| # taz.de -- Ewigkeits-Chemikalie TFA: Ein Stoff für die Ewigkeit | |
| > Das Chemiewerk in Bad Wimpfen hört auf, Trifluoressigsäure in den Neckar | |
| > zu leiten. Doch das Gift ist da. Und geht auch nicht mehr weg. | |
| Bild: Neckar bei Bad Wimpfen: Von hier fließt das Gift weiter in den Rhein | |
| Jetzt regnet’s auch noch, ausgerechnet, so ein Mist! Denn alles spricht ja | |
| dafür, dass über den Regen das Gift hierher kommt, auf den Hang hinter der | |
| Chemiefabrik. Das hatte auch Karin Haug vom BUND gesagt, und die ist in der | |
| Sache schon seit Jahren aktiv. Die Fabrik liegt unten an der Straße, nahe | |
| am Neckar. Links schimmert die Doppelreihe ihrer zehn Destillationstürme | |
| weiß durchs Geäst. Sie ähneln Silos, zwei tragen ein elegantes hellblaues | |
| S, das Logo des Solvay-Konzerns. | |
| Direkt gegenüber recken sich die mittelalterlichen Türme der | |
| Ritterstiftskirche von Bad Wimpfen im Tal gen Himmel. Die Klosteranlage ist | |
| von hier oben kaum zu sehen. Der Hang ist zu dicht bewachsen und im Grunde | |
| ist es ohnehin Quatsch, hier auf der Suche nach den Waldquellen in | |
| Mörderbrombeeren und Weißdorn rumzurutschen. Einen Pfad zu den ominösen | |
| Betonbrunnenhäuschen gibt’s nicht, und dort angekommen, fehlt ein Schlüssel | |
| fürs rostfleckige Vorhängeschloss. Die Tür bleibt zu. | |
| Nur: An einer dieser Quellfassungen war im vergangenen Herbst eine | |
| exorbitante [1][Belastung des Wassers mit Trifluoressigsäure festgestellt | |
| worden], TFA, fast 320 Mikrogramm pro Liter. Das weitgehend unbekannte TFA | |
| ist eine „Ewigkeits-Chemikalie“. Es baut sich nicht ab. Es gilt als | |
| fortpflanzungsgefährdend, so viel weiß man mittlerweile, also als | |
| „reproduktionstoxisch, Kategorie 1B: Kann das Kind im Mutterleib schädigen. | |
| Kann vermutlich die Fruchtbarkeit beeinträchtigen“, so der amtliche | |
| Eintrag. | |
| Zugleich ist es laut Umweltportal Baden-Württemberg [2][derjenige | |
| menschengemachte Stoff, der mittlerweile im Grundwasser am häufigsten | |
| gefunden wird]. Und 320 Mikrogramm, das ist das Fünffache des deutschen | |
| „gesundheitlichen Leitwerts“ für Trinkwasser. Was der rechtlich heißt, | |
| bleibt vage. Vor allem ist er vergleichsweise lasch: In den Niederlanden | |
| und in der Wallonie, also dem französischsprachigen Teil Belgiens, wo | |
| Solvay ja herstammt, wird Trifluoressigsäure als Gesundheitsgefahr ernster | |
| genommen. Dort darf Trinkwasser höchstens 2,2 Mikrogramm enthalten. | |
| Aber Bad Wimpfen liegt ja in Deutschland, und ohnehin gehört der Brunnen | |
| nicht zum Trinkwassersystem. „Was Trinkwasser angeht, sind wir in Bad | |
| Wimpfen absolut safe“, sagt Bürgermeister Andreas Zaffran (CDU) im Gespräch | |
| mit der taz im Rathaus. Den größten Teil seines Trinkwassers beziehe die | |
| Stadt vom Bodensee. Und die drei Quellen, wo der Rest herstammt, die liegen | |
| ganz auf der anderen Seite von Bad Wimpfen, Zaffran macht eine Geste gen | |
| Nordwesten, „mindestens zwei Kilometer von der betroffenen Quelle | |
| entfernt“, außerdem noch mal rund 100 Meter höher. Eine Kontamination lässt | |
| sich ausschließen. | |
| Trotzdem ist etwas in Bewegung gekommen, als im Frühjahr diese | |
