| # taz.de -- Überlebender des 7. Oktober im Gespräch: „Wir müssen diesen Al… | |
| > Amir Tibon überlebte den Angriff der Hamas auf seinen Kibbuz nur knapp. | |
| > Welche Fehler Israel damals machte und warum er hofft, dass der Krieg | |
| > endet. | |
| Bild: Aufnahme eines von der Hamas durchbrochenen Zauns nahe Nahal Oz. Im Hinte… | |
| taz: Herr Tibon, 2014 zogen sie mit ihrer jetzigen Frau nach Nahal Oz, | |
| einem israelischen Kibbuz nahe dem Gazastreifen. In [1][Ihrem Buch „Die | |
| Tore von Gaza“] schreiben Sie, dass sie am Morgen des 7. Oktobers 2023 | |
| Mörserfeuer hörten und sofort zu ihren Kindern eilten, die im | |
| Sicherheitsraum schliefen – eine „hektische, aber vertraute Routine“, wie | |
| Sie es nennen. Wann spürten Sie, dass dieser Tag anders war als die | |
| Angriffe, die man in den Kibbuzim nahe Gaza gewohnt ist? | |
| Amir Tibon: Als wir Maschinengewehrfeuer hörten, wussten wir, dass etwas | |
| anders ist. In der Geschichte von Nahal Oz – seit mehr als 70 Jahren an der | |
| Grenze – gab es immer wieder Mörserangriffe, Hinterhalte auf den Feldern | |
| und Ähnliches. Doch bewaffnete Terroristen, die in die Gemeinde eindringen | |
| – das war für uns unvorstellbar. | |
| taz: Und für solche Angriffe waren die Kibbuzim nicht gerüstet? | |
| Tibon: Diese Routine war für Raketen- und Mörserangriffe gedacht. Die | |
| Sicherheitsräume sind aus dickem Beton und sollen Einschlägen aus der Luft | |
| standhalten. Aber an diesem Tag wurden sie für viele Menschen in den | |
| Kibbuzim zur Falle. Die Räume sind nicht gut verschlossen, das sollen sie | |
| auch gar nicht sein. Also fanden sich viele Leute eingeschlossen darin | |
| wieder, als sie bemerkten, dass sie vor dem, was gerade passiert, nicht | |
| geschützt sein werden. | |
| taz: Sie verbrachten Stunden mit ihrer Familie im Dunkeln, während draußen | |
| die Terroristen von Tür zu Tür gingen und versuchten, die Sicherheitsräume | |
| aufzubrechen. Dann, so schreiben Sie, kam ihr Vater, ein pensionierter | |
| General, zur Hilfe. Er fuhr von Tel Aviv nach Nahal Oz, das sind etwa 80 | |
| Minuten Autofahrt. | |
| Tibon: Er fuhr allein, traf auf dem Weg einen anderen Soldaten, der ihn | |
| dann begleitete. Am Eingang des Kibbuz traf er auf weitere Soldaten. Dann | |
| kamen sie, um uns zu befreien. | |
| taz: Wieso musste erst ein Pensionär kommen, um Ihnen zu helfen? Sind die | |
| Kibbuzim nicht durch das israelische Militär ausreichend geschützt gewesen? | |
| Tibon: Das berührt drei verschiedene Probleme. Erstens: Die israelischen | |
| Streitkräfte hatten einfach nicht genug Soldaten für alle Missionen, die | |
| sie sich vorgenommen hatten. Das bleibt bis heute ein Problem, weil wir in | |
| diesem Krieg Tausende Soldaten verloren haben. Zweitens: Ein großer Teil | |
| der militärischen Kräften war im Westjordanland stationiert. Im Buch | |
| zitiere ich einen hochrangigen Hamas-Funktionär, der in einem | |
| Fernsehinterview vom August 2023 sagt, dass Israel 30 Bataillone in der | |
| West Bank stationiert hat. Sie wussten, dass wir zu wenig Soldaten nahe | |
| Gaza hatten. Drittens: Der 7. Oktober 2023 war in Israel ein Feiertag | |
| (Simchat Torah, Amn. d. I.), und die Geheimdienste versagten, weil sie | |
| nicht erkannten, dass an diesem Tag etwas passieren könnte. Alle drei | |
| Punkte zusammen erzeugten dieses Desaster. | |
| taz: In Ron Leshems Buch „Feuer“ über den Angriff vom 7. Oktober lese ich, | |
| dass es durchaus Indizien für einen unmittelbar bevorstehenden Großangriff | |
| aus Gaza gab. So sollen wenige Tage zuvor Übungen von Hamas-Kämpfern nahe | |
| dem Grenzzaun stattgefunden haben. | |
