| # taz.de -- Verein für Armutsbetroffene: Anlaufen gegen die Vereinzelung | |
| > Ein Freiburger Verein bietet gezielt Sport an für Menschen in Armut. Mit | |
| > Klassenkampf hat das wenig zu tun, dafür aber mit solidarischen | |
| > Strukturen. | |
| Bild: Gemeinsam wieder Mut fassen: Tanzkurs des Vereins Benefit | |
| „Wollt ihr alle frei spielen, Leute?“ Rica Derst klingt, als habe sie sich | |
| das ein bisschen anders erhofft. Die Badminton-Trainerin bringt wie immer | |
| ein neues freiwilliges Übungsthema mit. An jenem Nachmittag in Freiburg | |
| aber ist schnell klar: Die rund 20 Badminton-Hobbyspieler:innen wollen | |
| heute einfach Spaß haben. Derst findet immerhin ein paar Freiwillige, die | |
| mit ihr die Angabe üben. Bald fliegen Federbälle durch die Turnhalle der | |
| Max-Weber-Schule, während Neunziger-Hits von Rednex' „Cotton Eye Joe“ bis | |
| zu den Backstreet Boys plärren. | |
| Wie eine handelsübliche Betriebssportgruppe sieht das aus, doch einen Job | |
| haben viele hier lange nicht gehabt. Benefit e. V. ist ein Sportverein | |
| explizit für armutsbetroffene Erwachsene. Hierher kommen etwa | |
| Langzeitarbeitslose, Wohnungslose, Geflüchtete, Suchtkranke und Menschen | |
| mit körperlichen oder psychischen Erkrankungen. | |
| 2022 gegründet, hat Benefit mittlerweile ein enormes Angebot von Tanz über | |
| Kampfkunst, von Schwimmkursen über Straßenfußball bis Nordic Walking. Und | |
| eine eigene Wohlfahrt mit Sozialberatung, einer Second-Hand-Station für | |
| Sportkleidung, gemeinsamen Ausflügen und Alltagshilfe durch einen | |
| Sozialarbeiter. | |
| Es ist ein Sportverein, wie es ihn in Deutschland kaum gibt. Durchaus | |
| finden sich gerade in Großstädten [1][Sportangebote für armutsbetroffene | |
| Kinder]. Auch gibt es Projekte für einzelne prekäre Gruppen, vor allem | |
| Geflüchtete, mitunter Wohnungslose. Aber ein Sportklub, gegründet für alle | |
| Erwachsenen in Armut? Der Gedanke ist revolutionär. Denn im Sport fällt | |
| diese Klientel durchs Raster. | |
| ## Niedrigschwelliges Angebot | |
| „Ich bin mega überzeugt von dem ganzen Projekt“, schwärmt Rica Derst, im | |
| Hauptberuf Sportlehrerin. Sie ist eine von vielen jungen Menschen, die sich | |
| hier ehrenamtlich engagieren. Es gebe beim Badminton einen festen Kreis von | |
| rund dreißig Teilnehmer:innen, die Teilnahme ist kostenfrei. Auch eine | |
| Vereinsmitgliedschaft ist mit einem solidarisch-individuellen | |
| Beitragssystem für alle möglich. Bei Benefit kann man mal kommen und es mal | |
| lassen, und wer sich nicht nach Sport fühlt, kann zuschauen. | |
| Das macht das Angebot niedrigschwellig. Es sei beeindruckend, welche | |
| Fortschritte die Hobbysportler:innen machten, sagt Derst. „Badminton | |
| ist so cool, es ist egal, wie fit man ist.“ Die Backgrounds seien sehr | |
| verschieden, viele hätten körperliche Beeinträchtigungen und leichte | |
| Behinderungsgrade. „Man muss hier inklusiver denken: Kann jede:r die Übung | |
| mitmachen?“ Und bewusst gebe es keine Spiele mit Gewinnen und Verlieren. | |
| Außerhalb der Sporthalle müssten die Teilnehmenden sich schon genug | |
| beweisen. | |
| „Jede:r hier hat seine Geschichte“, sagt Uwe, „und alle Geschichten sind | |
| ernüchternd.“ Uwe, der nur mit Vornamen genannt werden möchte, ist seit | |
| über zwei Jahren dabei, empfohlen habe ihm das Angebot der | |
| sozialpsychiatrische Dienst. Fast alle Sportarten habe er schon mitgemacht. | |
| Viele besuchen Benefit-Kurse mehrfach pro Woche oder gar täglich, auch Uwe. | |
| „Es war wichtig für mich, wieder in eine Routine zu kommen, Menschen | |
| kennenzulernen. Wir sind eine verschworene Gemeinschaft. Man spürt, man ist | |
| mit seinen Themen nicht allein.“ Er sei unendlich dankbar dafür. | |