| Messergebnisse durchgesickert waren. Nach einer nicht öffentlichen | |
| Befassung im Gemeinderat hatte das regionale Online-Magazin Kontext | |
| [3][darüber geschrieben], der SWR war aufgesprungen, [4][die Heilbronner | |
| Stimme auch]. | |
| ## Das Chemiewerk gehört dazu | |
| Das berührt die Identität des Ortes. Das historische Bad Wimpfen [5][ist im | |
| Wesentlichen dreigeteilt]: Es besteht aus Wimpfen im Tal mit der gotischen | |
| Kirche am Neckar und aus Wimpfen am Berg. Dort stehen Kaiserpfalz, Rathaus, | |
| Cafés und die Geschäfte. Den Platz dazwischen besetzt, wie ein eigener | |
| Stadtteil, die Fabrik. Das Chemiewerk, vor über 100 Jahren aus der Saline | |
| hervorgegangen, gehört hier einfach dazu. Man lebt mit ihm. | |
| Bad Wimpfen war beunruhigt, ja aufgeschreckt. Der BUND hatte | |
| Info-Veranstaltungen gemacht, auch eine große Diskussion, und als Experte | |
| war der Chemie-Professor Michael Müller aus Freiburg angereist. Es war | |
| einer der wirklich heißen Tage im August gewesen. Die Hütte war voll. | |
| Manchen ging das zu weit. Da sei auch „etwas Panik geschürt worden“, sagt | |
| Axel Obermeyer vom Nabu Bad Friedrichshall, Ortsgruppe Bad Wimpfen. „Die | |
| Leute hören hier TFA und sind nur noch verzweifelt.“ Zumal kein | |
| Lösungsansatz benannt worden sei. „Mir fehlt da die Ausgewogenheit.“ So | |
| hatte Kontext TFA als „besonders aggressiv“ bezeichnet. Dabei handele es | |
| sich bei dem Stoff ja „um einen eher harmlosen Vertreter“, als Doktor der | |
| Chemie kennt er da ganz andere Gifte. | |
| Tatsächlich liegt die mittlere tödliche Dosis (LD50) von TFA bei über 200 | |
| Milligramm pro Kilo Körpergewicht; bei Arsenik beträgt dieser Wert 1,4 | |
| Milligramm, bei Rizin sogar 3 Mikrogramm. Außerdem, so Obermeyer, handle es | |
| sich bei Solvay um einen der „reputabelsten Hersteller von Fluorchemie in | |
| Deutschland“. Tatsächlich spielt es für den Wasserkreislauf keine Rolle, wo | |
| TFA produziert wird. Der ist schließlich global. | |
| Und dann hat das Management des Konzerns den Stecker gezogen. Gerade, als | |
| die Wimpfener Waldquellendiskussion Fahrt aufnahm und sich Anfang September | |
| auch noch die Deutsche Umwelthilfe mit einer Klagedrohung zu Wort gemeldet | |
| hatte, hat es versprochen auszusteigen. Solvay, das immerhin viertgrößte | |
| Unternehmen Belgiens, werde das Kapitel Trifluoressigsäure beenden, und | |
| zwar for good. Man werde „by early 2026“, so Solvay-Sprecher Peter | |
| Boelaert, die „Produktion von TFA und all seinen Derivaten konzernweit | |
| eingestellt haben“. Gleichzeitig schließt man das Werk im niedersächsischen | |
| Garbsen mit 40 Mitarbeitern und baut in Wimpfen 100 der 240 Stellen ab. | |
| Alles eine Reaktion auf den aufkeimenden lokalen Protest? | |
| Mit diesem harten Schnitt hatten die Aktivist*innen von BUND und | |
| Umwelthilfe kaum gerechnet. Dann aber, wer will es ihnen verdenken, hatten | |
| sie den Einspeiseverzicht schon gern auch als Erfolg verbuchen wollen. | |
| „Unser jahrelanger beharrlicher Einsatz gegen die Verseuchung unserer | |
| Umwelt durch Ewigkeits-Chemikalien scheint sich in Bad Wimpfen in Teilen | |
| auszuzahlen“, hatte die BUND-Landesvorsitzende Sylvia Pilarsky-Grosch | |
| mitgeteilt. | |
