| # taz.de -- Ankommen in Deutschland: Einsame Klasse | |
| > Das Ankommen in der Gesellschaft hängt von Bildung und Profitabilität ab, | |
| > beobachtete unsere Autorin. Ein Essay über Integration und sozialen | |
| > Status. | |
| Bild: Gleiche Startplätze für alle? Oft kommt es auf den Status vor der Fluch… | |
| Anfang 2025 sitze ich in einer Gemeinschaftsunterkunft in einem | |
| niederländischen Dorf. Draußen nieselt es, drinnen hat sich die Familie | |
| rund um Berge ukrainischer Köstlichkeiten versammelt; Schichtsalate, | |
| Fleisch in Teigtaschen, süßer Wein. Es ist eine befreundete geflüchtete | |
| Familie, die es in Deutschland nicht geschafft hat, oder vermutlich hat es | |
| Deutschland nicht geschafft. Das hat auch mit Klasse zu tun. Schon in der | |
| Ukraine lebten sie in bitterer Armut, ohne formelle Qualifikationen, teils | |
| analphabetisch. Ihr Umfeld war geprägt von Ausgrenzung. | |
| Ich habe sie als Übersetzerin begleitet. In Deutschland wuchsen die | |
| Schulden schnell über den Kopf. Strafbefehle wegen Kleindiebstählen, | |
| Geldstrafen wegen der Diebstähle und mehr Schulden. Pfändungsdrohungen, | |
| verpasste Jobcentertermine, Sprachkurse besuchte kaum jemand. Eine | |
| beschämte Flucht zurück in die Ukraine. Dann Polen, jetzt die Niederlande. | |
| Eigentlich wollen sie einfach heim. | |
| Und ich denke: Wir müssen über Flucht und Klasse reden. | |
| Ich habe seit 2015 mehrere Jahre syrische Mädchen betreut, ab 2022 für | |
| Ukrainerinnen übersetzt, und über Reisekontakte begleite ich seit Langem | |
| die Wege emigrationswilliger Freunde. Aber in den wohlmeinenden Reportagen | |
| bürgerlich-liberaler Medien zu zehn Jahren Fluchtsommer finde ich die | |
| Erfahrungen hochprekärer Milieus nicht wieder. | |
| Sie porträtieren verlässlich bürgerliche Geflüchtete: [1][syrische | |
| Ärzt:innen], afghanische Schriftsteller:innen, ukrainische | |
| Ingenieur:innen. Engagierte und makellose Protagonist:innen, im Geschmack | |
| verdächtig ähnlich den Leser:innen. Seht her, sagen diese Geschichten, wir | |
| profitieren von Zuwanderung. Die wachsende faschistoide Öffentlichkeit | |
| dagegen thematisiert obsessiv Karikaturen von Armut, [2][„soziale | |
| Hängematte“], „kriminelle Clans“ und so fort. Seht her, sagen sie, wir | |
| profitieren nicht von Zuwanderung. | |
| Es ist verführerisch, das als Gegensätze zu erzählen, aber es sind zwei | |
| Seiten derselben Medaille. Für beide Seiten ist nach Jahrzehnten | |
| Klassenhass letztlich nur eine Sorte Migrant:innen akzeptiert: jene, die | |
| wirklich gar keine Angriffsfläche bieten. Gebildet, bürgerlich, angepasst | |
| und auf jeden Fall ausreichend profitabel für die weiße Gesellschaft. | |
| Deutschland nicht als Staat mit menschenrechtlichen Pflichten, sondern als | |
| Firma mit Fachkräftemangel. | |
| Natürlich ist das Narrativ auch großer Selbstbetrug. Denn auch die | |
| ausländische Arbeiterklasse sucht man in Wahrheit dringend, um sie auf | |
| Feldern und Schlachthöfen auszubeuten. Doch diese Menschen sollen | |
| unsichtbar schuften und dann verschwinden. Armut, die den Sozialstaat | |
| nichts mehr kostet. Einmal Sklaverei to go. Bleiberecht oder gar Stimmrecht | |
| sind vor allem der Mittelschicht vorbehalten. | |
| Und wenn schwer armutsbetroffene Menschen bleiben, kommen ihre Geschichten | |
| selten vor. Weil Linksliberale sich sorgen, angreifbare | |
| Protagonist:innen könnten rechte Narrative befeuern. Und vielleicht | |
| auch, weil sie selbst lieber in der Theorie und mit Sicherheitsabstand | |
| solidarisch sind. Doch dieser Scheuklappenblick auf bürgerliche | |
| Migrant:innen befeuert das faschistoide Narrativ vom Nützling oder | |
