| # taz.de -- Susan Neiman über Moral und Bosheit: „Ich lebe gerne in Neuköll… | |
| > Die Moralphilosophin Susan Neiman kritisiert Trump, „Wokeness“ und den | |
| > deutschen Umgang mit Antisemitismus. Jetzt schreibt sie ein Buch über das | |
| > Böse. | |
| Bild: Philosophin und Aktivistin: Susan Neiman in ihrer Wohnung in Berlin-Neuk�… | |
| Susan Neiman sitzt auf einem dunkelroten Ledersofa in ihrer Altbauwohnung | |
| in Berlin-Neukölln. Im Zimmer nebenan stehen viele Bücher. Auf einer | |
| Holzplakette in einem Regal im Wohnzimmer ist [1][„Yes we can“] zu lesen. | |
| Neiman ist eine unermüdliche Denkerin, und sie lässt sich schwer zuordnen. | |
| Das macht sie für viele interessant, bei vielen eckt sie aber auch an – | |
| etwa aufgrund ihrer Auseinandersetzung mit „dem Bösen“ und ihrem kritischen | |
| Blick auf die „Woken“. Viele Diskussionen, sagt Neiman, sei sie leid. | |
| Dennoch hat sie sich Zeit für das Gespräch genommen, schließlich will sie | |
| sich weiter in die öffentliche Debatte einbringen. Sie trinkt einen Schluck | |
| Wasser und sagt: „Also fangen wir an.“ | |
| taz: Frau Neiman, Sie haben sich viel mit dem Bösen beschäftigt. Würden Sie | |
| angesichts der Weltlage sagen, es hat Konjunktur? | |
| Susan Neiman: Auf jeden Fall. Ich schreibe gerade ein kleines Buch darüber. | |
| Ich möchte nicht immer mit dem Bösen zu tun haben, aber derzeit ist es | |
| unmöglich, nicht darüber nachzudenken. Ich frage auch, warum „Moral“ als | |
| Schimpfwort verwendet wird, im Deutschen, aber auch in anderen Sprachen. | |
| taz: Im Deutschen etwa, wenn die Rede von „Gutmenschen“ ist? | |
| Neiman: Zum Beispiel. | |
| taz: Sie sind Moralphilosophin … | |
| Neiman: Ja, ich habe Philosophie studiert, unter anderem bei John Rawls in | |
| Harvard, und eine wirklich gute philosophische Ausbildung bekommen. Anfangs | |
| haben mich Sartre und Beauvoir inspiriert, ich bin danach zu den Aufklärern | |
| gekommen, weil sie keine Fachphilosophen waren, sondern für die | |
| Öffentlichkeit schrieben. Mein Wunsch war immer, engagierte Philosophie zu | |
| machen. Nach elf Jahren als Professorin in zwei Ländern habe ich deshalb | |
| einen Lehrstuhl für Praktische Philosophie abgelehnt und mich für die | |
| Direktion des Einsteinforums in Potsdam entschieden. Dort geht es um die | |
| öffentliche Sphäre, ich kann mehr in der politischen Debatte bewirken. | |
| taz: Und wo zeigt sich in Ihren Augen derzeit das Böse? | |
| Neiman: Natürlich kann man eine Reihe von Taten beschreiben, Grausamkeiten, | |
| Korruption. Aber ich setze mich lieber mit dem Mangel an Moral auseinander, | |
| der seit Anfang dieses Jahrhunderts herrscht. Trump ist ein Paradebeispiel. | |
| Es gibt eine Reihe von Ideologien, die wir nicht als Ideologien wahrnehmen, | |
| die aber unsere Denkrichtung prägen. Mich beschäftigt das rohe | |
| Eigeninteresse als Beweggrund, der Verzicht auf Scheinheiligkeit. | |
| taz: Was genau meinen Sie? | |
| Neiman: Mich interessiert das Kompliment, was das Böse an das Gute macht, | |
| ein vordergründiges Zugeständnis: Man sagt, man tue dies oder jenes aus | |
| einem moralischen Interesse, eigentlich aber geht es um Eigeninteresse. Die | |
| Bush-Administration hat zum Beispiel damals behauptet, sie wolle Demokratie | |