| ## Unternehmen widerspricht | |
| In Wimpfen hat das Gerücht Kurs, BUND und Umwelthilfe wären Schuld am | |
| Stellenabbau. Das Unternehmen aber widerspricht der Erzählung: „Die | |
| Entscheidung, organische Fluoride, die auf TFA basieren, auslaufen zu | |
| lassen, ist Teil einer umfassenderen strategischen Portfolio-Optimierung“, | |
| so Boelaert. | |
| Das ist plausibel. [6][Seit gut drei Jahren lässt sich der Umbau | |
| verfolgen]. Dem Kurs der Aktie [7][schadet er nicht.] Denn weltweit ändern | |
| sich gerade die Rahmenbedingungen. Schon 2023 hatte der ungleich größere | |
| amerikanische Chemie-Konzern 3M versprochen, sich weltweit aus der | |
| Herstellung von „Ewigkeits-Chemikalien“ zurückzuziehen. Gerade hatte das | |
| Unternehmen in den USA einen Vergleich [8][über 12,5 Milliarden US-Dollar | |
| mit Wasserversorgern geschlossen], ein ziemliches dickes blaues Auge. Zudem | |
| hatte es noch mit etwa einer weiteren Milliarde Prozesse in den Staaten | |
| Alabama, Michigan und Minnesota weggedealt, und auch in New Jersey. | |
| [9][Dort] hat auch Solvay zusagen müssen, an die Staatskasse 393 Millionen | |
| Dollar für die Beseitigung [10][seiner Schadstoffe] zu überweisen. | |
| In Europa sind die Summen noch nicht so hoch. Aber das kann noch kommen. In | |
| Belgien beschäftigt das Thema die Zivilgerichte. Und in Italien wurden die | |
| elf Manager des Konzerns Miteni im Sommer zu 141 Jahren Knast verurteilt, | |
| weil der große Teile des Veneto mit Ewigkeits-Chemikalien verseucht hatte. | |
| Zwar sichern die deutschen Wirtschaftsminister*innen den Herstellern | |
| gleichsam freies Geleit zu. Aber über die Donau strömen aus | |
| Baden-Württemberg und Bayern erhebliche TFA-Mengen nach Österreich, Ungarn, | |
| über den Balkan und bis in die Westukraine. Mindestens jeder Staat ist ein | |
| möglicher Kläger. Und der Neckar fließt in den Rhein, der das Gift in die | |
| Niederlande bringt. Dahin, wo die Grenzwerte so streng sind. | |
| „Also Sie werden da nicht viel sehen können“, hatte Karin Haug vom BUND | |
| Regionalverband Heilbronn-Franken gewarnt, der gut neun Jahre gegen Solvays | |
| TFA-Einleitung in den Neckar gekämpft hat. Nicht viel heißt konkret nichts. | |
| Bis oben auf die Altenberger Schanze, von deren Rand der Hang mit den | |
| Quellen zur Fabrik abfällt, war die promovierte Chemikerin | |
| freundlicherweise mitgestiefelt, durchs verwunschene Tal. | |
| „Das ist die Mersch oder manche hier nennen sie auch den Mörschbach“, hatte | |
| Haug den lieblich plätschernden Wasserlauf vorgestellt. „Die hat so 30 | |
| Mikrogramm pro Liter.“ Merkt man ihr nicht an. Wie auch: Mikrogramm, also | |
| millionstel Gramm, das ist ohnehin eine Gewichtsklasse, die sich dem bloßen | |
| Auge entzieht. Aber auch in größeren Mengen macht TFA optisch nichts her. | |
| Es ist farblos und wasserlöslich, eine schwer fassbare Substanz. Eine, die | |
| lange für unbedenklich erklärt worden war. Selbst die neue | |
| Trinkwasserverordnung, [11][die am 12. Januar in Kraft tritt], begrenzt | |
| zwar die Konzentration anderer, komplexerer Ewigkeits-Chemikalien, nicht | |
| aber die von TFA. | |
| Das Problem an TFA ist: Die Substanz ist sehr mobil. Sie verbreitet sich | |
