| # taz.de -- „Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“: Aus Staub und Sehnsuc… | |
| > Diego Céspedes verknüpft in seinem Debütfilm magischen Realismus, | |
| > Western-Mythos und Aids-Trauma zu einer Parabel über Ausgrenzung, Angst | |
| > und Annäherung. | |
| Bild: Lidia (Tamara Cortés) wächst in „Der geheimnisvolle Blick des Flaming… | |
| Die Augen seien das Tor zur Seele, heißt es in einem Sinnspruch, der alt | |
| und abgegriffen sein mag, seinen Wahrheitsgehalt aber nie ganz verloren | |
| hat. Da ist es schon eine erste kleine Grausamkeit in sich, dass | |
| ausgerechnet diese Schwelle zum Innersten im Spielfilmdebüt des | |
| chilenischen Regisseurs Diego Céspedes zum Überträger einer Malaise wird. | |
| Zumindest ist es das, wovon die Bewohner einer kleinen abgelegenen | |
| Bergbaustadt überzeugt sind, als eine Krankheit über sie hereinbricht, für | |
| die sie noch keinen Namen haben, von der sie aber bereits wissen, dass sie | |
| den Tod bringt: Ein intensiver Blick in die Augen eines Kranken genüge, um | |
| sich zu infizieren. | |
| Die elfjährige Lidia (Tamara Cortés) ist die Erste, die die Folgen dieses | |
| gefährlichen Irrglaubens zu spüren bekommt. Als sie sich ein paar | |
| Jugendlichen nähert, die im nahen Wasserloch baden, wird sie von ihnen | |
| festgehalten, sie schlagen ihr ins Gesicht. „Seuche!“, ruft einer von | |
| ihnen. | |
| Der Grund offenbart sich sogleich: Lidia lebt in einer Hütte, die die | |
| Bewohnerinnen selbstbewusst als „Tuntenhaus“ bezeichnen. Eine Gruppe von | |
| „Transvestiten“ – auch dies eine Bezeichnung, mit der das Drama unbefangen | |
| spielt – hat sich dort zusammengeschlossen. | |
| Sie verdienen ihr Geld vor allem mit einem kleinen Nachtlokal, mit | |
| Showeinlagen, wahrscheinlich auch mit Prostitution. Und obwohl sich die | |
| mehrheitlich aus einsamen Männern bestehende Gemeinschaft nur allzu gern | |
| bei ihnen einfindet, wurden die Bewohnerinnen des Hauses kurzerhand zur | |
| Quelle des Unheils erklärt. | |
| ## Der Blick, der Schuld gebiert | |
| An diesem Ort, so vereinzelt er wirkt, treten die Muster einer viel | |
| größeren Geschichte hervor. Was Diego Céspedes inszeniert, ist eine magisch | |
| aufgeladene Erzählung über die reale Dynamik, die die frühe Aidskrise in | |
| ihrem Kern bestimmte: Eine Zeit, in der Unwissenheit zu bizarrsten | |
| Ansteckungsszenarien führte – ein Atemzug, ein Händedruck, oder eben ein | |
| Blick – und sich Angst in soziale Gewissheit verwandelte. | |
| Ungewöhnlich ist dabei nicht nur der Schauplatz – fern urbaner Räume, in | |
| denen filmische Annäherungen an die [1][Aids-Epidemie] oft verortet sind –, | |
| sondern vor allem der Ton, den Diego Céspedes anschlägt. „Der | |
| geheimnisvolle Blick des Flamingos“ trägt unverkennbar die Züge eines | |
| Westerns: nicht allein im staubigen Setting einer verlorenen | |
| Wüstenlandschaft; nicht nur in der leicht schummrigen Saloonatmosphäre des | |
| Nachtlokals; sondern auch in der Art, wie die Männer gezeichnet werden. | |
| Zumindest in der Öffentlichkeit geben sie sich als raue, gar archaische | |
| Wesen, die mit Pistolen hantieren und deren Stolz schneller aufflammt als | |
| ihr Mitgefühl. Das gilt auch für den infizierten Yovani, der | |
| augenscheinlich in die titelgebende „Flamingo“ (Matías Catalán) verliebt | |
| ist – eine Figur, die mit einer elfenhaften, beinahe sphärischen Aura über | |
| dieser Welt aus Härte und Einsamkeit zu schweben scheint und ihr doch früh | |
| zum Opfer fällt. | |
| Für Lidia war Flamingo eine Ziehmutter, weshalb das Mädchen schließlich auf | |