| in den Nahen Osten bringen, indem sie [2][Irak angegriffen] hat. Aber | |
| kritische Amerikaner wussten: Es ging um Öl und Hegemonie. | |
| taz: Und bei Trump? Er wurde vor einem Jahr wiedergewählt. | |
| Neiman: Der Unterschied zwischen Bush und Trump ist, dass Bush Komplimente | |
| an das Gute gemacht hat, indem er seine wahren Beweggründe nicht nannte. | |
| Bei Trump geht es um keine moralischen Gründe mehr. Es geht um Macht und | |
| Geld, und das sagt er auch ganz offen. Er glaubt nicht, dass andere | |
| Beweggründe existieren. | |
| taz: Das ist das Böse? | |
| Neiman: Der Grund des Bösen ist die völlige Ablehnung der Moral. | |
| taz: Gerade weil Auschwitz als das Böse überhaupt gilt, ist es heikel, | |
| Ereignisse unter dem Begriff zusammenzufassen. Man läuft Gefahr, Dinge | |
| gleichzusetzen, zu relativieren oder zu verkürzen. | |
| Neiman: Ich weiß um diese Gefahr. Aber gleichzeitig plädiere ich dafür, | |
| dass man versucht, vernünftig mit den Begriffen Moral und dem Bösen | |
| umzugehen. Ich verbringe nicht viel Zeit, mit künstlicher Intelligenz | |
| herumzuspielen. Aber als ich anfing, an meinem neuen Buch zu schreiben, | |
| habe ich ChatGPT gefragt: Ist Trump böse? | |
| taz: Und was antwortete ChatGPT? | |
| Neiman: Ich bekam eine Lektion erteilt, dass man dieses Wort eigentlich | |
| nicht benutzen sollte. Der Witz war: Das höre ich seit Jahren. Der Begriff | |
| ist einer der stärksten sprachlichen Waffen, die wir haben. Andere Leute | |
| werden ihn sowieso benutzen, wir sollten deshalb in der Lage sein, | |
| analytisch und reflektiert mit Sprache umzugehen. | |
| taz: Sie versuchen, zwischen verschiedenen Formen des Bösen zu | |
| differenzieren. | |
| Neiman: Wir reden heute über verschiedene Sorten des Bösen, die von | |
| Menschen gemacht werden. In meinem neuen Buch frage ich, warum der Krieg in | |
| Gaza international als böse verstanden wurde. Ein Grund ist, dass wir in | |
| real time gesehen haben, wie Kinder sterben. Der andere: Die Menschheit hat | |
| sich geeinigt, dass der Holocaust böse war. Solch eine moralische | |
| Einhelligkeit gibt es kaum. Diese Referenz zu instrumentalisieren, um einen | |
| weiteren Genozid zu verursachen, ist böse. | |
| taz: Wenn Sie vom Holocaust als Maßstab sprechen und von einem weiteren | |
| Genozid, wirkt das wie eine Gleichsetzung. Meinen Sie das tatsächlich so? | |
| Neiman: Warum wurden wir nach dem Krieg gemahnt, den Holocaust nicht zu | |
| vergessen? Der Sinn von „Nie wieder!“ war nicht, dass Deutsche nie wieder | |
| Juden in Gaskammern stecken sollen, sondern das Ähnliches nie wieder | |
| irgendjemandem geschehen soll. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen dem, | |
| was in Auschwitz passiert ist und dem, was in Gaza passiert ist. Damit | |
| sollen sich die Historiker und Soziologen beschäftigen. Aus diesen | |
| Unterschieden zu schließen, dass es deshalb einen fundamentalen moralischen | |
| Unterschied gibt, ist falsch. | |
| taz: Wirklich? Sie sehen keinen moralischen Unterschied zwischen dem | |
| Holocaust, also der systematischen industriellen Vernichtung von Millionen | |
| Juden, und dem Gazakrieg? Gerade in der Philosophie gibt es eine große | |
| Debatte über die Singularität des Holocausts. Dabei geht es etwa darum, | |
| Relativierungen zu verhindern – zu Recht. | |