| rasend schnell über den Wasserkreislauf und akkumuliert in Organismen, um | |
| dann schließlich irgendwann als Gift zu wirken, nicht jetzt, auch nicht | |
| morgen. Sie hat dafür aber auch alle Zeit der Welt: TFA gehört zum | |
| Haltbarsten, was Menschen je geschaffen haben. Von allein zerfällt es gar | |
| nicht. | |
| Es ist, ganz im Gegenteil, das, wozu viele andere Ewigkeits-Chemikalien, | |
| die berüchtigten PFAS, allmählich abbauen: TFA ist historisch der Anfang | |
| und perspektivisch das Ende dieser „Poly- und Perfluorierten Alkylischen | |
| Substanzen“. Es verkörpert ihre Ewigkeit. Daher findet es sich längst in | |
| allem, im Gemüse, in Getreide, es reichert sich im Obst an, in Wirbellosen | |
| am Meeresboden und, anders, als lange gedacht, im Bluteiweiß der | |
| Säugetiere; also auch beim Menschen. | |
| Wie genau TFA dort wirkt, werden wir erst noch lernen. Im Tierversuch hat | |
| es Missbildungen bei Kaninchen-Embryos verursacht. „TFA is in fact | |
| bioactive“, hat eine Arbeitsgruppe um den Chemie-Professor Reza Ghadiri am | |
| Scripps-Institut in La Jolla, Kalifornien, [12][Anfang des Jahres | |
| festgestellt.] Es verursache „dramatische biologische Effekte in mehreren | |
| gezüchteten Stämmen menschlicher Leberzellen“. Damit bestätigt er die kurz | |
| zuvor veröffentlichten [13][Ergebnisse der Biochemikerin Aleksandra | |
| Đurđević Đelmaš und ihrer internationalen | |
| Forschungsgruppe an der Uni Belgrad]. | |
| Die weltweite Diskussion um TFA hatte Ende Mai auch in Deutschland [14][zu | |
| einer veränderten Gefahreneinstufung geführt] und das war dann in den | |
| Medien Thema. Doch meist bleibt es eine abstrakte Debatte. Im hübschen Bad | |
| Wimpfen, gerade erst beim Travelbook Award zur schönsten Altstadt | |
| Deutschlands gekürt, hatte sie sich durch die Waldquellen für einen Moment | |
| konkretisiert. Jetzt ist damit Schluss. Es könnte Ruhe einkehren in der | |
| kleinen Stadt. | |
| ## Ein Pyrrhus-Sieg | |
| Ruhe ist allerdings das, was der Freiburger Chemie-Professor Michael Müller | |
| fürchtet. „Noch so ein Sieg und wir sind verloren“, so schätzt Müller den | |
| Vorgang ein. Das ist ein klassisches Zitat. Geschichtserzähler Plutarch hat | |
| es dem König Pyrrhus als Kommentar zu einer gewonnenen Schlacht in den Mund | |
| gelegt. Den Triumph hatte sein Volk so teuer erkauft, dass es danach den | |
| Römern nichts mehr entgegensetzen konnte. Es war ein Pyrrhus-Sieg. | |
| „Das Schließen des Abflussrohrs in Bad Wimpfen hält uns davon ab, richtige | |
| Aktionen anzugehen“, so Müllers Sorge. Denn dadurch entstehe der Eindruck: | |
| Jetzt haben wir was erreicht. „In Wirklichkeit haben wir gar nichts | |
| erreicht.“ Das ist erklärungsbedürftig. Und Müller kann sehr gut erklären. | |
| Also heißt es: runterfahren nach Freiburg. | |
| Wann die Geschichte mit TFA begonnen hat, lässt sich recht präzise sagen. | |
| TFA ist eine künstliche Substanz: Es ist Essigsäure, bei der die sonst an | |
| einem Kohlestoff gebundenen drei Wasserstoff-Atome durch drei Fluor-Atome | |
| ersetzt wurden. Genau das hat sich Frédéric Swarts vorgenommen. Nach einem | |
| Verfahren dafür forscht er von 1895 an, also noch bevor er den Lehrstuhl | |
| für Organische Chemie an der Uni Gent von seinem Vater geerbt hat. | |