| Tibon: Lassen Sie uns einen Blick auf Russland und die Ukraine werfen: Wie | |
| oft hat es vor dem Februar 2022, als Putin die Ukraine überfiel, Zeichen | |
| dafür gegeben, dass er einen Krieg beginnen könnte? Es gab unterschiedliche | |
| Prognosen darüber, wann er einen Krieg beginnen könnte oder wie lange die | |
| russischen Streitkräfte bis nach Kyjiw brauchen. Geheimdienstarbeit ist | |
| keine exakte Wissenschaft. Die Ergebnisse können unterschiedlich bewertet | |
| werden. Auch in Israel gab es über zwei Jahre vor dem 7. Oktober hinweg | |
| immer wieder Befürchtungen, Hamas plane einen grenzübergreifenden Angriff – | |
| aber das nahm nie konkrete Form an. Demzufolge glaubten einige der Leute, | |
| die Geheimdienstinformationen analysieren, dass der 7. Oktober wieder so | |
| ein Fehlalarm sein wird. All das muss untersucht werden. | |
| taz: Was fordern Sie? | |
| Tibon: Wir brauchen eine Untersuchungskommission nach israelischem Recht, | |
| die all diese Fälle aufnimmt und klärt, wo Fehler gemacht wurden und warum. | |
| Ein Problem dabei ist, dass alles schon zwei Jahre her ist, und Netanjahu | |
| sich weigert, eine solche Kommission aufzusetzen. | |
| taz: Warum? | |
| Tibon: Weil er weiß, dass er für schuldig befunden werden wird. Und in der | |
| Zwischenzeit verlieren wir Dokumente und Zeugenberichte. Und es gibt | |
| Sabotage am Originalmaterial. Das ist sehr übel. | |
| taz: Welche Sabotage? | |
| Tibon: Man kann Dokumente vernichten, man kann Zeugenaussagen koordinieren. | |
| Wenn zwei Leute gemeinsam Schuld tragen, können sie beschließen, | |
| füreinander Sorge zu tragen. Wenn man nicht schnell untersucht, bleibt man | |
| ohne glaubwürdige Antworten – und das passiert gerade. | |
| taz: Dieser vernichtende Krieg in Gaza dauert nun schon zwei Jahre an, mit | |
| geschätzten Zehntausenden – manche sprechen von Hunderttausenden – | |
| Todesopfern auf der palästinensischen Seite und etwa 2.000 Todesopfern auf | |
| der israelischen Seite. Noch immer sind 48 Geiseln im Gazastreifen, eine | |
| Person sogar aus Nahal Oz … | |
| Tibon: Ja, mein Freund Omri. | |
| taz: … und noch immer behauptet der israelische Premierminister Benjamin | |
| Netanjahu, die primären Kriegsziele seien die Entmachtung der Hamas und die | |
| Befreiung der Geiseln. Wie bewerten Sie seinen Erfolg darin? | |
| Tibon: Dass der Krieg seit zwei Jahren andauert, ist ein Versagen für sich. | |
| Die ursprüngliche nationale Sicherheitsstrategie Israels von David | |
| Ben-Gurion, dem Staatsgründer, war: kurze und entscheidende Kriege. Er | |
| glaubte daran, weil er verstand, dass die Welt Israel nicht bei zwei Jahre | |
| langen Kriegen auf dem Niveau unterstützen wird, das Israel braucht. | |
| Netanjahu zieht den Krieg aus politischen Gründen in die Länge. Zurzeit | |
| sehen wir aber nach vorne und nicht zurück: Es gibt einen guten Plan von | |
| US-Präsident Trump. Es könnte noch einige Änderungen geben, Hamas wird | |
| Teile davon verhandeln wollen. Aber insgesamt ist es ein guter Plan. Er | |
| sieht vor, den Krieg zu beenden, die Geiseln zurückzubringen, Nahrung sowie | |
| medizinische Versorgung zu den Menschen in Gaza zu bringen und den | |
| Wiederaufbau zu beginnen. Ich hoffe, dass alle die Gunst der Stunde nutzen | |
| und mitziehen. Wir müssen diesen Albtraum beenden, es kann so nicht | |
| weitergehen. | |
| taz: Wie wird der [2][Trump-Plan] von Israelis bewertet, falls man das so | |
| verallgemeinern kann? | |
| Tibon: Vor wenigen Tagen gab es eine Umfrage: 72 Prozent unterstützen ihn, | |
| 8 Prozent lehnen ihn ab. Doch diese 8 Prozent sind stark in der Regierung | |
| vertreten. | |
| taz: Welche Leute sind das? | |