| Neiman: Warum ist es wichtig, darauf zu bestehen? Was hängt davon ab? | |
| taz: Es ist allein schon wichtig, um die Erinnerung an das Verbrechen nicht | |
| zu verwässern, um sie lebendig zu halten. | |
| Neiman: Noch mal: Warum sollten alle „Nie wieder!“ sagen, wenn ähnliche | |
| Verbrechen völlig unmöglich wären? Die Singularitätsdebatte entstand | |
| während des [3][Historikerstreits] und wurde seitdem völlig aus dem | |
| Zusammenhang gerissen. Habermas und anderen war es wichtig, die | |
| tatsächlichen Relativierungen von Nolte zu kontern, der den Holocaust als | |
| Reaktion auf Stalins Verbrechen herunterstufen wollte. Das war wiederum | |
| eine Reaktion auf [4][Weizsäckers Rede] ein Jahr vorher, die endlich | |
| offiziell feststellte, dass die Deutschen nicht Opfer sondern Täter des | |
| Kriegs waren. Habermas wollte Revisionisten wie Nolte die Stirn bieten. Die | |
| Singularität war also eine politische Aussage, nicht eine metaphysische, | |
| die für immer und alles gelten sollte. | |
| taz: Was bedeutet das konkret? Wollen Sie sagen, dass der Holocaust | |
| moralisch nicht einzigartig war? | |
| Neiman: Ich verstehe sehr wohl, dass Deutsche Angst haben, die | |
| Relativierungen der Nolte-Generation zu wiederholen. Gut so. Aber müssen | |
| sie ihre Identität darin finden, die größten Verbrecher aller Zeiten zu | |
| sein? | |
| taz: Der Gazakrieg wurde durch den Terroranschlag vom 7. Oktober erst | |
| ausgelöst. In einem Interview haben Sie erzählt, dass Ihre Tochter beinahe | |
| auf das [5][Supernova Festival] gegangen wäre, auf dem die Hamas fast 400 | |
| Menschen ermordet hat. | |
| Neiman: Ja, meine Tochter wollte in dieser Zeit nach Israel fahren, sie hat | |
| sich kurzfristig dagegen entschieden. Nach dem 7. Oktober sagte sie: „Das | |
| ist einer der bekanntesten Raves der Welt, natürlich wäre ich hingegangen. | |
| Ich wollte immer dorthin.“ | |
| taz: Ohne den 7. Oktober hätte es den Gazakrieg so nicht gegeben. Das | |
| spricht dagegen, den [6][Begriff Genozid] zu verwenden. | |
| Neiman: Mit dem Genozid-Begriff war ich anfangs zurückhaltend, inzwischen | |
| wird dieser Begriff aber von den meisten Genozid-Forschern verwendet. Es | |
| ist nicht mehr zu bestreiten. Aber insgesamt muss man einfach noch viel | |
| mehr dazu sagen. | |
| taz: Nämlich? | |
| Neiman: Nur um einen Punkt zu nennen: Die israelische Armee hat am 7. | |
| Oktober versagt, weil sie ihr Militär eingesetzt hat, um illegale Siedler | |
| im Westjordanland zu beschützen. Die militärischen Prioritäten waren falsch | |
| gesetzt. Benjamin Netanjahu ist Anfang der 90er in die Politik gegangen, um | |
| die Zweistaatenlösung zu verhindern. Er hat die Hamas mit groß gemacht. | |
| taz: Weil Sie das Vorgehen Israels scharf kritisieren, wurde Ihnen | |
| vorgeworfen, mit der Hamas zu sympathisieren. | |
| Neiman: Ist Ihren Lesern klar, dass ich Jüdin bin? Noch dazu israelische | |
| Staatsbürgerin? Hamas ist eine islamistische, fundamentalistische, | |
| reaktionäre … | |
| taz: … Terrororganisation. | |
| Neiman: Ja, eine Terrororganisation. Die Hamas ist böse, ganz klar. Aber | |
| wer die Entwicklungen in Israel/Palästina verfolgt, wusste von Anfang an, | |
| dass die Reaktion von Israel auf den 7. Oktober furchtbar sein wird. Die | |