| Erst nach dem Ersten Weltkrieg, am 3. Juni 1922 tritt er, mittlerweile | |
| Vize-Präsident der Internationalen Chemiker-Vereinigung und seit 1919 auch | |
| Präsident des Institut International de Chimie Solvay, vor die Kollegen der | |
| königlich-belgischen Akademie. Er hat einen Erfolg zu vermelden. | |
| Swarts war bestimmt ein guter Mensch. Zeitgenossen haben ihn als regelrecht | |
| schüchtern erlebt. Im Krieg organisierte und finanzierte er den | |
| akademischen Widerstand gegen die deutschen Besatzer. Und er hatte ein | |
| Faible fürs Schöngeistige, vor allem für Musik. Zugleich mit dem Chemie- | |
| hatte er ein Geigen- und Gesangsstudium begonnen, bevor er sich, ach!, ganz | |
| der Forschung zum Wohle der Menschheit widmete, rein zivil. | |
| Zwischen den Zeilen seines eher spröden Referats über seine Entdeckung | |
| meint man, im Understatement den Stolz mitschwingen zu hören, wenn er | |
| verspricht, dass diese verwandelte Essigsäure „vor allem unter | |
| physikalisch-chemischen Gesichtspunkten von einigem Interesse“ sein könnte. | |
| Ob er auf den Nobelpreis gehofft hat? Verdient gehabt hätte er ihn. Der | |
| Stoff ist nicht bloß etwas völlig Neues. Er ist auch unendlich praktisch. | |
| Das macht ihn ja so verhängnisvoll: Er ist der kleinste Grundbaustein für | |
| die meisten längerkettigen PFAS. Raketentechnik, Löschschaum, | |
| Narkoseapparate, Windanlagen, Medikamente, Fungizide, Pizzakartons und | |
| Pestizide, es gibt zahllose Bereiche, in denen es selbst, seine Derivate, | |
| direkt oder als prozessbeschleunigendes Hilfsmittel bei der Fertigung zum | |
| Einsatz kommt. Swarts hat diese Tür aufgestoßen. | |
| Das Institut für pharmazeutische und medizinische Chemie der Uni Freiburg | |
| sitzt im Otto-Krayer-Haus, unweit vom Bahnhof. Im Labor zeigt Michael | |
| Müller seine Weinsammlung: alte Flaschen, entstaubt, aber mit Firnis. Ein | |
| paar ehrfurchtgebietende Einzelstücke sind dabei, ein Portwein aus den | |
| 1920er-Jahren, ein Bordeaux von 1940: Das alles sind Studienobjekte. | |
| Denn, dass es TFA früher nicht gegeben hat, belegen Untersuchungen in | |
| Eisbohrkernen. Aber wie es in die Welt kam und sich dort verbreitet, lässt | |
| sich noch präziser durch die Analyse von Wein verfolgen. Guter Wein wird | |
| immer an derselben Stelle geerntet. Auf den Etiketten steht, woher er | |
| kommt, und in welchem Jahr die Trauben gekeltert wurden. | |
| ## Kurve fast senkrecht | |
| Erste Spuren von TFA haben Müller und sein Team in den späten 1960ern | |
| gefunden. Danach ein allmählicher Anstieg, bis zur Jahrtausendwende. Und | |
| dann schnellt die Kurve nach oben, mittlerweile ist sie fast senkrecht: Die | |
| Winzerverbände waren sauer, als die Ergebnisse präsentiert wurden, aber sie | |
| können sich entspannen: „Der Wein ist für uns ein Zeitfenster“, sagt | |
| Müller. Er dient als Medium, in dem sich die Entwicklung abzeichnet, die in | |
| allen Pflanzen zu erwarten ist, in Obst, in Gemüse, in Stauden, Blättern | |
| und in Knollen. | |
| Das ist dramatischer als die Belastung von Trinkwasser. Da gibt es für | |
| Haushalte zumindest eine theoretische Möglichkeit, den Stoff mit Nanoporen | |
| rauszufiltern, das wird dann auch mineralstofffreies Wasser. Aber bei | |
