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# taz.de -- Streit um Wehrdienst: Stolpern vorm Strammstehen
> Ein unklares Losverfahren und viele offene Fragen: Bei der Reform des
> Wehrdiensts zerstreitet sich Schwarz-Rot. Und eine Gruppe bleibt
> ungehört.
Bild: Nachwuchs für die Bundeswehr: Da sind noch viele Hürden zu überwinden
Quentin Gärtner will dem Verteidigungsminister endlich seine Meinung sagen.
Am Freitag war der 18-Jährige zu Besuch bei Boris Pistorius im
Bendlerblock, um ihm vorzuhalten, dass es mit der Gesetzgebung rund um den
neuen Wehrdienst nicht so weitergehe. Er wolle dem Minister sagen, dass
Verteidigungspolitik nicht dort beginne, „wo man 18-Jährigen ein Gewehr in
die Hand drückt und sie durch den Schlamm robben lässt“. Das sagte Gärtner,
Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, vor dem Treffen mit Pistorius
der taz. Ihn ärgert, dass junge Menschen bei den Überlegungen zum
Wehrdienst nicht schon viel früher eingebunden wurden.
Doch angesichts des Chaos in der Koalition ist fraglich, wie viel Gehör
seine Stimme tatsächlich findet: SPD-Mann Pistorius hatte sich mit Teilen
seiner eigenen Fraktion angelegt, die Union traut der SPD bei der
Gesetzesreform nicht mehr richtig über den Weg, und eine Pressekonferenz
wurde kurzfristig wieder abgesagt, in der eigentlich Ergebnisse präsentiert
werden sollten. Selbst Bundespräsident Steinmeier (SPD) bezeichnete die
bisherige Bilanz der Regierung beim Wehrdienst als „kommunikative
Fehlleistung“.
Am Dienstagabend sendete das ZDF live, um über eine Einigung zwischen den
Fraktionen zu berichten, die ein Losverfahren zur Musterung beinhalten
sollte. Zu sehen waren dann die versammelte Hauptstadtpresse und ein
Sitzungssaal ohne Gastgeber. Der Verteidigungsminister war mit der zuvor
verkündeten Einigung zwischen SPD und Union nicht einverstanden.
## Kein Automatismus zur Wehrpflicht
Bei dem Streit geht es im Kern um eine gesellschaftlich höchst umstrittene
Frage: Unter welchen Umständen können junge Menschen für einen Dienst bei
der Bundeswehr verpflichtet werden? Im Gesetzentwurf, den die
Bundesregierung im August verabschiedet hatte, heißt es: Sollten sich trotz
attraktiverer Konditionen nicht genügend Freiwillige für die Bundeswehr
finden, kann die Regierung eine Wehrpflicht einführen. Der Bundestag soll
so einem Vorhaben dann zwar noch zustimmen oder es ablehnen dürfen – nicht
jedoch aktiv ein klassisches Gesetzesverfahren gestalten, wie genau die
Wehrpflicht dann aussehen soll.
[1][Schnell riefen diese Überlegungen der Regierung Jurist*innen auf den
Plan,] die argumentierten, dass eine solche Vorgehensweise
verfassungswidrig sein könnte, weil der Bundestag bei einem
Grundrechtseingriff wie der Einführung der Wehrpflicht mehr zu sagen haben
müsste. Die Union forderte zudem einen Fahrplan für den Fall, dass die
Bundeswehr nicht wie geplant genügend Freiwillige findet. Doch da steht die
SPD mit dem Rücken zur Wand.
[2][Denn die Sozialdemokraten hatten Ende Juni auf ihrem Parteitag
beschlossen,] dass es keinen Automatismus hin zu einer Wehrpflicht geben
dürfe, wenn es mit der Freiwilligkeit bei der Bundeswehr nicht klappt.
Diesen Kompromiss hatte Verteidigungsminister Pistorius in größter Mühe den
Jusos abgerungen, die eigentlich komplett gegen eine Wehrpflicht waren. Für
die SPD kommt es deshalb ungelegen, dass sie sich auf Druck der Union zu
einer klareren Regelung der Wehrpflicht bekennen soll.
Doch aufseiten der Union hören die Forderungen nicht auf: „Wir müssen klar,
transparent und kontrollierbar einen Aufwuchspfad für die Bundeswehr im
Gesetz verankern“, sagte der stellvertretende Vorsitzende der
Unionsfraktion, Norbert Röttgen, am Donnerstag im Bundestagsplenum bei der
Einbringung des Gesetzes. Es gäbe einen klar definierten Bedarf von 260.000
aktiven Soldatinnen und Soldaten und 200.000 Reservistinnen und Reservisten
bis Anfang der 2030er Jahre. Für den Fall, dass diese Zahlen nicht über
Freiwilligkeit zu erreichen seien, müsse es den Plan für ein Pflichtmodell
geben. „Da stellt sich die Frage der Wehrgerechtigkeit, und im
Gesetzentwurf steht dazu nichts.“
## Pistorius zeigt sich kompromissbereit
Röttgen hatte in den vergangenen Wochen in einer Arbeitsgruppe mit seinem
Fraktionskollegen Thomas Erndl (CSU) und den beiden SPD-Abgeordneten
Siemtje Möller und Falko Droßmann den Entwurf ausgearbeitet, der diese
Woche unter dem Schlagwort der Wehrdienst-Lotterie für so viel Aufregung
sorgte. Sie wollten ihre Ergebnisse eigentlich auf der am Dienstag
geplatzten Pressekonferenz verkünden.