| Tibon: Smotrich, Ben Gvir … | |
| taz: [3][Die Hardliner.] | |
| Tibon: Sie müssen auch bedenken: Umfragen zeigen gleichbleibend, dass 60 | |
| Prozent der Israelis Netanjahus Rücktritt wollen. | |
| taz: Das erklärte Ziel von Hamas war vielleicht kein endlos langer Krieg, | |
| aber ein Krieg von solchem Ausmaß, dass Israel international isoliert wird. | |
| Tibon: In dieser Hinsicht hatten sie Erfolg. | |
| taz: Inwiefern? | |
| Tibon: Aus Sicht der Bevölkerung von Gaza hat die Hamas ihnen eine totale | |
| Katastrophe beschert. Doch das Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung | |
| kümmert die Hamas nicht. Sie sehen es so, dass sie den bislang größten und | |
| tödlichsten Akt des Terrorismus gegenüber Israel verübt haben. Und sie | |
| haben es geschafft, dass Israel im Laufe dieses Krieges international | |
| isoliert und geächtet wird. Aber sie haben überlebt. Sie haben viele ihrer | |
| Führungspersonen verloren und sind heute wesentlich geschwächt, aber sie | |
| werden überleben, um an einem anderen Tag weiterzukämpfen. Das interessiert | |
| sie am meisten. | |
| taz: Also hat Hamas auf eine Art gewonnen? | |
| Tibon: Es ist lächerlich, wenn sie das nun als Sieg bezeichnen. Sprechen | |
| Sie mit den einfachen Leuten in Gaza, die so viel in den vergangenen zwei | |
| Jahren verloren haben – das ist kein Sieg, das ist ein Desaster. | |
| taz: Infolge der Zerstörung Gazas haben mehrere weitere Staaten – darunter | |
| Frankreich, Großbritannien, Kanada und Australien – sich bereit erklärt, | |
| einen palästinensischen Staat anzuerkennen. Hat der Angriff vom 7. Oktober | |
| Hamas diesem Ziel näher gebracht, wenn es überhaupt ein Ziel war? | |
| Tibon: Nein, und Hamas will auch keinen palästinensischen Staat. | |
| taz: Nein? | |
| Tibon: Hamas will eine Ein-Staaten-Realität. Das Problem der | |
| palästinensischen Eigenstaatlichkeit ist kompliziert. Die internationale | |
| Anerkennung eines palästinensischen Staats ist sehr symbolisch. Sie | |
| bedeutet nicht viel für Palästinenser, die in Ramallah oder Hebron (zwei | |
| größere Städte unter Verwaltung der palästinensischen Autonomiebehörde im | |
| Westjordanland, Anm. d. I.) leben. | |
| taz: Inwiefern hat der Krieg in Gaza der israelischen Gesellschaft | |
| geschadet? Es gibt Berichte über hohe Suizidraten unter IDF-Soldaten … | |
| Tibon: Es gibt einen riesigen Anstieg von posttraumatischen | |
| Belastungsstörungen, von Extremismus und allgemein einem sehr ungesunden | |
| Dialog im Land. Und das Problem der Geiseln bleibt. All das ist nicht gut, | |
| und noch mal: Dieses Land ist nicht dafür gemacht, lange Kriege zu führen. | |
| Das dauert jetzt zwei Jahre und ist schlecht für die israelische | |
| Wirtschaft, die israelische Gesellschaft und lenkt ab von einer Menge | |
| Problemen, die gelöst werden müssen. Deswegen hoffe ich, dass es endet. | |
| taz: Wird Netanjahus Regierung mit dem Krieg enden? | |
| Tibon: Ich hoffe es, denn er ist verantwortlich für das, was passiert ist, | |
| und er ist nicht der Richtige, um die Genesung anzuführen. | |
| taz: Wenn ich heute nach Nahal Oz fahren würde, was würde ich da sehen? | |
| Tibon: Sie würden sehen, dass 35 Prozent der Bevölkerung bereits | |
| zurückgekehrt sind und rund 70 Prozent der Gebäude wieder aufgebaut wurden. | |
| taz: Werden Sie nach Nahal Oz zurückkehren? | |
| Tibon: Um dort zu leben? Aktuell nicht. Wir warten, bis es vorbei ist. | |
| 6 Oct 2025 | |
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| Konstantin Nowotny | |
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| 7. Oktober 2023 | |
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