| # taz.de -- Heimat in der Großstadt: Wohnzimmer der Gesellschaft | |
| > Das „Café Vielfalt“ in Berlin-Kreuzberg war ein Großstadt-Soziotop von | |
| > Urberlinern, Migrantinnen und unsereins. Nun hat es geschlossen. | |
| Bild: Leider zu: Das Café „Zur süßen Ecke“ brachte die verschiedensten T… | |
| Als wir aus dem Urlaub zurückkamen, fanden wir unsere Kreuzberger | |
| Eckbäckerei geschlossen. Für immer. Schock. Das betraf nicht nur uns. „Zur | |
| süßen Ecke“ – oder das „Café Vielfalt“, wie wir es nannten – war B… | |
| Café, Kiosk, Späti, Kneipe – und die Anlaufstelle für viele Menschen in | |
| unserer Nachbarschaft, die ja eben keine Nachbarschaft im ursprünglichen | |
| Sinne eines Dorfes oder einer Kleinstadt ist, wo man sich grüßt, womöglich | |
| in der gleichen Firma arbeitet und genau weiß, wer es an Fasching mit wem | |
| getrieben hat. Hier leben Menschen in Wohnungen neben- und übereinander, | |
| aber das ist es dann oft auch schon. | |
| Das Ungewöhnliche am „Vielfalt“ war, dass da die Leute aus der | |
| Plattenbausiedlung Richtung Köpenicker Straße hingingen, die | |
| türkischstämmigen Berliner aus der Waldemarstraße. Und wir auch, weil wir | |
| keine Lust hatten, ins Arschloch-Café zu gehen. Im Arschloch-Café sitzt ein | |
| urbanes, weit gereistes, veganes Currywurst-, Theater- und Museumspublikum. | |
| Unsereins. Leute wie wir. Da wollten wir nicht mehr hin. Ist das nicht | |
| seltsam? | |
| Wir waren doch aus dem schwäbischen Teil Baden-Württembergs geflohen, um | |
| unter Checkern zu sein, die Blöden loszuwerden und dem Muff der alten | |
| Heimat zu entkommen, einer Nachbarschaft, die einen grüßt, aber auch | |
| observiert und zu Hause fies über einen redet, wenn man die Straße nicht | |
| ordentlich gekehrt hat oder was wir da für Vorurteile gegen DIE hatten. | |
| Viele Jahre blieben wir auch in Berlin standhaft anonym. Wir gingen immer | |
| in ein Café, das einen Kilometer entfernt war und wo der Latte macchiato | |
| (klein) 3,90 Euro kostet. Wie es genau kam, kann ich gar nicht sagen, aber | |
| erst kauften wir unsere Brötchen im „Vielfalt“, dann saßen wir samstags | |
| nach dem Einkauf in der Markthalle vor dem „Vielfalt“ und tranken einen | |
| Kaffee (1.60 Euro), einen Cappuccino (2 Euro), ein Spreequell (1,60) Euro), | |
| und aßen ein Franzbrötchen zusammen (1,60 Euro). Dann saßen wir plötzlich | |
| jeden Morgen vor der Arbeit Punkt acht Uhr vor dem Vielfalt, bei Wind und | |
| Wetter. | |
| ## Franzbrötchen bereit | |
| Wir standen extra früher auf, um einen Puffer vor der Arbeit zu haben (wenn | |
| mir das mal einer früher gesagt hätte!). Dann stellte der Chef schon Kaffee | |
| und Cappuccino und Franzbrötchen bereit, wenn er uns kommen sah. Dann rief | |
| er schon von Weitem, dass das Spreequell erst wieder am Freitag komme. Dann | |
| kannten wir den Namen vom Chef und er unsere, dann erkundigte er sich nach | |
| einer Verwandten, weil er mitgekriegt hatte, dass sie im Krankenhaus war. | |
| Dann grüßten wir den einen und die andere, die da morgens auch rumsaß. Und | |
| irgendwann mehr oder weniger alle (ich übertreibe im Sinne des | |
| Literarischen, aber nur leicht). | |
| Der Ort war „konsumistisch“ und Erlös-orientiert, klar, aber eben auch ein | |
| Hammer-Soziotop, das für sehr viele Leute tägliche Anlaufstelle war. Wir | |
| grüßten die türkischstämmigen Frauen, die einen Frühstammtisch hatten, | |
| nachdem sie ihre Kinder weggebracht hatten. Den traurig aussehenden | |
| Rentner, der auch im Sommer immer drinnen saß, immer allein, weil | |
| (vermuteten wir) niemand anderes mehr in seiner Wohnung saß. Die | |
| türkischstämmigen Alten, denen die immer gleiche Frau ihre Formulare | |
| ausfüllte, die sie für Behördengänge brauchten oder was weiß ich. | |
| Es gab eine Frühschicht, zu der wir gehörten. Dann kamen gegen halb neun, | |
| neun, die Blaukittel und Dienstleister, dem Dialekt nach meist aus der | |
| Minderheit der Urberliner. Die aßen in ihrer Pause Mettbrötchen. Irgendwie | |
| aßen die alle immer Mettbrötchen, aber vielleicht bilde ich mir das auch | |
| nur ein. Früher hätte ich mich darüber echauffiert oder totgelacht | |
| (Mettbrötchen!), hier fand ich das irgendwann normal. Machen die halt so. | |
| (Ich esse selbst ab und zu Mettbrötchen, aber das darf in unseren Kreisen | |
| keiner wissen.) Nach neun weiß ich dann nicht mehr, wer alles kam. Abends | |
| kam jedenfalls die Bierschicht, die sahen wir aber nur von Weitem, aber da | |
| gehörten wir (noch) nicht dazu. | |
| Wir sagten uns, dass wir bloß aufpassen müssten, weil wir aus dem Grüßen | |