| Hamas wollte eine große Reaktion provozieren, damit genau das passiert, was | |
| in Gaza passiert ist – und damit die Welt Israel aufs Schärfste kritisiert. | |
| taz: Als ich durch Neukölln zu Ihrer Wohnung gelaufen bin, habe ich | |
| gesehen, dass an einer Wand „Fuck Israhell“ stand. Israel wurde während des | |
| Gazakriegs gleichgesetzt mit der Hölle, dem Bösen schlechthin, die Guten | |
| sind die Palästinenser. In linken Diskursen ist dieses Muster häufiger zu | |
| beobachten. | |
| Neiman: Solch ein binäres Denken ist immer absurd. Aber es war wirklich die | |
| Hölle in Gaza, und es ist noch nicht vorbei. Es gibt viele Leute in diesem | |
| Kiez, die in Gaza Verwandte haben. | |
| taz: Sie meinen, Sie konnten deren Wut über das Leid verstehen? | |
| Neiman: Absolut. Deutsche fragen mich öfters: „Wie kannst du in Neukölln | |
| leben? Du bist nicht unbekannt, hast du nicht Angst, unter so vielen | |
| Palästinensern und anderen Muslimen zu wohnen?“ Ich lebe hier gern und ohne | |
| Probleme. Manchmal kommen Fremde auf der Straße zu mir, um sich zu bedanken | |
| dafür, dass eine öffentlich jüdische Person für palästinensische | |
| Menschenrechte aufsteht. | |
| taz: In der Jüdischen Allgemeinen wurden Sie dafür kritisiert, | |
| Antisemitismus und – als amerikanische Jüdin – die jüdische Lebensrealit�… | |
| in Deutschland zu verkennen. Was sagen Sie zu solchen Vorwürfen? | |
| Neiman: Sehen Sie diese Tür? Die würde ich gerne mal zeigen, denn das höre | |
| ich oft. Kommen Sie mit. | |
| Sie geht zu einer Tür, die in den Hausflur führt, öffnet sie, schlägt sie | |
| zu. Schwer fällt die Tür ins Schloss. | |
| Das ist eine Stahltür. Ich habe sie einbauen lassen, weil ich einen | |
| alkoholisierten antisemitischen Nachbarn hatte. Der ist manchmal mitten in | |
| der Nacht mit dem Baseballschläger gekommen und hat geschrien: „Das nächste | |
| Mal komme ich mit der Kettensäge.“ | |
| taz: Oh je. | |
| Neiman: Danach lagen hier Holzstücke. Es hat dreieinhalb Jahre gedauert, | |
| bis ich den mit Rechtshilfe aus dem Haus gekriegt habe. Es war ein | |
| Rechtsradikaler, aber ich kenne auch höflichen Antisemitismus in diesem | |
| Land. Noch dazu: Viele Deutsche denken, Juden in den USA kämen alle aus New | |
| York. Ich bin in Atlanta, Georgia, aufgewachsen. Die Synagoge, in die meine | |
| Familie gegangen ist, wurde vom [7][Ku-Klux-Klan] zerbombt. Ich bin mit | |
| antisemitischer Gewalt groß geworden. | |
| taz: Das tut mir leid zu hören. | |
| Neiman: Also weiß ich sehr viel über Antisemitismus, und da ich in Berlin | |
| seit 1982 lebe, kenne ich den deutschen Antisemitismus besonders gut. Ich | |
| bin wütend darüber, dass man in Deutschland nicht mehr über den | |
| Antisemitismus bei der CSU und bei der AfD spricht, obwohl Umfragen zeigen, | |
| dass er dort am häufigsten zu finden ist. | |
| taz: Sie betonen immer wieder, dass Sie sich als Universalistin verstehen. | |
| Sie sind überzeugt, dass bestimmte Rechte, Gesetze und Prinzipien für alle | |
| Menschen gültig sind. | |
| Neiman: Absolut. Und keines meiner neun Bücher handelt von | |
| Israel/Palästina. Aber inzwischen bin ich in Deutschland gekennzeichnet als | |
| die Frau, die immer Israel kritisiert. Lassen Sie uns gerne über etwas | |
| anderes sprechen. | |
