| # taz.de -- Sozialökonom über Grundeinkommen: Vollautomatischer Luxusliberali… | |
| > Hamburg stimmt bald über ein Grundeinkommen ab. Unser Gastautor | |
| > bezweifelt, dass das die gegenwärtige Gesellschaft wirklich gerechter | |
| > machen würde. | |
| Bild: Wirbt für Zustimmung: Plakat fürs Volksbegehren zum Grundeinkommen in H… | |
| Stellen Sie sich vor, eine Initiative setzt sich dafür ein, dass eine von | |
| Ihnen gewünschte politische Maßnahme, etwa das [1][Deutschlandticket], | |
| unter zweitausend ausgewählten Leuten „modelliert“, also getestet, wird. | |
| Was würden Sie denken? | |
| Sie könnten hoffen, unter den Glücklichen zu sein. Sie könnten sich | |
| wünschen, dass der Test Entscheidungsträger:innen in der Politik | |
| überzeugt, die Maßnahme tatsächlich einzuführen. | |
| Sie könnten sich aber auch fragen, warum die Initiative nicht direkt für | |
| die Einführung der Maßnahme kämpft. | |
| Es lässt sich durchaus fragen, warum die [2][Hamburger Kampagne für die | |
| Testung des bedingungslosen Grundeinkommens] sich für ein Experiment | |
| einsetzt, und nicht für eine reale Umsetzung. Warum entpolitisiert die | |
| Kampagne eine konkrete Forderung und neutralisiert sie als | |
| wissenschaftliches Experiment? | |
| Zugegeben, wissenschaftlicher Rat ist unerlässlich für öffentlichen | |
| Diskurs. Als Experiment wird die reale Umsetzbarkeit des Grundeinkommens | |
| aber von vornherein aus der Debatte gezogen. Das Problem: Genau das ist aus | |
| volkswirtschaftlicher Sicht die Achillesverse der Grundeinkommensidee. | |
| Lassen Sie mich einen „Hot Take“ zum Experiment formulieren: Ja, das | |
| Grundeinkommen, in verschiedenen Varianten, wird den Teilnehmenden ganz gut | |
| gefallen. Dazu gab es auch [3][schon mehrere Versuche], in Deutschland, in | |
| der Schweiz, in Finnland, in den USA. Auch ist aus progressiver Perspektive | |
| die Befreiung von Arbeitszwang und Existenzsicherung wünschenswert, keine | |
| Frage. | |
| Die öffentliche Debatte um das Grundeinkommen sollte sich aber viel mehr um | |
| die Praktikabilität als Arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahme drehen. | |
| Denn das ist, was ein Grundeinkommen ist. Damit muss es sich auch an | |
| sozialstaatlichen Alternativen messen lassen. | |
| Der Punkt ist: Ein Grundeinkommen steht auf der Ausgabenseite einer | |
| volkswirtschaftlichen Rechnung. Auf der Einnahmenseite stehen | |
| Verteilungskämpfe um Löhne, Profite und Steuern zur Finanzierung der | |
| Staatsausgaben. Gewerkschaften sprechen sich jedenfalls regelmäßig gegen | |
| ein Grundeinkommen aus. Ist das Grundeinkommen also eine sozialpolitische | |
| Nebelkerze? | |
| ## Ist das Grundeinkommen besser als der Sozialstaat? | |
| Der Sozialstaat umfasst ja viel mehr als eine regelmäßige Zahlung, er | |
| berücksichtigt aus gutem Grund den individuellen Kontext, und steht, gerade | |
| in heutigen Zeiten, massiv unter Druck. | |
| Ein Grundeinkommen, so die Idee, ist ein [4][Mindesteinkommen, das heißt | |
| eine regelmäßige Zahlung], die allen Bürger:innen zusteht. Ist also das | |
| Arbeitsmarkteinkommen nicht existenzsichernd, zahlt die Gesellschaft drauf. | |
| Dagegen sind zum Beispiel Mindestlöhne politische Maßnahmen, die genau das | |
| verhindern sollen, damit die Gesellschaft, und damit der Sozialstaat, | |
| ausbeuterische Arbeitsverhältnisse nicht belohnt. | |
| Das Grundeinkommen ist darüber hinaus zu unterscheiden von einem | |
| bedingungslosen Grundeinkommen. Das steht grundsätzlich allen zu, | |
| unabhängig von bestehenden Arbeitsmarkt- und Kapitaleinkommen. | |
| Bedingungslosigkeit heißt also in der Theorie, dass der Top-Manager, der | |
| sein Millioneneinkommen in Aktien anlegt und saftige Renditen erntet, noch | |
| eine Zahlung obendrauf kriegt. Für die politische Debatte zum | |
| Grundeinkommen ist also die Höhe und Bedingung der Auszahlung entscheidend, | |
| damit diese als ernstzunehmende Alternative zum bestehenden Sozialstaat | |
| gelten kann. | |
| [5][Der Hamburger Gesetzesentwurf, der auch ein „bedingungsloses | |
| Grundeinkommen“ vorsieht], unterscheidet deshalb zwischen einer | |
| „Sozialdividende“, die allen zusteht, und der sogenannten „negativen | |
| Einkommenssteuer“, fokussiert sich aber auf letztere. | |
| ## Idee eines neoliberalen Vordenkers | |
| Was ist mit der „negativen Einkommenssteuer“ gemeint? Die Idee geht auf den | |
| neoliberalen Vordenker Milton Friedman zurück. Er prägte sie in den | |
| 1960er-Jahren, in einer Zeit als Wachstumsraten in den USA zurückgingen und | |
| der Wohlfahrtstaat der Nachkriegszeit zunehmend finanzpolitisch kritisiert | |
| wurde. Springender Punkt im Vorschlag Friedmans: Der Staat reduziert seine | |
| Leistungen auf eine monatliche Überweisung – dafür sind öffentliche Güter, | |
| von Bildung über Rente und Gesundheit, nicht mehr öffentlich finanziert. | |
| Aus sozialpolitischer Sicht ist das ein eindeutiger Rückschritt. Das | |
| Konzept kommt außerdem aus der Kategorie „Steuererklärung auf dem | |
| Bierdeckel“ und entspringt der Vision eines möglichst unbürokratischen und | |
| verschlankten Staates. | |
| Progressive Politik muss in erster Linie für höhere Einkommenssteuern für | |
| Reiche, für Vermögenssteuern und eine gerechtere Schuldenpolitik kämpfen, | |
| um das Geld dann den Menschen zugutekommen zu lassen, die es am | |
| dringendsten brauchen. Natürlich wäre es auch wünschenswert, die | |
| Sanktionierung im Bürgergeld zu reformieren, und mehr individuelle Freiheit | |
| zu schaffen. All das wären konkrete, politikorientierte Forderungen, die | |
| sich an der Realität und nicht an einem Experiment orientieren. | |
| Vielleicht ist ein bedingungsloses Grundeinkommen in einer Utopie denkbar. | |
| In heutigen Zeiten geht es aber an wirtschafts- und sozialpolitischen | |
| Herausforderungen vorbei. | |
| 30 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Kai Brüggemann | |
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