| Schädling. Und macht andere Erfahrungen unsichtbar. | |
| ## Bürgerliche Fähigkeiten als Ressource | |
| Es ist keine so steile These, dass in Deutschland, wo nachweislich soziale | |
| Klasse stark die Chancen beeinflusst, der Status vor der Flucht einen | |
| Einfluss hat. [3][Ein Workshop des Max-Planck-Instituts aus dem Jahr 2019 | |
| fasste zusammen]: Ein höherer sozialer Status erleichtert oft die Ankunft. | |
| Studien aus verschiedenen Ländern, die dort zitiert wurden, zeigen: | |
| Geflüchtete aus der Ober- und Mittelschicht waren weniger sozial isoliert. | |
| Dank internationaler Netzwerke und höherer Bildung konnten sie leichter für | |
| ihren Lebensunterhalt sorgen. Sie blieben eher im Aufnahmeland, | |
| investierten emotional und engagierten sich politisch, statt anderswo neu | |
| anzufangen. | |
| Die syrischen Mädchen, mit denen ich Deutsch übte und Ausflüge machte, | |
| stammten aus Mittelklassefamilien. Auch für sie war es brutal schwer. Als | |
| Frauen in teils strenggläubigen Familien reproduzierten sie oft das | |
| religiöse Patriarchat. Doch sie brachten bürgerliche Fähigkeiten mit: Sie | |
| wussten, wie man in der Schule glänzt und wie ein Sportverein funktioniert, | |
| wie man groß träumt. Sie hatten das Selbstbewusstsein von Menschen, die in | |
| ihrer Heimat Teil der Gesellschaft waren. Ihre Geschichten in Deutschland | |
| wurden Erfolgsgeschichten. | |
| Ähnliches gelang vielen gebildeten, beruflich erfolgreichen Ukrainerinnen. | |
| Sofern man Ankommen anhand von Beruf, Schulerfolg und Spracherwerb misst, | |
| wie es der deutsche Staat tut. In Wahrheit natürlich müsste man Ankommen | |
| auch anders erzählen: an Freundschaften vor Ort, Offenheit für neue | |
| Mentalitäten, Neugierde. Da sähe das Ergebnis differenzierter aus. | |
| Die erfolgreichere migrantische Klasse tritt oft schnell nach unten weiter: | |
| Das Kind soll bitte nicht in eine Schule mit vielen Ausländern. Die Wohnung | |
| bitte nicht neben Ausländern. Ausländer, das waren auch für gebildete | |
| Geflüchtete oft die anderen, die Rassifizierten und die Armen. Wenn ich | |
| Jobperspektiven für gering qualifizierte Geflüchtete suchte, reduzierte es | |
| sich schnell auf Putzen, Feldarbeit, Fabrik oder Küchenhilfe. Menschen aus | |
| dem Umfeld der eingangs genannten Familie erzählten mir oft, wie sie sich | |
| schämten, auf Sozialleistungen zu sitzen, unternahmen aber wenig, etwas | |
| daran zu ändern. Schwere Marginalisierung erlaubt oft kein Planen für | |
| Qualifizierung. Es zählt, was heute am meisten Geld bringt. Sie blickten | |
| passiver, misstrauischer auf die Gesellschaft – und waren weniger geblendet | |
| von Lohnarbeit. | |
| ## Bürgergeld als bessere Alternative | |
| Denn es gab darin wenig für sie. Das Bildungsbürgertum findet in der Arbeit | |
| Anerkennung, Geld, Aufstieg und Erfüllung. Für sie aber bedeutete sie vor | |
| allem Gesundheitsschäden. Bürgergeld schien ihnen die bessere von zwei | |
| schlechten Alternativen. Für die Kinder, die kein eigenes Zimmer oder einen | |
| Schreibtisch hatten und in der Schule kaum zu funktionieren wussten, gab es | |
| wenig Perspektive auf Bildungserfolg. Flucht verschärft | |
| Klassenunterschiede. Für die einen gibt es bei allen Traumata auch eine | |
| lohnende Perspektive. Für andere war Heimat die einzige Klammer, die sie | |
| mit der Mitte der Gesellschaft verband. Diese Klammer bricht. Und häufiger | |
| sagten sie: Die Deutschen wollen uns nicht. | |
| Status, glaube ich, hängt nicht allein vom Geld ab. Viele marokkanische | |
| Freunde hatten in ihrer Heimat wenig, auch nach dortigen Maßstäben. Aber | |
| sie stammen aus Dörfern, wo alle ähnlich gestellt waren, und haben formale | |
