| # taz.de -- Nürnberger Prozess in Russland: Das Erbe von Nürnberg | |
| > Der Nürnberger Prozess ist in Russland ein Baustein des nationalistischen | |
| > Geschichtsbildes. Für Verbrechen des Sowjetstaats hat das keinen Platz. | |
| Bild: Nürnberg, 20. November 1945, Eröffnungssitzung: Der Prozess gegen die N… | |
| Im Russland Putins ist das Andenken an den Nürnberger Prozess nur ein | |
| Anlass für antiwestliche Propaganda. Auch das Forum „Ohne Verjährung. | |
| Nürnberg. 80 Jahre“ wurde dazu genutzt, den Westen erneut dessen zu | |
| bezichtigen, woran in Wahrheit die russische Macht selbst schuldig ist – | |
| nämlich die Lehren des Prozesses nicht gezogen und die eigenen Verbrechen | |
| gegen die Menschlichkeit nicht verurteilt zu haben. | |
| 1945 bestand die SU auf einem internationalen Prozess gegen die | |
| Hauptkriegsverbrecher. Doch Stalin stellte sich diesen Prozess im Geist der | |
| Moskauer Schauprozesse vor – als grandioses Spektakel mit einem von | |
| vornherein feststehenden Urteil. | |
| Nicht zufällig wurde zur Leitung der sowjetischen Delegation in Nürnberg | |
| eine Regierungskommission unter Kontrolle eines der wichtigsten Juristen | |
| Stalins, Andrei Wyschinski, geschaffen. Er war – wie auch andere | |
| sowjetische Ankläger – Organisator des Massenterrors der 1930er. | |
| Wyschinski stellte auf Anweisung des Kremls eine Liste für Moskau heikler | |
| Themen zusammen, die während des Prozesses nicht zur Sprache kommen | |
| durften. Am gefährlichsten waren Fragen über den Hitler-Stalin-Pakt und | |
| seine geheimen Zusatzprotokolle, über die Teilung Polens und die Okkupation | |
| der baltischen Staaten. | |
| ## Massaker von Katyn | |
| Ein schmerzhaftes Thema war Katyn – die Ermordung von 20.000 polnischen | |
| Offizieren im Jahr 1940. Die sowjetische Seite versuchte gefälschte Beweise | |
| vorzulegen und den Deutschen die Schuld zuzuschieben – jedoch so wenig | |
| überzeugend, dass das Tribunal diese Version nicht in das Urteil aufnahm. | |
| Trotz dieser Vorbereitung verlief der Nürnberger Prozess nicht nach Stalins | |
| Plan: mit echter Verteidigung für die Angeklagten, langen Verhören und | |
| Zeugenaussagen. Die Angst vor Parallelen zwischen dem Nationalsozialismus | |
| und dem stalinistischen Regime führte dazu, dass die vollständige | |
| Dokumentation der Nürnberger Prozesse für sowjetische Bürger lange | |
| unzugänglich blieb. | |
| Dies zeugte von doppelter Moral: Die UdSSR verurteilte Verbrechen des | |
| Nationalsozialismus, war aber selbst ein totalitärer Staat. Sowjetische | |
| Bürger, die in Nürnberg als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt worden | |
| waren – Kriegsgefangene und Ostarbeiter – wurden nach der Rückkehr als | |
| „Verräter“ behandelt. | |
| Dokumente über den Holocaust wurden geheim gehalten: Der staatliche | |
| Antisemitismus verschwieg den Genozid an den Juden; Inschriften an Orten | |
| der Massenvernichtung sprachen lediglich von „ermordeten friedlichen | |
| sowjetischen Bürgern“. | |
| ## Verhängnisvolles Vakuum | |
| Erst in der Perestroika stellte sich mit aller Schärfe die Frage: Braucht | |
| Russland sein eigenes Nürnberg? Und wie lässt sich die Verantwortung für | |
| die Verbrechen des Staates juristisch definieren? Doch eine Antwort fand | |
| sich aus verschiedenen politischen Gründen nicht. Die Folgen dieses Vakuums | |
| erwiesen sich als verhängnisvoll für die Zukunft Russlands. | |
| Heute ist das Gedenken an den Prozess in Russland zur Grundlage für einen | |
| militanten Nationalismus geworden, zur Forderung, Russland den Status einer | |
| „Sieger-Großmacht“ nach dem Muster von 1945 zurückzugeben. | |
| Die Lehren von Nürnberg werden als Rechtfertigung der Politik Stalins | |
| interpretiert. Deshalb wurde das Gesetz „gegen Rehabilitierung des | |
| Nazismus“ verabschiedet, das alle Kritik unter dem Vorwand des Schutzes des | |
| „Erbes von Nürnberg“ verbietet. | |
| Doch das wahre Erbe von Nürnberg ist ein anderes. Das internationale | |
| Tribunal war die erste gerichtliche Verurteilung der Verbrechen eines | |
| Regimes – seiner politischen Führung, seiner Gewaltstrukturen, die nicht | |
| durch „Staatsinteressen“ gerechtfertigt werden können. Und genau dies ist | |
| die wichtigste Lehre, die auch für ein mögliches Gericht über die | |
| Verbrechen von Bedeutung ist, die Russland heute begeht. | |
| 3 Dec 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Irina Scherbakowa | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Unendliche Geschichte | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Russland | |
| Sowjetunion | |
| Wladimir Putin | |
| Stalinismus | |
| Menschenrechte | |
| Demokratie | |
| Kolumne Unendliche Geschichte | |
| Friedenspreis des Deutschen Buchhandels | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Brennende Manuskripte: Wenn das Singen auf der Straße verboten wird … | |
| Zensur hat jahrzehntelang das Leben von Autoren, Lesern und Zuschauer | |
| vergiftet. Auch unter Putin wird sie zunehmen. Und damit der Widerstand. | |
| Friedenspreis für Osteuropa-Historiker: Die Zeichen der Zeiten lesen | |
| Jahrzehntelang erforschte er die russische Gedankenwelt: Der Historiker | |
| Karl Schlögel erhält zu Recht den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. |