| Zucchini oder Äpfeln geht das eben nicht. In ihren Zellen aber reichert | |
| sich das TFA an, ähnlich wie längerkettige PFAS beispielsweise in | |
| Wildschweinleber. Die darf deshalb in Deutschland nicht mehr in den Handel | |
| gebracht werden. Sie ist zu giftig. | |
| Der Umweltchemiker Hans Peter Arp, Professor am Norwegischen Geotechnischen | |
| Institut und an der Norwegischen Technischen Uni warnt deshalb, dass TFA | |
| die planetaren Belastungsgrenzen bedrohe. Auch wenn die Effekte noch nicht | |
| genau erforscht sind, dass sie eintreten werden ist klar: Allein die | |
| wachsende Konzentration dieses neuen Stoffs sei ab einem bislang | |
| unvorhersagbaren Punkt geeignet, disruptive Wirkung zu entfalten, hatte er | |
| in einer Anhörung im Europaparlament erläutert. Und „da TFA sich global | |
| anreichert und über einen langen Zeitraum bestehen bleibt, wären negative | |
| Auswirkungen ebenfalls global und langfristig zu erwarten“, erklärt er der | |
| taz. „Die Erde würde das Holozän verlassen, in dem sich die Menschen | |
| entwickelt haben.“ | |
| Überall wo TFA gemessen wird, findet sich dieser Anstieg. Dafür gibt es | |
| Gründe: Einer ist ausgerechnet das Montreal-Protokoll, also die Ächtung der | |
| FCKWs, um die Ozonschicht zu schließen. Ein wichtiger Erfolg. Ersetzt | |
| wurden sie seinerzeit allerdings oft durch TFA-haltige Kälte- und | |
| Triebmittel. Asthmasprays zum Beispiel bringen gegenwärtig 11.000 Tonnen | |
| der entsprechenden Fluorgase in die Atmosphäre ein – die dann im Regen | |
| niederfallen. | |
| Perfluorierte Wirkstoffe finden sich auch in Medikamenten, mittlerweile | |
| gehört fast jeder vierte neue Arzneistoff dazu, erklärt Müller. Mit seiner | |
| Arbeitsgruppe hat der Pharmazie-Prof zuletzt genau zu diesem Thema | |
| geforscht. Auf einem großen Flatscreen in seinem Büro sind alle weltweit | |
| 111 PFAS-Arzneistoffe aufgeführt, besonders hervorgehoben die 70, die | |
| derzeit in Deutschland zugelassen sind. Für sie hat die AG Müller nach | |
| Alternativen gesucht. Ergebnis: So gut wie jeder PFAS-Wirkstoff ist durch | |
| einen nicht fluorierten ersetzbar. | |
| Argumentativ ist das entscheidend. Denn Humanmedizin genießt ja in der | |
| Praxis immer eine Sonderstellung. Das europaweite | |
| PFAS-Beschränkungsverfahren, das die Umweltbehörden von Belgien, Norwegen, | |
| Dänemark, den Niederlande und Deutschland 2023 angeregt hatten, spart | |
| diesen Bereich deshalb vorsorglich aus. Aber dazu bestehe eben kein Anlass, | |
| sagt Müller: „Es gibt selbst im Medizinbereich die Alternativen. Wenn es | |
| aber im Medizinbereich Alternativen gibt, wo wäre das alternativlos?“ | |
| Man müsste es also wollen, politisch wollen. Die Gelegenheit wäre günstig, | |
| wo die Hersteller in Europa und den USA zu Beginn des kommenden Jahres die | |
| Segel streichen. Und Baden-Württemberg, wo im kommenden Jahr gewählt wird, | |
| ist PFAS-Land. Erst im Mai hatte die Arbeitsgemeinschaft Wasserwerke | |
| Bodensee-Rhein Alarm geschlagen: Die TFA-Konzentration im Rhein nördlich | |
| von Basel hat sich nämlich innerhalb der letzten acht Jahre mehr als | |
| verdoppelt. Eine Lösung fürs Problem durch Filtertechnik fehlt. Also könne | |
