| # taz.de -- Georgiens Härte: Eine Ohrfeige, zwei Jahre Haft | |
| > Seit der Wahl wehrt sich Georgiens Bevölkerung gegen den totalitären, | |
| > prorussischen Staatsapparat. Sie hat immer mehr Gründe, zu demonstrieren. | |
| Bild: Juni 2025 in Tbilisi: Proteste gegen den Georgischen Traum und für Europa | |
| Als Zviad Ratiani im Gerichtssaal von Tbilissi, der Hauptstadt von | |
| Georgien, im Oktober sein Abschlussstatement vorträgt, spricht er lange | |
| über ein Ereignis, das nur wenige Millisekunden dauerte. | |
| So berichten es Weggefährten, die bei der Verhandlung dabei waren. Ratiani, | |
| einer der bekanntesten Dichter und Oppositionellen Georgiens, hat im Juni | |
| bei einer Demonstration in Tbilissi einen Polizisten geohrfeigt. Deshalb | |
| steht er vor Gericht. „Ich sehe diese Ohrfeige weder als etwas an, worauf | |
| man stolz sein sollte, noch betrachte ich sie als etwas Schändliches oder | |
| Kriminelles“, erklärt der 54-Jährige vor der Urteilsverkündung im Tbilisi | |
| City Court. | |
| „Wir erleben hier eher die Absurdität, dass das Opfer wie der Täter | |
| behandelt wird und der Täter Zeuge, Ankläger und alles andere zugleich | |
| ist.“ Eine symbolische Geste sei seine Ohrfeige gewesen, die man im Kontext | |
| des absurden Staats betrachten müsse, in dem er lebe. | |
| [1][Zviad Ratiani ist eine Art Public Intellectual in seinem Heimatland]. | |
| Seit vielen Jahren setzt sich der Autor gegen die vom Oligarchen Bidsina | |
| Iwanischwili gesteuerte prorussische Regierung ein. Seine Gedichte handeln | |
| nicht selten von der Repression in Georgien. | |
| ## Polizisten prügelten ihn krankenhausreif | |
| Ratiani ist mehrmals Opfer von Polizeigewalt geworden, erstmals wird er | |
| bereits 2017 verhaftet und misshandelt. Im Jahr darauf geht er ins Exil | |
| nach Österreich, 2022 kehrt er zurück, Ende November 2024 nimmt er an den | |
| proeuropäischen Demonstrationen nach den Parlamentswahlen in Georgien in | |
| Tbilissi teil. | |
| Polizisten prügeln ihn da krankenhausreif, er kommt kurzzeitig in Haft und | |
| wieder frei. Für die Ohrfeige verurteilt das Gericht in Tbilissi ihn | |
| schließlich im Oktober zu zwei Jahren Haft. Straftatbestand: „Widerstand, | |
| Drohung oder Gewalt gegen einen Ordnungshüter“ nach Artikel 353 des | |
| georgischen Strafgesetzbuchs. | |
| Die zwei wohl prominentesten politischen Gefangenen Georgiens sind wegen | |
| des gleichen Delikts verurteilt worden. Neben Ratiani ist das [2][Mzia | |
| Amaghlobeli], Journalistin und Betreiberin der beiden oppositionellen | |
| Nachrichtenwebsites Batumelebi und Netgazeti. Auch sie hat an Protesten | |
| teilgenommen, auch sie hat – im Januar in der Stadt Batumi – einen | |
| Polizisten geohrfeigt, auch sie hat zwei Jahre Haft bekommen. | |
| ## Proteste seit über einem Jahr | |
| In der vergangenen Woche ist das Urteil vom Berufungsgericht Kutaissi | |
| bestätigt worden. „An Zviad Ratiani und Mzia Amaghlobeli soll ein Exempel | |
| statuiert werden“, sagt Nestan Tsetskhladze, Ko-Chefredakteurin bei | |
| Netgazeti, im Videochat mit der taz. „Ein Staatsanwalt hat bei der Anhörung | |
| zu Mzias Fall gesagt, von dem Urteil gegen sie solle eine abschreckende | |
| Wirkung ausgehen.“ Georgische Schauprozesse also. | |
| Die beiden Strafverfahren passen jedenfalls zur Entwicklung Georgiens vom | |
| jetzt schon autoritären hin zu einem totalitären Staat nach belarussischem | |
| Vorbild. Seit nun genau einem Jahr protestiert der prodemokratische Teil | |
| der georgischen Zivilgesellschaft gegen diese Politik. | |
| Zur Erinnerung: Zunächst verabschiedete die Regierung 2024 ein | |
| [3][„Ausländische-Agenten-Gesetz“] nach russischem Vorbild, das NGOs und | |
| Oppositionsmedien als westliche Feinde markiert. [4][Bei den | |
| Parlamentswahlen 2024] dann hat sich die zuvor schon regierende Partei | |
| Georgischer Traum von Strippenzieher Iwanischwili zum Sieger erklärt. | |
| Die OSZE, die weltweit größte regionale Sicherheitsorganisation, erklärte, | |
| es sei im Zusammenhang mit der Wahl unter anderem zu Gewalt gegen | |