| Ein normaler Sportverein mit 20 Euro Monatsgebühr sei für ihn nicht | |
| bezahlbar. „[2][Armut hat so viele Konsequenzen], die von außen nicht | |
| wahrgenommen werden.“ Er könne nicht einfach ins Kino, Theater oder spontan | |
| mal was essen, alles drehe sich ums Geld. „Irgendwann fühlt man sich selbst | |
| mangelhaft.“ Viele hier im Verein seien wegen körperlicher oder seelischer | |
| Leiden in Armut gefallen. „Wir sollten uns fragen, wie wir als Gesellschaft | |
| umgehen mit Menschen, die Hilfe brauchen.“ | |
| ## Höher-Schneller-Weiter zerstört die Menschheit | |
| Hier in der Halle müssen die Menschen nicht über ihre Nöte sprechen, aber | |
| sie können. Die enorme Solidarität unter den Sporttreibenden ist spürbar. | |
| Beim Sport-Schnupperkurs, der nach dem Badminton stattfindet und sich | |
| diesmal ums Werfen dreht, etwa in einen Basketballkorb oder auf Stäbe, | |
| loben sie einander oft. Uwe mag, dass es hier weniger um Konkurrenz geht. | |
| „Das Höher-Schneller-Weiter zerstört die Menschheit. Wenn Leute übrig | |
| bleiben, macht das was mit ihnen.“ Er wisse angesichts der Hetze gegen | |
| Arbeitslose nicht, welche Partei er noch wählen soll. Nicht zu arbeiten sei | |
| doch keine Entscheidung fürs Leben. „Man ist einfach gerade in einer | |
| schlimmen Situation. Wir sind keine Maschinen.“ | |
| Es ist vielfach in Studien belegt, dass armutsbetroffene Menschen weniger | |
| an Sport teilhaben. So fand [3][eine Schweizer Langzeitstudie in Genf], | |
| dass Menschen umso weniger Sport trieben, je niedriger der sozioökonomische | |
| Hintergrund war. Die enormen Ungleichheiten stiegen im | |
| Untersuchungszeitraum von 2005 bis 2019 noch weiter an. [4][Eine | |
| internationale Metaanalyse] von Studien aus Europa, Nordamerika und vom | |
| australischen Kontinent kommt zu dem Schluss, dass die Unterschiede schon | |
| bei Kindern enorm sind. Und Kinder aus wohlhabendem Haus treiben nicht nur | |
| mehr Sport, sie bleiben auch länger dabei. | |
| Die Gründe sind vielfältig, es geht nicht nur um Geld. Wer aus einem | |
| prekären Haushalt stammt, fühlt sich oft sozial weniger erwünscht im | |
| Sportverein und hat aufgrund von Schichtarbeit, geringerer Reichweite ohne | |
| Auto oder armutsbedingtem Stress schlicht weniger Kapazitäten für Sport. | |
| Betroffene leiden öfter unter körperlichen und seelischen Erkrankungen, die | |
| wiederum das Sporttreiben erschweren. Sportinfrastruktur wird vorwiegend in | |
| wohlhabende Stadtteile gebaut. Und wer einmal aus der Gesellschaft raus | |
| ist, tut sich schwer, wieder in Routinen und unter Leute zu kommen. | |
| ## Kein Angebot von Betroffene für Betroffene | |
| Benefit e. V. leistet echte Pionierarbeit. Doch ein Angebot von Betroffenen | |
| für Betroffene ist es nicht, die Organisator:innen stammen von der | |
| Uni Freiburg. Mitgründer Lukas Oettle hat sich in seiner Masterarbeit mit | |
| Armut und Sport beschäftigt und zunächst den Schnupperkurs gegründet. „Üb… | |
| ein Feedback-System haben wir dann langsam das Angebot aufgebaut“, erzählt | |
| er. „Wir wollen Menschen erreichen, die bis dato nicht erreicht werden.“ | |
| Vielleicht geht diese Struktur nicht anders, Armutsbetroffene selbst haben | |
| oft nicht die Ressourcen, Kraft und Kontakte, um einen Sportverein zu | |
| gründen. Auch bemüht sich Benefit stark, Teilnehmende einzubinden: Sie | |
| können sich Sportangebote wünschen, selbst Trainer:innen werden, und sie | |
| übernehmen zunehmend Aufgaben innerhalb des Vereins wie die Unterstützung | |
| bei Sportkursen oder Betreuung von Infoständen. Trotzdem ist klar: Das hier | |
| ist ein Angebot von oben nach unten. | |
| So gibt es auch wenig Bezug [5][zum historischen Arbeitersport], der sich | |
| als kapitalismuskritische Bewegung sah. „Wir sehen uns nicht direkt als | |