| man dann irgendwann kein Trinkwasser mehr herstellen, sobald es einen | |
| Standard dafür gibt. Die Arbeitsgemeinschaft versorgt rund zehn Millionen | |
| Menschen, weit ins Land hinein, bis hoch in den Kraichgau, nach Bad Wimpfen | |
| zum Beispiel. Sie fordert ein „konsequentes Verbot aller | |
| Ewigkeits-Chemikalien“. | |
| ## Krasse Absage | |
| Früher bestand bei dem Thema Dissens zwischen dem grünen Umwelt- und dem | |
| grünen Wirtschaftsministerium auf Bundesebene. Der neue Koalitionsvertrag | |
| aber erteilt dem Ziel eines PFAS-Ausstiegs eine krasse Absage. Unter dem | |
| Vorsitz von [15][Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU)], Baden-Württemberg, hatte | |
| auch die Wirtschaftsminister*innenkonferenz im Juni erneut | |
| bekräftigt, dagegen zu sein, und Panik geschürt. Bei einem Verbot würden | |
| ganze Produktionsbereiche in der EU wegbrechen, hatte Hoffmeister-Kraut in | |
| Stuttgart gewarnt, und das Gespenst einer drohenden Deindustrialisierung | |
| heraufbeschworen. | |
| Auf der Homepage des Landes-Umweltministeriums heißt es zwar: | |
| „Baden-Württemberg steht hinter PFAS-Verbots-Initiative“. Aber in dem | |
| Brief, den Ressortchefin Thekla Walker (B90/Grüne) in der Sache an | |
| Bundes-Umweltminister Carsten Schneider (SPD) geschickt hat, ist nur noch | |
| die Rede davon dass doch bitte die „festgelegten bzw. in Diskussion | |
| stehenden (Grenz-)Werte auf Widersprüchlichkeit zu prüfen“ seien. | |
| Harmonisiert wären sie doch viel besser. Ob das zur Profilierung im | |
| Wahlkampf reicht? | |
| Dabei müsste es darum gehen, die Quelle zu verstopfen, for good: „Was wir | |
| brauchen, ist ein Konsens“, hatte Müller eine Idee skizziert, wie die | |
| Menschheit aus der Nummer rauskommen könnte, „ein Konsens von Industrie, | |
| Politik und Gesellschaft, dass wir auf diese Stoffgruppe verzichten.“ Das | |
| wäre mal ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. | |
| 7 Dec 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Ewigkeitschemikalien-im-Wasser/!6111023 | |
| [2] https://umweltportal.baden-wuerttemberg.de/umweltdaten-bericht-2024/trifluo… | |
| [3] https://www.kontextwochenzeitung.de/wirtschaft/754/tfa-im-doppelpack-10447.… | |
| [4] https://www.stimme.de/heilbronn/landkreis-heilbronn/trinkwasser-quelle-bad-… | |
| [5] https://www.lateinheft.de/caesar/caesar-de-bello-gallico-kapitel-1/ | |
| [6] https://chemanager-online.com/de/news/solvay-treibt-aufspaltung-voran | |
| [7] https://www.finanzen.net/chart/solvay | |
| [8] https://ferrarolaw.com/blog/2024/april/historic-125-billion-3m-settlement-m… | |
| [9] https://dep.nj.gov/solvay/ | |
| [10] https://www.reuters.com/sustainability/solvay-settles-drinking-water-pollu… | |
| [11] https://www.gesetze-im-internet.de/trinkwv_2023/ | |
| [12] https://www.researchgate.net/publication/389759229_Trifluoroacetate_reduce… | |
| [13] https://www.researchgate.net/publication/389294862_Perfluoroalkyl_acids_in… | |
| [14] /29-zugelassene-Pestizidwirkstoffe-bilden-gefaehrliche-Saeure/!6091048 | |
| [15] https://www.agentur-zukunft.eu/2025/01/4714-lobbyismus-der-ewigkeits-chemi… | |
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| Benno Schirrmeister | |
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