| Beobachter:innen, Stimmenkauf sowie Mehrfachabstimmungen gekommen. Als die | |
| alte und neue Regierung kurz darauf erklärte, die Beitrittsverhandlungen | |
| mit der EU bis 2028 auszusetzen, begannen am 28. November 2024 die Proteste | |
| auf den Straßen Georgiens. Und halten bis heute an. | |
| ## Attacken auf die Opposition gehen weiter | |
| Die Gründe zu demonstrieren wurden seitdem eher mehr als weniger. Der | |
| Georgische Traum installierte Ende 2024 den Ex-Profifußballer Micheil | |
| Kawelaschwili als Marionettenpräsidenten. Der vorherigen Präsidentin Salome | |
| Surabischwili, die für eine Annäherung an die EU stand, blieb nur der | |
| Rückzug. Die Attacken auf die Opposition gehen bis heute weiter: Erst in | |
| dieser Woche hat die Regierung angekündigt, den mehrheitlich | |
| proeuropäischen, [5][im Ausland lebenden Georgier:innen das Wahlrecht | |
| entziehen zu wollen]. | |
| Gvantsa Jobava kennt den Schriftsteller Zviad Ratiani sehr gut, sie ist | |
| seine Verlegerin und Präsidentin der International Publishers Association. | |
| Gesundheitlich gehe es ihm gut, erzählt sie im Videochat, er werde im | |
| Gefängnis einigermaßen okay behandelt. „Anfangs haben sie ihm nicht | |
| erlaubt, einen Stift in der Zelle zu haben. Das war eine Qual für ihn, denn | |
| er will in Haft schreiben.“ | |
| Deshalb habe er auch beantragt, in eine Einzelzelle zu kommen – mit Erfolg. | |
| „Jetzt arbeitet er an Gedichten, lässt uns seine Werke zukommen. Wir haben | |
| einige davon in einer georgischen Literaturzeitschrift veröffentlicht.“ | |
| Der Wille der georgischen Protestierenden ist bemerkenswert. Viele | |
| Demonstrant:innen wurden misshandelt und geschlagen[6][, das | |
| Menschenrechtszentrum der University of Georgia dokumentiert diese Fälle]. | |
| Im Zusammenhang mit den Protesten zählt das [7][Portal Civil Georgia] 40 | |
| politische Gefangene. Gegen zahlreiche NGOs und Oppositionsmedien wird | |
| ermittelt, Büros werden untersucht. | |
| „Die EU sollte geschlossen Sanktionen gegen georgische Regierungsmitglieder | |
| erlassen“, fordert Gvantsa Jobava. In Deutschland gibt es bereits | |
| Einreisesperren gegen insgesamt zwölf georgische Beamte. Die EU [8][hat | |
| diese Woche neue Regeln zur Visafreiheit für Menschen mit georgischem Pass | |
| beschlossen], die es ermöglichen sollen, georgischen Diplomaten den Zutritt | |
| zum Schengen-Raum zu verwehren und zugleich die einfachen Bürger nicht | |
| betreffen soll. | |
| ## Ein Zeichen der Stärke | |
| Mzia Amaghlobeli erhält in diesem Jahr für ihre Verdienste um die | |
| Meinungsfreiheit und die Menschenrechte den Sacharow-Preis des Europäischen | |
| Parlaments. Zur Verleihung erscheinen kann sie natürlich nicht, seit dem | |
| 12. Januar ist sie in Haft. Amaghlobeli überlebte einen 38-tägigen | |
| Hungerstreik zu Beginn ihrer Haftzeit. | |
| Sie hat eine Augenkrankheit, bekommt in Haft bis heute nicht die notwendige | |
| medizinische Behandlung und droht zu erblinden. Bei der abschließenden | |
| Verhandlung des Berufungsverfahrens in dieser Woche war Nestan Tsetskhladze | |
| dabei, sie hat ihre Kollegin vor Gericht gesehen. | |
| „Bei der Urteilsverkündung hat sie gelächelt“, sagt sie und interpretiert | |
| dies als Zeichen der Stärke. Einmal pro Woche könne sie mit ihr | |
| telefonieren. „Sie sagt immer, wir sollen uns keine Sorgen um sie machen“, | |
| erzählt Tsetskhladze. „Aber die Gespräche sind kompliziert für uns beide, | |
| weil wir ja wissen, dass sie von den Behörden überwacht werden.“ | |
| Vor dem Tbilisi City Court spricht Zviad Ratiani Mitte Oktober auch noch | |
| über sein Gewissen. Es hätte sich gemeldet, als er die Bilder von den | |
| Demonstrationen und der Gewalt der Staatsbediensteten gesehen habe. „Dieses | |
| Gewissen hat mich wirklich geplagt, als ich zu Hause in meinem eigenen Bett | |
| lag und an meinen Texten arbeitete, die niemand brauchte.“ Für Zviad | |
| Ratiani war dies ein Anstoß hinauszugehen – und zu kämpfen. | |
| 23 Nov 2025 | |
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| Jens Uthoff | |
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