| Bildung. Das schafft ein anderes Selbstwertgefühl, auch im Ausland: prekär, | |
| aber nicht erniedrigt. Armut als kollektive und politische Erfahrung, nicht | |
| als individuelle Scham. | |
| Umgekehrt sind Bildung und Selbstwertgefühl keine Garantie fürs Ankommen. | |
| Viele selbst ernannte [4][Expats im Mittelmeerraum] sind völlig | |
| unintegriert. Gerade wegen ihrer Privilegien halten sie das nicht für | |
| nötig. Und Steuerparadiese schaffen eine ganz neue Klasse von | |
| Migrant:innen, die sich um nichts scheren. Es ist also wichtig, dass ein | |
| Staat Dinge einfordert. Aber das aktuelle Sanktionssystem ist gemacht gegen | |
| Menschen, die ohnehin ausgegrenzt sind. | |
| Geflüchtete dürfen sich keine Fehler leisten. Wer überhaupt eine Chance | |
| haben will, muss perfekt sein. Das sortiert vor allem jene aus, die | |
| aufgrund ihres Status Fehler machen. Die Termine nicht wahrnehmen, sich | |
| nicht eigeninitiativ kümmern, in den sehr schulischen Sprachkursen nicht | |
| zurechtkommen und mit ihren Traumata nicht zum Psychologen gehen. Ein | |
| einziger Fehler – naiv aufgenommene Schulden, ein Diebstahl, ein | |
| Schulabbruch – tritt oft einen Dominoeffekt los. | |
| Es gibt eine Eigenverantwortung und Spielraum dabei. Ich kenne hochprekäre | |
| geflüchtete Familien, die es schaffen. „Schaffen“ heißt, die monatliche | |
| Kaskade von Katastrophen der Armut zu bewältigen. Den Wohnungsrauswurf, | |
| gegen den man sich nicht wehren kann. Den Schulweg ohne Auto im ländlichen | |
| Bereich. Familiäre Krisen, bei denen es undenkbar ist, Behörden | |
| einzuschalten. | |
| ## Auch der Staat ist in der Bringschuld | |
| Aber nichts an dieser Lage ist zwangsläufig. Teilhabe von Menschen ist auch | |
| eine Bringschuld des Staates. Und sie ist realisierbar, viel billiger als | |
| die Aufrüstung, die angeblich aus Solidarität mit diesen Geflüchteten | |
| stattfindet. Das eigentliche Problem ist, dass man nicht tun will, was | |
| nötig wäre. | |
| Konkrete Pflichten wie Sprachkurse, auch mit Sanktionsdruck, helfen. Oft | |
| war es einfacher, zu sagen „ihr müsst“, statt mit abstrakter Ethik zu | |
| argumentieren. Aber im Gegenzug braucht es Perspektiven: gute Bezahlung und | |
| Anerkennung für vermeintlich unqualifizierte Jobs. Prekäre Menschen kommen | |
| an, wenn sie nicht mehr prekär sind. So einfach ist das. Wenn wir | |
| gefährdende Tätigkeiten auf alle verteilen statt auf die Wehrlosen. | |
| Aber wer kann sich ein humanes Wirtschaften noch vorstellen? Es braucht | |
| zudem in diesem unmenschlichen System mehr sozialarbeiterische Begleitung | |
| für schwer armutsbetroffene Geflüchtete, statt überforderte Ehrenamtliche. | |
| Das hätte viel auffangen können. Es braucht mehr aufsuchende Angebote, etwa | |
| niedrigschwelligeres Sprachüben und Hilfe bei der Jobsuche. Und vor allem: | |
| mehr Kontakte in die Gesellschaft. Das Gefühl, dass man sie schätzt. | |
| In den Niederlanden läuft es zumindest in diesem Fall besser. Die | |
| Unterkunft bietet gute Einzelbetreuung und eine feste Ansprechpartnerin, | |
| die Jobs und Sprachunterricht vermittelt – motivierend statt | |
| sanktionierend. Manche Frauen haben prekäre Kurzzeitjobs gefunden. Das | |
| kleine Kind geht mit Freude in die Kita, auch das ein Erfolg. Sie fühlen | |
| sich etwas mehr angekommen. Der Rest ist Klassenkampf. | |
| 26 Nov 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/gesundheit/syrer-gesundheitswe… | |
| [2] /Union-und-SPD-gegen-Sozialstaat/!vn6085677/ | |
| [3] https://www.eth.mpg.de/5287013/news_2019_08_09_01 | |
| [4] /Auswandern-nach-Spanien/!6111248 | |
| ## AUTOREN | |
| Alina Schwermer | |
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