| Teil der Arbeitersportbewegung“, sagt Oettle. „Wir verorten uns eher im | |
| Sektor Sport for Development, wobei nun 2024 mit dem Sport for Development | |
| Netzwerk Deutschland eine formale Struktur entstanden ist.“ Nicht die | |
| Verhältnisse stürzen, sondern damit leben lernen. „Wir posten keine Kritik | |
| am Wirtschaftssystem auf Social Media. Im Kern machen wir | |
| Armutsbewältigung.“ Man beteilige sich jedoch an Aktionstagen, etwa gegen | |
| Armut und Wohnungslosigkeit. | |
| Armutsbetroffenen mehr Sport ermöglichen – welche Partei will dazu Nein | |
| sagen? Mit seinem eher apolitischen, humanitären Ansatz ist Benefit | |
| vielleicht ein Kind der NGOisierung der Gegenwart. Gewiss hat das auch mit | |
| der Finanzierung zu tun. Nach Oettles Angaben finanziere sich Benefit aus | |
| einer Mischung aus Stiftungsgeldern, Mitteln aus Soziallotterien, | |
| Landesprogrammen, über den Europäischen Sozialfonds und zunehmend über | |
| Wohlfahrtsorganisationen, für die man im Auftrag Sport anbiete. Es gebe | |
| fünf hauptamtliche Stellen – darauf wäre selbst manch Fußballregionalligist | |
| neidisch. | |
| ## Im Grunde hochpolitisch | |
| Das ermöglicht erst das umfassende Angebot, schafft aber auch | |
| Abhängigkeiten. Oettle und seine Mitstreiter:innen träumen von mehreren | |
| Standorten in Deutschland, einem Angebot auch für Kinder, mehr Begegnungen | |
| zwischen den Milieus. Ihre Palette – von Sprachvermittlung durch Sport bis | |
| zu offenem Mitmachsport in der Stadt – ist bereits jetzt wahnsinnig | |
| ambitioniert. Um längerfristig planen zu können, wünsche man sich mehr | |
| Unterstützung in der Kommune. | |
| Manch ein Teilnehmer wird dennoch politisch deutlich. „Solange wir dieses | |
| Wirtschaftssystem haben, wird sich schwerlich was ändern“, so Uwe. Das | |
| Wirtschaftssystem und das Patriarchat müsse man angehen. „Unterm Strich | |
| verlieren wir alle.“ Aber erst mal gehen sie hier etwas anderes an: wieder | |
| Mut fassen. „Ich sehe mich nicht mehr als Opfer, sondern als Überlebender“, | |
| berichtet er. | |
| Die besondere Gemeinschaft hat vielen Teilnehmer:innen eine Rückkehr | |
| ins Leben ermöglicht. So wie bei Felix, der ebenfalls nur mit Vornamen | |
| genannt werden möchte. Seit 2022 ist er dabei. Felix, der mehrere Handicaps | |
| und chronische Erkrankungen hat, kam nach einer Reha dazu. „Beim normalen | |
| Sport würde ich nicht mehr mitkommen. Hier kann ich auch langsamer machen.“ | |
| Er schätzt zudem die innovativen Methoden der Student:innen. Das Angebot | |
| habe sich stetig erweitert, auch im sozialen Bereich, und die Mitglieder | |
| würden gehört. | |
| So gebe es nun eine Gruppe, die einander unterstütze, wieder Arbeit zu | |
| finden. Auch Felix ist dabei. Die Gruppe wollte mit einer Dozentin | |
| Körperarbeit machen, und Benefit habe das organisiert. „Es passiert immer | |
| mehr auf Eigeninitiative“, sagt Felix. Man treffe sich jetzt auch im | |
| Privaten. Da sich niemand große Ausflüge leisten könne, mache man | |
| Spaziergänge, gehe vielleicht mal was essen. „Dinge, die man allein nie | |
| machen würde.“ Was das mit ihm machte? „Es ist eine neue Energie in mir da. | |
| Benefit holt die Leute aus der Vereinzelung.“ Und das ist hochpolitisch. | |
| 26 Dec 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Sportpaedagogin-ueber-Ungleichheit/!5794256 | |
| [2] /Soziale-Herkunft-im-Sport/!6111219 | |
| [3] https://link.springer.com/article/10.1186/s12889-023-15650-7 | |
| [4] https://link.springer.com/article/10.1186/s12966-022-01263-7 | |
| [5] /Arbeiter-in-der-Sportgeschichte/!5807954 | |
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| Alina Schwermer | |
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