen Hintern. | |
| „Wie kommt es, dass er seine Mutter mitbringt?“, flüsterte ich. | |
| „Ich sagte doch, dass er sich nicht so wie andere Menschen verhält.“ | |
| „Das ist doch keine Erklärung.“ | |
| „Es gibt keine Erklärung. Fang nicht an, dich so etwas zu fragen, es führt | |
| nirgendwo hin. Seine Mutter taucht auf, er will zu uns, also nimmt er sie | |
| mit.“ | |
| „Und das hat er nicht gewusst, dass sie kommt?“ | |
| Herbert zuckte mit den Schultern. „Seine Mutter ist wie er.“ | |
| „Oder vielleicht eher er wie seine Mutter?“ | |
| Wir brachten Sekt und Wein in das Wohnzimmer. | |
| „Mutter nimmt Sekt“, sagte Johnny. | |
| „Ich kann für mich selber sprechen“, sagte Margarete und ließ eine recht | |
| lange Pause, bevor sie sagte, „ich nehme Sekt.“ | |
| Wir stießen an. Der Sekt rann mir die Kehle runter wie Medizin. Ich nahm | |
| gleich noch ein Glas. | |
| Herbert stellte ein weiteres Gedeck auf den Esstisch. | |
| „Es gibt vegetarischen Nussbraten nach Jamie Oliver.“ | |
| „Warum das denn?“, fragte Margarete und setzte sich neben mich, die beiden | |
| Männer saßen uns nun gegenüber. Einer glatzköpfig, der andere mit einen | |
| Kopf voller schwarzer Locken. Ein Opernstar, ein Bühnenmann, der aber gar | |
| nicht auf einer Bühne stand, sondern im Registergericht arbeitete und in | |
| seiner Freizeit Billard spielte, wie Herbert. Das verband sie. | |
| „Ich esse kein Fleisch mehr“, sagte Johnny. | |
| „Das kann ich gar nicht glauben“, sagte Margarete. „Früher hast du immer | |
| Fleisch gegessen.“ | |
| „Ich esse seit Jahren kein Fleisch mehr.“ | |
| „Kommen Sie auch aus Hamburg?“, fragte ich Margarete. | |
| „Ich komme aus Ulzburg“, sagte sie. „Wir kommen alle aus Ulzburg.“ | |
| „Warum feierst du nicht mit den anderen?“, fragte Johnny. | |
| „Darüber will ich jetzt nicht reden“, sagte Margarete und schob sich ein | |
| Stück Kartoffel in den verkniffenen Mund. | |
| „Du hast doch immer mit den anderen gefeiert?“ | |
| „Warum schleppst du mich zu fremden Leuten?“, sagte Margarete. | |
| „Welche anderen?“, fragte ich. | |
| „Die Familie“, sagte Johnny in eisigem Ton. | |
| „Unsere Familie“, sagte seine Mutter in einem ebenso eisigem Ton. | |
| „Johnny versteht sich nicht mit seiner Familie“, erklärte Herbert. | |
| „Verständlich“, sagte Margarete. | |
| „Ach, auf einmal?“, sagte Johnny. | |
| Dann herrschte eine Weile Ruhe. Herbert stellte Weihnachtsmusik an. Zum | |
| Nachtisch gab es Tiramisu. Hinterher Likör. Kaffee. | |
| Johnny sagte, „Ich muss mich kurz langlegen“, legte sich aufs Sofa und | |
| schlief ein. Seine Lippe zitterte. Margarete saß im Sessel und hielt die | |
| Armlehnen fest. Herbert und ich räumten den Tisch ab. Er sagte, „Setz dich | |
| zu ihnen, ich räume nur den Geschirrspüler ein“, und gab mir einen Kuss. | |
| „Herrje!“ | |
| Der Hund hatte sich ins Wohnzimmer geschleppt. Er saß vor Margarete und | |
| starrte sie an. | |
| „Der Hund hat Hunger“, sagte Margarete. | |
| „Haben Sie denn nichts für ihn mit?“, fragte ich. | |
| „Ich dachte, es gibt Fleisch“, sagte Margarete und sah an mir vorbei. | |
