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# taz.de -- Friedrich Merz feiert Geburtstag: Machen Sie einen Neustart!
> Der Bundeskanzler wird am 11. November 70 Jahre. Unser Kolumnist
> gratuliert, aber hätte da auch ein paar Wünsche.
Bild: Friedrich Merz nach seiner Ernennung zum Bundeskanzler im Schloß Bellvue…
Lieber Friedrich Merz, am 11. November werden Sie 70. Es ist der erste
Geburtstag, den Sie als Bundeskanzler feiern können. Herzlichen
Glückwunsch!
Der Schreibtisch, an dem ich Ihnen diese Zeilen schreibe, befindet sich im
vierten Stock eines Neubaus in Kreuzberg. Im Herzen Deutschlands also, auch
wenn Sie diesen Fakt vor einiger Zeit bestritten haben. „Nicht Kreuzberg
ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland“, haben Sie vor zwei Jahren
gesagt. Nicht im Ernst, das haben wir alle verstanden. Aber Sie wollten mit
dieser plakativen Aussage doch einen Punkt machen, den ich problematisch
finde. Denn der Gillamoos ist ganz sicher nicht so repräsentativ für dieses
Land wie Kreuzberg. Kreuzberg ist in diesem Sinn deutscher als der
Gillamoos. Im Guten wie im Schlechten.
Die Fehleinschätzung, was zu Deutschland gehört und was nicht, erscheint
mir symptomatisch. Sie und Ihre Union scheinen nicht mehr zu wissen, wer
Sie sind, wofür Sie stehen und was Sie wollen.
CDU und CSU sind ökumenische Parteien, die schon lange auch Nichtchristen
willkommen heißen. Früher war das anders. Die Christdemokratie hat sich
historisch als Partei des politischen Katholizismus entwickelt. Wie die
Päpste hielt auch der politische Katholizismus nicht immer schon die
Demokratie für die beste Staatsform. Viele seiner Protagonisten fanden den
autoritären Ständestaat auf Basis christlicher Werte die bessere Idee.
Für die Union stand seit ihrer Gründung aber außer Frage, dass die
Demokratie die beste Staatsform ist. Die Union hielt die Balance zwischen
den Polen konservativ und liberal. Im Großen und Ganzen ist sie in den
vergangenen Jahrzehnten der Maxime gefolgt, die Franz Josef Strauß im Jahr
1968 formuliert hat: „Wir sollen ‚konservativ‘ so denken, formulieren und
anwenden, dass konservativ heißt, an der Spitze des Fortschritts zu
marschieren, dass konservativ heißt, das, was am überkommenen Erbe
erhaltenswert und gut ist, zu erhalten, dass konservativ aber auch heißt,
ständig neue Werte zu schaffen, die der Konservierung wert sind.“ Das ist
nicht das schlechteste Programm für eine Volkspartei.
Auch wenn es immer noch Leute in Ihren Reihen gibt, die Konservatismus mit
Reaktion verwechseln: Zurück können Sie nicht. Denn Sie haben ernsthafte
Konkurrenz von rechts außen bekommen. Das scheint Sie mehr zu verunsichern,
als Sie zugeben. Obwohl Sie inzwischen wissen müssten, dass die Leute
lieber das Original wählen, versuchen Sie immer wieder, die AfD zu
kopieren. Obwohl fast allen klar ist, dass wir Migration brauchen, damit
der Laden läuft, beschreibt die Union heute Migration als solche ständig
als Problem, statt die spezifischen Probleme zu benennen, die Migration mit
sich bringt.
Freunde von mir, die nicht so aussehen, wie der verrohte Teil der Mitte
sich Deutsche vorstellt, berichten von einer zunehmenden Feindseligkeit,
die ihnen in Berlin entgegenschlägt. Sie werden beleidigt. Man sagt ihnen
in der Tram frech ins Gesicht, sie sollen sofort das Land verlassen. Sie
werden sogar physisch angegriffen. Das gab es früher auch, sagen sie, aber
nicht in diesem Maß. Diese Entwicklung ist das Ergebnis einer politischen
Rhetorik, die Migration vor allem mit Gefahr und Sozialbetrug in Verbindung
bringt.
## Hier kommt das Stadtbild ins Spiel
Sie ahnen es schon, hier kommt [1][das Stadtbild] ins Spiel. Auch dieses
Wort war von Ihnen schlecht gewählt. Weil sehr viele Deutsche, deren Eltern
und Großeltern in dieses Land kamen und an der Mehrung seines Wohlstands
mitgearbeitet haben, das ungute Gefühl beschlichen hat, dass der
Bundeskanzler sie nicht mehr im Stadtbild sehen möchte. Weil andere
Deutsche sich durch Ihre Wortwahl darin bestärkt sehen, meine Freunde in
der Tram zu beleidigen und auf der Straße anzugreifen.
Ich weiß, auch das haben Sie nicht so gemeint. Aber warum haben Sie sich
dann eine Woche Zeit gelassen, um zu erklären, was Sie damit gemeint haben?
Oder es nicht gleich gesagt? Präzise, unmissverständlich, und ohne die
haltlose und – es tut mir leid, das kann ich Ihnen auch an Ihrem Geburtstag
nicht ersparen – rassistische Rede vom „Stadtbild“?
Sie erscheinen mit solchen Sprüchen nicht als durchsetzungskräftig. Sie
vermitteln damit vielmehr das Bild eines irrlichternden Manns aus der
sauerländischen Provinz, der noch nicht in seine Rolle als Kanzler der
Bundesrepublik Deutschland gefunden hat. Sagen Sie stattdessen konkret und
präzise, was Sie denken, was Sie als Problem betrachten, was Sie dagegen
tun wollen. Wir brauchen einen souveränen Kanzler. [2][Wir brauchen eine
stabile, demokratische Union, die weiß, wer sie ist.] Die sich nicht von
einer anderen Partei vor sich her treiben lässt, die von Rechtsextremisten
durchsetzt und Putins Handlanger in Deutschland ist.
Die Zukunft dieses Landes und die Zukunft Ihrer Partei hängen eng zusammen.
Populismus aus der Union stärkt die Populisten, und von denen haben wir
schon mehr als genug. Das heißt, auf Sie kommt es jetzt an. Genießen Sie
also Ihre Torte und machen Sie einen Neustart. Die Leute werden es Ihnen
danken. Sie warten darauf, dass die Union zu sich selbst zurückfindet.
Alles Gute aus Kreuzberg, Deutschland. Ihr Ulrich Gutmair
11 Nov 2025
## LINKS
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[2] /CDU-Gruppe-fordert-Kurskorrektur-von-Parteichef-Merz/!6125283
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
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