| gar nicht mehr rauskämen und ja deshalb nach Berlin gegangen waren, um | |
| nicht mehr Hinz und Kunzin grüßen zu müssen. Aber, Sie ahnen es längst, in | |
| Wahrheit gefiel uns das, und schlimmer, es tat uns gut, unsere Gegend war | |
| weniger grau, auch an Tagen, die sehr grau waren, wir freuten uns schon | |
| abends, dass wir morgens wieder hingehen konnten und sagten das auch | |
| ständig. „Morgen wieder ‚Vielfalt‘, Hase?“ – „Auf jeden Fall.“ A… | |
| Reden darüber fühlte sich gut an. | |
| Irgendwann kam unsere Familien-Wokie und ermahnte mich, darüber | |
| nachzudenken, ob ich besser nicht von „Café Vielfalt“ sprechen sollte. | |
| „Irgendwie süß, aber man könnte es so verstehen, dass du als weißer Mann … | |
| schon für Vielfalt hältst, wenn ein paar Türkischstämmige am Nebentisch | |
| sitzen.“ Schlimmer: Ich erlebte es schon als Gewinn an Vielfalt, dass an | |
| den Nachbartischen immer viel über die Grünen geschimpft wurde, aber | |
| niemals, dass sie „nicht links genug“ seien. | |
| Wie das im gelebten Leben so ist, dachte ich über all das aber nicht groß | |
| nach. Erst wenn ich nun am Schreibtisch sitze und darüber reflektiere, | |
| komme ich nicht daran vorbei zu sagen: Ich war immer irgendwie zu Besuch in | |
| Berlin gewesen, 30 Jahre lang, gefühlt auf der Durchreise, als sei das | |
| Leben ein einziges „Davor“, als sei die Gegenwart nicht die einzige Zeit, | |
| in der man leben kann, und der Ort, an dem man ist, nicht der nahe liegende | |
| Ort, um das zu tun. Das hatte ich bei Harald Welzer gelesen und mich noch | |
| gewundert, was den plötzlich so alles umtrieb. | |
| Und nun fühlte ich mich, nicht nur, aber auch wegen des „Café Vielfalt“, | |
| langsam aber sicher in meinem Viertel zu Hause und in meinem Leben | |
| angekommen. Und wer nun adornitisch rummault, dass das ja wohl alles schwer | |
| übertrieben sei, dem kann ich nur sagen: Worum geht es denn im Leben, wenn | |
| nicht darum, groß und positiv zu fühlen? | |
| ## Trauernde Hinterbliebene | |
| Tja, und dann kamen wir aus dem Urlaub zurück und fanden die Läden | |
| runtergelassen, die Tür verrammelt, und da hing ein Zettel, der nicht mal | |
| vom Chef war, sondern von, man kann das so sagen, trauernden | |
| Hinterbliebenen. Es sei „eine große Leere im Alltag der Anwohner*innen | |
| entstanden“, hieß es. Und das klingt jetzt seltsam, aber wir waren keine | |
| „Anwohner*innen“, das war ja gerade der Witz und das Außergewöhnliche, da… | |
| da eben kein Stamm oder Kreisverband unter sich war, keine Peer-Group, | |
| sondern Leute. Das Volk in den verschiedensten kulturellen, politischen und | |
| sprachlichen Aggregatzuständen. | |
| Ich müsste nun auf die klassisch-politische Ebene wechseln, auf die immense | |
| Mietpreiserhöhung zu sprechen kommen und auf den Vermieter, der diese | |
| wunderbare Heimat der Verschiedenen zerstört hat. Müsste auf die | |
| „Gentrifizierung“ schimpfen (und so tun, als ob ich nichts damit zu tun | |
| hätte), müsste den Plattenladen erwähnen nebenan, der auch zugemacht hat | |
| (und bei dem ich in 30 Jahren keine einzige Platte gekauft habe). Müsste | |
| den Kontext zur Markthalle herstellen, die Worte „Hipster-Metzger“ und | |
| „Touristenbespaßung“ verwenden und sagen, dass sich verschiedene Teile der | |
| Kreuzberger Gesellschaft davon ausgeschlossen oder abgestoßen fühlen. | |
| Aber die Markthalle ist auch ein Wohnzimmer der Gesellschaft geworden und | |
| längst nicht nur Konsumtempel oder wie man das abschätzig nennt. Das ist | |
| ein Gewinn. Und unser Café war ein Wohnzimmer der Gesellschaft – und nun | |
| ist das weg. | |
| Es gibt ein paar Hundert Meter weiter ein anderes Bäckerei-Café, das uns | |
| aufgenommen hat. Auch okay. Wir kommen rein und der Chef ruft jetzt auch | |
| schon: „Kaffee, Cappuccino, Franzbrötchen?“ Dann nicken wir und es geht | |
| seinen gewohnten Gang. | |
| Das ist schon ein großer Vorteil der Stadt gegenüber dem Dorf, wo es oft | |
| nur einen Bäcker und einen Metzger gibt und dann eben gar keinen mehr. Und | |
| zunehmend auch sonst keine Orte des Gemeinsamen mehr. Aber trotzdem: Wenn | |
| ich jetzt an der „Süßen Ecke“ vorbeigehe, die jahrelang unser „Café | |
| Vielfalt“ war, dann ist da mehr als eine Anlaufstelle für Kaffee, Brezeln | |
| und Bienenstich verloren gegangen. | |
| Ich traue mich kaum, es mir selbst einzugestehen, aber das war ein Teil | |
| meiner Heimat. | |
| 8 Dec 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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