| taz: Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Links ist nicht woke“. Vor dem | |
| Hintergrund des Universalismus kritisieren Sie darin Identitätspolitik. | |
| Neiman: Ich benutze nicht den Begriff Identitätspolitik, denn er betrachtet | |
| nur zwei Aspekte unserer Identität. | |
| taz: Sie meinen: Ethnie und Geschlecht. | |
| Neiman: Genau. Und Identität hat mehr Aspekte. Die Woken haben viel Schaden | |
| angerichtet. Gibt es nicht andere Sorgen als genderneutrale Toiletten? | |
| taz: Die Frage ist, ob man das eine sein lassen muss, um etwas anderes zu | |
| tun. | |
| Neiman: Das Buch ist ein Bestseller in Lateinamerika. In Brasilien und | |
| Chile haben mir Politiker und Journalisten erzählt, dass die Diskussionen | |
| über genderneutrale Toiletten der Sozialdemokratie tatsächlich geschadet | |
| haben. Natürlich gehört es zur Aufgabe von Demokratien, Minderheiten zu | |
| schützen. Dafür muss man politische Mehrheiten schaffen. Normalerweise | |
| macht man die Tür zu, wenn man pisst. Und Sie können ruhig „pissen“ | |
| schreiben. | |
| taz: Ein partikularistischer Blick kann helfen, Minderheiten zu sehen und | |
| die Lebensrealität von Betroffenen anzuerkennen, auch aus einem | |
| emanzipatorischen Gedanken heraus. | |
| Neiman: Natürlich kann man kulturelle Unterschiede nicht nur anerkennen, | |
| sondern feiern. Aber politisch geht es darum, dass jeder Mensch | |
| Menschenrechte haben soll. | |
| taz: Wen genau meinen Sie, wenn Sie von den Woken sprechen? | |
| Neiman: Das habe ich in meinem letzten Buch genau erklärt, hier ganz kurz | |
| die drei Prinzipien: Ich meine jene, die glauben, man versteht nur Menschen | |
| des eigenen Stammes und ist nur ihnen wirklich verpflichtet. Jene, die | |
| glauben, dass Ansprüche auf universelle Gerechtigkeit eurozentristische | |
| Machtansprüche sind, und Menschen, die meinen, alle Fortschritte sind nur | |
| neue Formen von Unterdrückung. Ich meine all jene, die ausschließlich mit | |
| Ethnie und Geschlecht argumentieren. Für die Woken wie auch für die | |
| Reaktionären sind Verbindungen nur möglich, wenn man aus dem gleichen Stamm | |
| kommt. | |
| taz: Bei dem Begriff „Stamm“ schluckt man. Viele würden sicherlich sagen, | |
| der sei nicht politisch korrekt, zum Beispiel, weil sie ihn auf die | |
| Kolonialzeit zurückführen. | |
| Neiman: Der Begriff kommt aus der Bibel, verdammte Scheiße. Dass ich das | |
| Wort „Stamm“ nicht verwenden soll, ist ein sehr ignoranter Vorwurf. Die | |
| Woken verstehen den Universalismus nur als Karikatur. Sie unterscheiden | |
| auch zu wenig zwischen Gerechtigkeit und Macht. Und sie übersehen, dass | |
| moralischer Fortschritt möglich ist. Dabei beziehen sie sich auf Ideen, die | |
| eigentlich rechts liegen. Gleichzeitig appellieren sie an Gefühle, die | |
| tatsächlich zum traditionellen Linkssein gehören, vor allem an den Wunsch, | |
| auf der Seite der Unterdrückten zu stehen, auch ich teile dieses Gefühl. | |
| Woke ist deshalb ein inkohärenter Begriff, weil es um einen Widerspruch | |
| zwischen Ideen und Gefühlen geht. | |
| taz: Auch Trump verwendet die Bezeichnung. | |
| Neiman: Trump spricht von woken Marxisten, aber die Woken sind keine | |
| Marxisten, das ist einfach seine Ignoranz. Wobei ich mich nicht als | |