Mit dem ursprünglichen Gesetzentwurf von Pistorius haben die Pläne der
Arbeitsgruppe fast nichts mehr zu tun. Gemeinsam ist beiden Ideen nur, dass
junge Männer ab dem 1. Januar einen Fragebogen zu ihrer Motivation für
einen Dienst bei der Bundeswehr ausfüllen müssen. Zusätzlich schlägt die
Arbeitsgruppe vor, mittels eines Losverfahrens zu bestimmen, wer zu einer
verpflichtenden Musterung erscheinen soll. Falls sich so nicht genügend
Freiwillige finden lassen, soll dann nach einem Gesetzesbeschluss des
Bundestages eine Wehrpflicht greifen, für die entsprechend der Bedarf der
Bundeswehr auch wieder unter den jungen Männern gelost werden soll.
In der Bundestagsdebatte riet Linken-Abgeordnete Desiree Becker allen
jungen Menschen, sich nun über eine Kriegsdienstverweigerung zu
informieren. „Wir brauchen keine Kriegs- sondern eine Friedenstüchtigkeit“,
sagte sie.
Scharfe Kritik äußerte auch der Verteidigungsminister, der seinen
Gesetzentwurf entkernt sah und darauf pochte, dass, wie von ihm
vorgeschlagen, ab Juli 2027 alle 18-jährigen Männer verpflichtend gemustert
werden – so möchte er die Wehrerfassung in der Breite gewährleisten. In der
Fraktionssitzung der SPD soll es deshalb zu einer heftigen Diskussion
zwischen Pistorius und Siemtje Möller gekommen sein, bei der es auch darum
gegangen sein soll, wie ein Losverfahren rechtlich überhaupt umgesetzt
werden könne.
## Etliche offene Fragen
Die SPD versuchte diese Auseinandersetzung zu befrieden, indem gleich beide
Politiker*innen in der Bundestagsdebatte eine Rede hielten. Zudem
verfassten Pistorius und Möller am Freitag noch einen Brief an die
SPD-Fraktion, in dem sie ihre wiedererlangte Einigkeit demonstrieren
wollten. Ist also alles wieder gut?
Pistorius zeigte sich im Bundestag kompromissbereit. „Ich finde das okay,
dass es andere Vorschläge gibt, dafür ist das parlamentarische Verfahren
da“, sagte er in seiner Rede. Möller lobte Pistorus dafür, einen
„exzellenten Gesetzentwurf“ auf den Tisch gelegt zu haben. Gleichzeitig
betonte sie noch mal, dass die Arbeitsgruppe mit der Union ein „gutes
Modell“ erarbeitet habe. Auch Röttgen von der Union kündigte in seiner Rede
an, nicht von dem Beschluss der Arbeitsgruppe abzurücken.
Für die zweite und dritte Lesung im Bundestag müssen
Verteidigungsministerium und die Koalition einen Kompromiss finden. Ein
möglicher Weg könnte sein, dass Pistorius seine verpflichtende Musterung
für alle 18-jährigen Männer bekommt. Für den Fall, dass sich über die
Freiwilligkeit nicht genügend Soldat*innen finden, könnte dann eine
Wehrpflicht über ein Losverfahren unter den als tauglich gemusterten
Männern eingeführt werden. Hier müsste das Parlament aber noch dutzende
Fragen klären: Kann, wer sich mustern lässt, danach seine
Kriegsdienstverweigerung einreichen? Gibt es für diese Männer dann im Falle
einer Wehrpflicht wieder einen Ersatzdienst?
Gilt im Zivildienst dann auch die von Pistorius für die jungen
Soldat*innen angedachte Bezahlung von 2.300 Euro netto, die mehr als das
Gehalt vieler Fachkräfte in der Pflege und im Erziehungsbereich wären?
All das ist noch offen. Quentin Gärtner von der Bundesschülerkonferenz kann
sich zumindest darüber freuen, im weiteren Gesetzesvorhaben noch ein
Wörtchen mitreden zu können. Die Grünen haben ihn zu der Expertenanhörung
am 10. November in den Bundestag eingeladen.
17 Oct 2025
## LINKS
[1] /Gutachten-zur-Wehrpflicht/!6111440
[2] /SPD-Parteitag-in-Berlin/!6096957
## AUTOREN
Cem-Odos Gueler
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