| Rache sinnt. Auch wegen dieser Entwicklung ist „Der geheimnisvolle Blick | |
| des Flamingos“ in seiner ersten Hälfte stellenweise brutal. Wirklich düster | |
| aber gerät der Film kaum, da Diego Céspedes den Blick mehr noch als auf die | |
| eruptive Gewalt auf die entschlossene [2][Selbstbehauptung der trans | |
| Frauen] lenkt. Angeführt werden sie von der älteren Mama Boa (Paula | |
| Dinamarca), einer matriarchalen Gestalt, die mehr Autorität ausstrahlt als | |
| jeder der bewaffneten Männer. | |
| ## Inseln der Fürsorge | |
| Um sie herum versammelt das Drama eine Reihe markanter Figuren, die – fast | |
| wie in einer eigenen queeren Mythologie – Tiernamen wie „Löwin“ oder | |
| „Piranha“ tragen. Sie sind keine Karikaturen, keine Abziehbilder, sondern | |
| eigenwillige, wuchtige Persönlichkeiten, in denen sich Stolz, Schmerz und | |
| Überlebenskunst auf eigentümlich leuchtende Weise verbinden. Durch sie | |
| bricht immer wieder ein seltsamer, zugleich warmer und scharfkantiger Humor | |
| durch die finster-staubige Oberfläche, als wolle der Film daran erinnern, | |
| dass selbst in der Verfolgung ein Rest von Trotz, von Lebenslust, von | |
| Gemeinschaft aufschimmert. | |
| Umso mehr, als Diego Céspedes das Leitmotiv des Blicks im weiteren Verlauf | |
| auf eine zweite Ebene hebt. Eines Tages tauchen ältere, versehrte und | |
| ausgemusterte Arbeiter vor dem Haus auf – entschlossen, die Krankheit | |
| eigenhändig zu stoppen. Die trans Frauen sollen isoliert und bewacht | |
| werden, die Augen verbunden. Doch gerade im Schutz vor den urteilenden | |
| Blicken der Außenwelt entsteht zwischen den Bewohnerinnen und diesen rauen | |
| Männern eine unerwartet zärtliche, beinahe heilende Nähe. | |
| So einleuchtend diese Gedanken sind, in ihrer metaphorischen und | |
| historischen Verschränkung, so sehr verliert sich „Der geheimnisvolle Blick | |
| des Flamingos“ bisweilen in einer mäandernden, schwer greifbaren | |
| Erzählbewegung. Diego Céspedes wagt viel, doch nicht immer trägt der Weg: | |
| Zu sehr zerfasert der Film zwischenzeitlich, als dass man ihm durchweg mit | |
| Begeisterung folgen könnte. | |
| Da überrascht es durchaus, dass er sich in Cannes gegen einen starken | |
| Jahrgang in der „Un Certain Regard“-Sektion durchsetzen konnte. | |
| Andererseits übersetzt die sich nicht zufällig in „Ein gewisser Blick“–… | |
| es lässt sich schwer leugnen, dass Diego Céspedes' wundersame, eigenartige | |
| schwebende Form des queeren Kinos einen sehr außergewöhnlichen besitzt. | |
| 3 Dec 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Affenpocken-und-AIDS/!5855489 | |
| [2] /Neues-Buch-von-US-Autorin-Torrey-Peters/!6114189 | |
| ## AUTOREN | |
| Arabella Wintermayr | |
| ## TAGS | |
| Debütfilm | |
| Chile | |
| Schwerpunkt HIV und Aids | |
| Trans-Community | |
| Schwul | |
| Rezension | |
| Spielfilm | |
| Ägypten | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Film über Fotograf Peter Hujar: Vom Vergeuden eines verschwendeten Tages | |
| In „Peter Hujar’s Day“ will Regisseur Ira Sachs einen Tag im Leben des | |
| Fotografen einfangen. Ein nostalgischer Blick auf die New Yorker Bohème der | |
| 1970er. | |
| Spielfilm über unterdrückte Queerness: Das Verlangen hinter der Fassade | |
| Unterdrücktes Begehren, große Träume: Der Spielfilm „On Swift Horses“ von | |
| David Minahan taucht in das Leben dreier Menschen in den 1950ern ein. | |
| „Alpha“ von Cannes-Gewinnerin Ducournau: Die Krankheit, die versteinert | |
| Cannes Cannes 8: Bei den Filmfestspielen gerät ein ägyptischer | |
| Schauspielstar in die Fänge des Staatsapparats. Und eine Jugendliche hat | |
| Angst. |