| Marxistin verstehe, sondern als Sozialistin. | |
| taz: Sie betonen oft, dass Sie sich als Linke verstehen. Sie haben früh | |
| angefangen, sich zu engagieren und mit vierzehn dafür die Schule | |
| unterbrochen. Was hat Sie politisiert? | |
| Neiman: Das waren bewegte Zeiten, die Zeit des Vietnamkriegs. Auch Leute, | |
| die älter und klüger waren als ich, dachten, die Revolution stünde bevor. | |
| Es war schwierig, nicht politisch zu sein. Meine Mutter hat sich in der | |
| Bürgerrechtsbewegung engagiert. Sie war nicht glücklich, dass ich die | |
| Schule abgebrochen und in einer Kommune gelebt habe. Aber die Idee, dass | |
| man als Bürgerin etwas tut, wenn etwas Böses passiert, habe ich von zu | |
| Hause mitbekommen. Dass Engagement einfach Teil des Lebens ist, das habe | |
| ich auch meinen Kindern weitergegeben. | |
| taz: Und wie kämpft man für das Gute? | |
| Neiman: Auf unterschiedlichen Ebenen natürlich. | |
| taz: Sie als Philosophin erst mal analytisch? | |
| Neiman: Ja, durchs Schreiben. Durchs Reden. Ich gehe auch noch auf Demos, | |
| nicht ständig, manchmal schon. Und in der Sache Israel/Palästina habe ich | |
| eine Organisation mitgegründet, Diaspora Alliance. | |
| taz: Diaspora Alliance befasst sich unter anderem mit der Situation in | |
| Gaza. Vorhin sagten Sie, dass Sie nicht gerne über dieses Thema sprechen. | |
| Gleichzeitig scheint es Ihnen sehr wichtig zu sein, wenn Sie eine | |
| Organisation mitgegründet haben. | |
| Neiman: Als ich vor fünf Jahren angefangen habe, mich da intensiv zu | |
| engagieren, war meine Frage: Was sind meine politischen Sorgen? Bei der | |
| Klimakatastrophe kann ich wenig machen, da kenne ich mich nicht genug aus. | |
| Und was den zunehmenden Faschismus in den USA betrifft, kann ich hier in | |
| Deutschland auch nichts bewegen. | |
| taz: Der Faschismusbegriff ist Ihnen in dem Zusammenhang sehr wichtig. | |
| Neiman: Es haben sich inzwischen fast alle Medien entschieden, das Wort | |
| „autoritär“ zu benutzen. Aber sogar Trumps höchster Militärberater sagte | |
| vor einem Jahr: „He’s fascist to the core.“ – „Er ist ein Faschist du… | |
| und durch.“ Und das dritte Thema, das mich umtreibt, ist eben | |
| Israel/Palästina, da kenne ich mich aus. Ich habe fünf Jahre in Israel | |
| gelebt, bin gut vernetzt. Von den drei Themen, die mich wirklich aufregen, | |
| könnte ich bei diesem am meisten bewegen, dachte ich. Aber es ist traurig. | |
| Ich denke nicht, dass ich und meine Kollegen viel erreicht haben. Wenn sich | |
| die Diskussion verändert hat, dann nur deshalb, weil das, was in Gaza | |
| passiert, so katastrophal ist. | |
| taz: Können Sie Donald Trump seit dem Waffenstillstand im Nahen Osten auch | |
| etwas Gutes abgewinnen? | |
| Neiman: Trump kann ich nichts abgewinnen, ihn interessieren weder Israelis | |
| noch Palästinenser, sondern nur die Frage, wie er Geschäfte im Nahen Osten | |
| machen kann. Das zeigt auch sein sogenannter Friedensplan, der ohne jede | |
| palästinensische Mitwirkung formuliert wurde. Vieles bleibt ungeklärt, | |
| geschossen wird immer noch, und Gaza bleibt noch ein Albtraum. Ich bin | |
| froh, dass es viel weniger Gewalt gibt, aber feiern sollte man erst, wenn | |
| wir mehr wissen. | |
| 11 Nov 2025 | |
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