| Johnny schnarchte leise. Seine Hände lagen auf seinem Bauch. Ein Kissen war | |
| von der Sofalehne auf seine Beine gefallen. | |
| „Wir haben noch ein paar Kartoffeln“, sagte ich, „und einen Rest vom | |
| Nussbraten“. | |
| „So was frisst er nicht.“ | |
| Ich zuckte mit den Schultern. | |
| „Jingle Bells, Jingle Bells, Jingle all the way“, sang Sinatra. | |
| Der Hund fing an zu winseln. | |
| „Ist das, weil er Hunger hat?“, fragte ich. | |
| „Nein, jetzt muss er mal.“ | |
| „Soll ich mit ihm vor die Tür gehen?“ | |
| „Er geht nicht mit Fremden mit“, sagte Margarete und stemmte sich stöhnend | |
| aus dem Sessel hoch. Ich sah zu Johnny auf dem Sofa. Sie wusste sofort, was | |
| ich dachte. | |
| „Er schläft!“ | |
| „Draußen ist es ein bisschen glatt“, sagte ich. „Es hat gefroren.“ | |
| „Das weiß ich selbst“, sagte Margarete. | |
| „Ich kann Sie begleiten.“ | |
| „Wenn Sie unbedingt wollen.“ | |
| „Ich gehe mit ihr runter“, sagte ich zu Herbert, in der Küche. „Der Hund | |
| muss raus.“ | |
| „Es ist glatt“, sagte Herbert und schrubbte dabei einen Topf. | |
| „Deshalb gehe ich mit.“ | |
| Ich musste Margarete den Hund in die Arme legen, er jaulte. Dann mussten | |
| wir die ganzen Treppen hinuntersteigen, Stufe für Stufe, es gibt keinen | |
| Fahrstuhl. Die Luft war eisig und feucht, es war glatt. Ich nahm Margarete | |
| den Hund aus den Armen, setzte ihn auf der Straße ab. Er stand da, wie ein | |
| Gegenstand, rührte sich nicht. Margarete griff nach meinem Arm. Ich dachte, | |
| sobald dieser Hund gepinkelt hat, können wir wieder nach oben gehen. Aber | |
| der Hund pinkelte nicht. Er jaulte ein bisschen, dann machte er einen | |
| kleinen Schritt. Dann noch einen. So folgten wir ihm, kamen kaum voran. | |
| Menschen gingen an uns vorbei. An einigen Stellen waren Pfützen, an anderen | |
| Eis oder Wasser auf Eis, was es alles so gefährlich machte. Die Autos | |
| fuhren sehr langsam, schlidderten so dahin. Dann gelangten wir auf einen | |
| Grünstreifen, da war nur feuchte Erde und das Gehen weniger gefährlich. | |
| „Muss er überhaupt?“, fragte ich. Ich wurde ein bisschen ungeduldig. | |
| „Wenn man alt ist, geht das alles nicht mehr so einfach“, sagte sie | |
| vorwurfsvoll in meine jugendliche Richtung. Neben uns floss der Kanal, | |
| dunkles Wasser, in dem sich schwach der orangegraue Stadthimmel spiegelte. | |
| Jugendliche liefen an uns vorbei, zündeten einen Böller. Es knallte, wir | |
| zuckten zusammen, der Hund fiel um. Er sackte nicht zusammen, wie als er | |
| bei uns angekommen war, er fiel richtig zur Seite. Ich hockte mich nieder. | |
| Margarete blieb stehen, sah von oben mit ihrem riesigen Pelzkopf auf uns | |
| herab. In die Hocke gehen, das konnte sie nicht mehr. Der Hund lag in einer | |
| Pfütze, ich legte meine Hand auf seinen Hundekörper. | |
| „Ist er tot?“, fragte Margarete. | |
| „Ich weiß es nicht“, sagte ich. | |
| „Ich glaube, er ist tot“, sagte Margarete. | |
| Ich fühlte an seinem Hals, ich fühlte da nichts als Fell, keine Regung. Ich | |
| nahm mein Handy aus dem Mantel und leuchtete ihn an. Er sah ziemlich tot | |
| aus. Er war schlaff, sah nirgendwo hin und regte sich nicht mehr. | |
| Die Jugendlichen waren weitergegangen und zündeten schon den nächsten | |
| Böller. | |
| „Sie wissen nicht, was sie tun“, sagte Margarete. Ihre Stimme war immer | |
| noch so, wie sie die ganze Zeit schon gewesen war, vollkommen nüchtern. | |
| „Was soll ich jetzt machen?“, sagte ich. | |
| „Jetzt können Sie ihn ruhig tragen“, sagte Margarete, „jetzt macht es ihm | |
| nichts mehr aus.“ | |
| Ich nahm den triefenden, toten Hund auf meine Arme, Margarete hing | |
| zusätzlich an mir dran und mich überwältigte eine ungeheure Schwäche, aber | |
| ich schleppte den Hund und Margarete mit mir, wir eierten über die | |
| rutschigen Gehwege, erstiegen die fünf Stockwerke wie den Mount Everest und | |
| erreichten halbtot unsere Weihnachtsstube. Herbert nahm mir den Hund ab und | |
| legte ihn auf den Esstisch. Wir standen um ihn herum, außer Johnny, der | |
| immer noch schlief, und sahen ihn uns an. | |
| „Tot, würde ich sagen“, sagte Margarete. | |
| „Es tut mir so leid“, sagte ich und legte meinen Arm um Margarete. Ich | |
| dachte, das müsste ich. | |
| „Muss ja nicht“, sagte sie und entzog sich meinem Arm. So standen wir da | |
| und betrachteten abwechselnd den Hund auf dem Esstisch und Johnny auf dem | |
| Sofa. Johnny schnaufte und schlug die Augen auf. Sah uns und sah den Hund | |
| auf dem Tisch. Er setzte sich auf. | |
| „Johnny ist tot“, sagte seine Mutter. | |
| „Der Hund hieß auch Johnny?“, fragte Herbert. | |
| „Es tut mir so leid“, sagte ich, schon zum zweiten Mal, aber jetzt kam mir | |
| meine Stimme abhanden, verlor ihre Festigkeit, ihre Stärke. Das „leid“ kam | |
| schon ganz jämmerlich heraus. | |
| Margarete drückte meine Hand, „Er war siebzehneinhalb“, ihre Lippen | |
| kräuselten sich unentschlossen, aber dann fasste sie sich und zwinkerte mir | |
| zu. | |
| Und da kamen sie herausgeschossen, all die Tränen, die ich in diesem Jahr | |
| zurückgehalten hatte. Tränen wegen diesem und jenem, wegen der ganzen | |
| Unglücke, die passierten, der Grausamkeiten und des Elends auf der Welt, | |
| und weil Menschen gestorben waren, die ich gerne hatte. Aber auch wegen des | |
| Glücks, mit Herbert, meinem Liebsten, wegen unserer Liebe, die vielleicht | |
| eine Parabel war, vielleicht auch ein Kreis oder eine Linie. | |
| Und Margarete sagte, „Ich bin nur froh, dass ich hier bin und nicht in | |
| Ulzburg.“ | |
| Ich sah Herbert an, er kräuselte die Stirn, zuckte mit den Schultern. | |
| Johnny gähnte, „Mein Gott, hab ich tief geschlafen! Mutter, komm an meine | |
| Seite!“ | |
| Sie gehorchte. Da saß sie, so klein und dick, ihr Haar noch zerdrückter als | |
| am Anfang und Johnny legte ganz sachte seinen Arm um seine Mutter. | |
| „Have Yourself A Merry Little Christmas“, sang Judy Garland. Es war kaum | |
| auszuhalten. Es war schön. | |
| 21 Dec 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Seddig | |
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